Mo 27 Okt 2014
Wir Kinder waren schon gross, als meine Mutter das „Chuchistübli“ mit Schmierseifenwasser bearbeitete, den Hühnerläusen damit den Garaus machte, das halbblinde Fenster polierte, zwei Betten bezog und die finstere Stube so freundlich wie möglich heraus putzte. Zwei Pflegekinder sollten bald in unsere Familie kommen. Zum Glück gings dem Frühling zu und ein warmer Krug unter der Decke reichte, dass die Kleinen nicht frieren mussten. Im April 1963 brachte die Fürsorgerin Fräulein Sutter dann Nelli und Heinz, zwei Geschwister von sechsen, zu uns auf den Bauernhof, wo sich Füchse und Hasen nie gute Nacht sagten.
Ich erinnere mich, wie zerbrechlich die Kinder waren, Nelli ein zartes Vögelchen und Heinz ein dünner Bub mit unsicherem Gang. Meine Mutter merkte bald, dass der Junge eine Brille brauchte, um auf die Beine zu kommen. Diesen Kindern konnten wir nur Fürsorge und Liebe bieten, nicht den geringsten Luxus. Gerne hätten meine Eltern auch Rita, die Schwester der beiden, aufgenommen. Die Behörden aus dem anderen Kanton erlaubten es leider nicht. Das Mädchen brauche eine heilpädagogische Sonderschule, und es genüge nicht, wenn unsere Dorflehrerin verspreche, es nach Kräften zu unterstützen. Rita kam dann in ein Heim (ohne jegliche heilende Pädagogik und Zuwendung), durfte aber die Schulferien bei uns verbringen.
(Rita (r, 9 J.) mit ihren Geschwistern Nelli (l, 7 J.) und Heinz (10 J.) in der Bamershalten, ca. 1963)
Gestern hat Rita ihre Geschwister auf den Langen Berg eingeladen. Bei einem feinen Essen, einem Glas Wein und dem Spitzendessert feierten wir ihren sechzigsten Geburtstag. Rita erzählte u.a., wie sie sich für ihre Tochter erfolgreich eingesetzt hatte, als diese von einer Vorgesetzten gemobbt wurde. „Weisst du, das habe ich von Mutti gelernt, mich zu wehren und gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen.“ Stimmt, das war die Stärke unserer Mutter. Diese Pflegegeschwister, denen wir wie gesagt, nur Fürsorge und Liebe bieten konnten, waren für die Eltern wie die „Igete“ (Eigenen). Bei jedem Schicksalsschlag, der ihre Schützlinge ereilte, litten sie mit. Bis kurz vor seinem Tod erinnerte sich mein Vater gerne daran, wie er mit Heinz aufs Feld zur Arbeit ging. Das sei seine schönste Zeit als Bauer gewesen.
Meine Pflegegeschwister gehören zu den treusten und liebsten Menschen, die ich kenne!
Herzlichen Dank an
Rita, Hanspi, Danica und Nelli fürs Essen
Hanni und Monika für die lokalen Spezialitäten (Tischdekoration, Apéro, Wein, Käse, Wurst, Zopf, Creme, Fruchtsalat, Bretzeli usw.)
Rolf und Cornelia (Raum, weltmeisterliche Dessert-Kreationen, Profiservice)
Florian (zahlreiche Botengänge zwischen Dessertvitrine und -manufaktur)
Heinz und Nelli im Freibad, Sommer 1963
Im saftigen Bamershaltengras, Frühling 1963
Fröhliche Ferienkinderschar auf der Bamershalten ca. 1964
von l nach r: Heinz, Nelli, Liselotte, Rita, Ueli
November 2nd, 2014 at 19:49
Eigentlich ist ja alles viel besser herausgekommen, als man hätte hoffen dürfen. Ich weiss nicht, warum mich solche Geschichten aus unserer Familie trotzdem immer traurig machen.
November 3rd, 2014 at 10:40
Liebe 1st, danke für deine Familiengeschichte(n), ich bin immer wieder beeindruckt. Gestern durfte ich sozusagen ein klein wenig davon miterleben, denn wir waren in Rüeggisberg, um die Aussicht zu geniessen und dem Grossen die Klosterruine zu zeigen (er mag alte Gemäuer) und machten Halt auf der schönsten Terrasse des Ortes. Plötzlich kam mir das alles bekannt vor – dank blogk 🙂 Es war sehr fein (mit Golddeko!), nur die Kinder wollten lieber einfach eine Glace!
November 3rd, 2014 at 10:53
@ 2nd, female
Solche Geschichten sind traurig!
Es wurde eine Familie auseinandergerissen, Geschwister „verteilt“ an weit auseinander liegende Orte, so dass sie sich nur selten sehen konnten. Heute würde man wohl die Eltern unterstützen, damit alle zusammen bleiben können – hoffe ich wenigstens. Es gibt halt vieles, was man mit aller Liebe nicht nachholen kann.
November 3rd, 2014 at 11:05
@ Granium
Unsere Kinder nehmen auch lieber Glace;-)
Das mit dem Gold auf dem „Stückli“ hat mich schon beeindruckt. Dass so ein Goldblättchen keinen Geschmack hat, überrascht.
Februar 26th, 2016 at 15:56
Jedes mal wenn ich das lese, kommen mir die Tränen, aber wir drei Geschwister hatten es ganz schön bei der Grossfamilie. Den Kontakt zu der Grossfamilie gibt es noch immer. Danke.
Februar 27th, 2016 at 17:08
Was heute oft zu viel ist, war damals einfach zu wenig.
Leider gibt es von euch als Kinder nur ein paar Fotos, weil wir keinen Apparat hatten. Ich habe jetzt nachträglich noch zwei Bilder eingefügt. Liebe Grüsse!
März 10th, 2021 at 16:10
Sehr schöne Bilder