Dass ich nun vor meinem Garten ins Tram ein- und zweiundzwanzig Minuten später vor meiner Bürotür aussteigen kann, ist bequem. Seitdem Kartoffelacker und Maisfeld in Berns Westen überbaut sind mit niedrigen Blöcken im Einfamilienhauslook, treffe ich auf meinem Arbeitsweg kaum mehr ein bekanntes Gesicht. Ungestört kann ich Zeitung und Bücher lesen. Allerdings sind auch die Alltagsgeschichten, die tragischen, unglaublichen, skurrilen, fantastischen, weg. Wer morgens auf dem Arbeitsweg seine Ruhe will, hat sie nun. Mir fehlen sie, diese Geschichten, direkt aus dem prallen Leben gegriffen. Nein, weg sind sie nicht. Sie müssen weiter erzählt werden, z.B. in der Quartierbeiz.
In kürzerster Zeit erhält man da ungefragt u.a. eine Zusammenfassung der bös- und gutartigen Gewächse, welche alle auf -om enden. Keine Buchweisheiten, alles erlebt und erlitten in der nächsten Nachbarschaft. Da wird ein langjähriges Om aus dem Kopf einer Frau operiert, ohne ihr im wahrsten Sinne des Wortes ein Härchen zu krümmen. Das Wunderwerk vollbringt ein Schönheitschirurg in einer knappen Stunde. Die Patientin fährt anschliessend mit dem Zug nach Hause.
Oder man entfernt einen Magen, eine Schilddrüse, eine Gebärmutter oder „Du-weisst-schon-was“ bei Hans oder Werner. Zum Glück überleben die meisten. Klar ist es heikel, danach all die Medikamente einzustellen.
Einige der Genesenen sind nach der Krankheit dickköpfig geworden, wollen nicht mehr aufs gut Gemeinte hören, dabei könnten sie sich doch so gäbig günschtig erholen in der kleinen Pension aussersaison in Venedig. Aber nein, da nützt alles Zureden nichts.
Nur die alte Katze von Frau Kessler hat das Zeitliche gesegnet, ist ihrem Herrchen in den Himmel voller Tennisbälle gefolgt. Frau Kessler ist froh und hat das gehasste Tier kremieren lassen. Die reiche Tochter ist extra aus Gstaad angereist und hat das Ürnelchen in Frau Kesslers Garten beigesetzt.
Letzten Samstag wurde Frau Roth auf ihrem nächtlichen Heimweg überfallen und beraubt. Wie oft hatte ihr Ex schon gesagt, sie solle die Beiz früher schliessen und die paar angeleimten Süffel vor Mitternacht spedieren. Aber nein, Frau Roth hat halt ihren eigenen Kopf und die Beiz gehört ihr. Aber das muss sie nun büssen, das Samstagsgeld ist weg, dafür viele blaue Flecke auf Gesicht und Beinen und immer noch keine sachdienlichen Hinweise. Selber schuld.
Wollt ihr wissen, wie ein dubelisicherer Überfall geht? Tatort: Neue Fussgängerunterführung beim Bahnübergang. Mann/Frau schaue auf den Fahrplan, warte im Auto mit laufendem Motor vor der geschlossenen Barriere, hechte kurz bevor der Zug die Strasse überquert, die Treppe hinab in die Unterführung, entreisse einem überraschten Passanten, einer Passantin die Tasche (mit Migroseinkauf oder Geld von der nahen Post/Bank). Der Lärm des Zugs erstickt eventuelle Protestschreie. Dann zurück ins Auto und unter der sich öffnenden Barriere durch nichts wie weg.