Mi 2 Sep 2015
Ihr Hilfswerk hat keinen Namen. Ihre Reisen bezahlt sie aus der eigenen Tasche. Kosten für die Administration fallen kaum an. Vom 11. Stock eines Hochhauses in Berns Westen leitet Elizabeth Neuenschwander mit ihren 85 Jahren drei Schulen (zwei Drittel sind Mädchen) und ein Frauenzentrum in Afghanistan und Pakistan. Jeden Samstag – bei niedrigem Telefontarif – spricht sie mit ihrer Assistentin in Kabul, welche ihr wöchentlich auch einen Bericht zu den Projekten per E-Mail sendet.
Mindestens zweimal im Jahr erhalten die zuständigen Botschaften in Genf einen unerbittlichen Besuch von der zierlichen alten Frau. Ohne ein gültiges Visum wird sie das Gebäude nicht verlassen. Das weiss mann aus Erfahrung
In diesem Monat ist es wieder soweit. Die Reise geht nach Kabul, wo Frau Neuenschwander sich mit der Leiterin des Frauenzentrums und dem Leiter der Schulen treffen wird, zur Sicherheit in einem Privathaus. Und natürlich wird sie dabei sein, wenn die Absolventinnen des Nähkurses ihr Diplom erhalten. Wer zwei Jahre fleissig gelernt hat, bekommt neben einem Diplom die Nähmaschine geschenkt.
Frau mit Nähmaschine vor dem Kurslokal in einem Flüchtlingslager in Balutschistan. Foto: Elizabeth Neuenschwander
Diese wird in Pakistan produziert, ist auf einen robusten Holzkasten zur Aufbewahrung von Nähutensilien montiert, wird auf dem Boden sitzend mit einer Handkurbel betrieben und kann überall hin mitgenommen werden. Bereits sind 8’000 Maschinen verteilt worden. Die Frauen erhalten mit Näharbeiten ihre Familien und geben ihr Wissen an ihre Töchter weiter. Im Kurs lernt frau nicht nur nähen, sondern ganz nebenbei beim Erstellen von Schnittmustern auch rechnen und lesen.
Frau Neuenschwander bildete einen Mann aus, der seinerseits das Nähen kriegsversehrten Familienvätern lehrt. Hier werden keine Fische verteilt, man muss fischen lernen.
Frauen und Mädchen auszubilden ist ein hochgefährliches Unterfangen. Man kann dabei spurlos verschwinden, erschossen oder überfahren werden.
Tausende von Frauen, Kindern und Männer haben fürs Leben gelernt und fürs Überleben eine Startmöglichkeit erhalten. Dies wird nicht mehr verloren gehen. Dazu schrieb Elizabeth Neuenschwander einmal: ‚Es ist mein kleiner Beitrag zu einer besseren Welt. Einer Welt, in der sich alle ihrer eigenen Werte bewusst sind, ist eine bessere Welt.‘
Aus: Jeanneret, Roland: Von Schangnau nach Kabul, S. 167
Seit über 50 Jahren arbeitet Elizabeth Neuenschwander in der Entwicklungszusammenarbeit. Sieben Sprachen spricht sie. Arabisch lernte sie in Nazareth, wo sie eine Spitalküche leitete und das nicht mit einem des Kochens und Haushaltens unkundigen Übersetzter tun mochte. In Indien gab sie Haushaltunterricht für leprakranke Frauen, baute in Nepal ein Teppichknüpfzentrum auf, war für das IKRK Ernährungsberaterin in Biafra, wo es nichts zu beraten und zu beissen gab. Sie führte ein Heim für behinderte Kinder in Zypern, lehrte Gemüseanbau in Pakistan und leitete in der Schweiz ein tibetisches Flüchtlingslager.
Ein aussergewöhnlicher Weg einer stillen Frau, die zusammen mit zehn Geschwistern in einer abgelegenen Gegend des Emmentals aufwuchs und am liebsten Brücken fotografiert.