Von Plichten

In diesen heilgen Hallen

Heute ist der 6. Todestag meiner Mutter. Sie hat uns Kinder mit ihrer Fürsorge oft fast zur Verzweiflung gebracht. Erst in ihren letzten Lebensjahren fing ich an zu begreifen, dass sie, aufgewachsen als Verdingkind, sich vor nichts mehr fürchtete, als vor Trennungen. Daneben war sie eine tapfere Frau, die sich nicht scheute, sich mit den „Oberen“ anzulegen. Ihre Fantasie war grenzenlos. Mit beinahe nichts verschönte sie unser meist sehr bescheidenes Heim. So hing lange Zeit eine Blumenzeichnung, rote Ölkreide auf gebrauchtem Packpapier, in unserer finsteren Küche und ihre Geranien, so gegen 200 an der Zahl, schmückten Sommer für Sommer Fensterbänke und Laubenlehnen. Unvergessen sind Mutters Bemühungen, uns Mädchen auch ab und zu etwas Modisches zu kaufen. Als ich mit der Schule in die Oper gehen durfte, lieh sie mir ihre Sonntagsstrümpfe, flickte die Naht an meinen besten Schuhen mit feinem Bratenzwirn, schwärzte diesen mit Schuhwichse ein und ich trug Sorge, dass ich einigermassen gestrählt und poliert in der Stadt ankam. Die Zauberflöte wurde aufgeführt. Leider mussten wir bei „Wir wandelten durch Feuersgluten“ das Theater verlassen, da das letzte Postauto auf den Langen Berg den Schlusschor der Priester nicht abwarten mochte. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis ich die Zauberflöte in eigenen Strümpfen, ungeflickten Schuhen und in voller Länge geniessen konnte.

Heute fand ich in Mutters Notizen den oben abgebildeten Zettel. Sie war nie in der Oper, besass nie einen Fernseher und hörte kaum Radio.