Mo 6 Nov 2006
Als ich am Mittag immer noch nichts gegessen hatte, schon richtig stank vor lauter schwitzen vom ewigen Kleinen-Mädchen-Herumtragen und vom Keine-Zeit-Haben-zum-Duschen, da kam mir eine Idee. Meine Schwiegerfamilie wohnt zwar sieben Stockwerke unter uns, aber geholfen haben sie uns noch nichts, im Gegenteil. Also erklärte ich dem kleinen Mädchen, ich bräuchte kurz Zeit um mich frisch zu machen und anzuziehen. Ich würde sie jetzt zur albanischen Grossmutter bringen. Nein, das sei keine Strafe. Nach zwanzig Minuten würde ich sie wieder abholen, versprochen.
Bevor wir den Lift zu meinen unfreiwilligen Verwandten nahmen, versicherte ich mich, dass der tyrannische grosse Bruder nicht zu Hause war. Ich klingelte. Meine Schwiegermutter öffnete barfuss und verschlafen die Tür. Ich streckte ihr Kleines Mädchen entgegen. Sie nahm es ohne zu zögern. Ich erklärte in gebrochenem Albanisch: „Bitte, zwanzig Minuten. Mädchen weint ganzer Vormittag. Ich, duschen, anziehen. Ich, schnell. Zwanzig Minuten. Danke. Tschüss.“
Daheim musste ich mich wirklich bemühen, mich schnell frisch zu machen und nicht den Parkplatz zu beobachten, ob der grosse Bruder vorfährt. Nach genau zwanzig Minuten öffnete mir seine Frau die Tür. Angst, hilflose Wut und Verzweiflung standen ihr im Gesicht geschrieben, Ihr Mann verbietet ihr den kleinsten Kontakt mit uns. Sonst schickt er sie zurück in den Kosovo. „Wie geht’s?“ fragte ich. „Gut. Und wie geht’s dir?“ antwortete sie. „Gut.“ „Kind?“ „Gut. Deinem Kind?“ „Gut.“ Meine Schwiegermutter brachte Kleines zufriedenes Mädchen. „Faleminderit“ dankte ich. „Wo warst du?“ fragte Gjyshja (alb. die Grosmutter). „Zähne putzen.“ sagte ich. „Was ist los?“ fragte sie. „Viel Arbeit mit Baby.“ sagte ich, nahm Kleines Mädchen und ging.
Wenn Kleines Mädchen grösser ist, können wir ihr erklären, dass ihr Grossvater und ihr Onkel ihrem Vater eine echte Dorf-Kosovarin zur Braut gewünscht hätten. 2nd2nd, male hat es aber gewagt auszuziehen und erst noch mich zu heiraten. Nun wird er dafür mit Verachtung gestraft. Kleines Mädchen kann mir wenigstens niemals vorwerfen, ich hätte mich nicht hundert Mal bemüht, Kontakt aufzunehmen; wie Sisyphos.
November 6th, 2006 at 21:19
mutig und cool
bin gespannt auf die fortsetzung…
gruss Rinaa
November 7th, 2006 at 15:03
Mutig und traurig. Ich weiß, dass meine polnische (zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppte und nie mehr heimgekehrte) Großmutter ihrer Tochter alles Mögliche angedroht hat, sollte sie einen deutschen Mann daher bringen. Hat meine Mutter nochmal Glück gehabt, dass sie sich in einen spanischen Gastarbeiter verliebte, der wurde akzeptiert.
November 7th, 2006 at 21:17
Unglaubliche Geschichte. Es muss schrecklich sein, wenn im eigenen Haus unter der Familie so eine Zwistigkeit herrscht. Tradition ist natürlich wichtig, aber wir leben mittlerweile nicht mehr im Mittelalter. Sie selbst wohnen doch auch in der Schweiz. Können sie dann äußere Einflüsse nicht auch verstehen? Ich bin froh, dass ihr trotzdem glücklich seid und wünsche Euch wieder viel Kraft.
Ich lese gerne hier weiter.
Nicole.
November 7th, 2006 at 21:30
Ich wollte weder cool noch mutig sein. Manchmal bin ich einfach so wütend, dass dieses Verhältnis so ist, wie es ist. Ich kann aber froh sein, dass in unserer Familie niemand verschleppt wurde und bis heute immer alle wieder nach Hause gekommen sind (ausser der mit „P“, der kann bleiben, wo der Pfeffer wächst)!
November 7th, 2006 at 23:47
Jede Generation hat eine andere Arbeit zu tun. Und jede hat Sisyphos-Arbeit.
Was für mich Annährung der Kulturen noch schwerer macht als „nur“ Wiederholung/Sisyphos, ist, dass ich meine Prinzipien nicht verraten will, aber gleichzeitig von den anderen verlage, dass sie die ihren über Bord werfen, weil sie in „meinem“ Land leben.
Ich finde es gut, wie du es gemacht hast. Ich hätte es nicht gewagt.
(Und – amüsant – dass ich ein halbes Jahrzehnt auf die Akzeptanz durch meine schweizerischen Schwiegereltern gewartet und mehr als einmal auf die Kartoffel gebissen habe, um das Verhältnis nicht nachhaltig zu schädigen, indem ich mich angemessen wehrte. Heute bin ich froh darum, weil man tun kann, was man will, an einem Partner hängt irgend eine Form von Familie und wenn nicht real, in seinem Kopf. Die Auseinandersetzung kommt immer irgendiwe. Ausnahmslos.)
November 8th, 2006 at 14:19
Ich war mir sicher, in dieser Situation auf das Grosmutterherz vertrauen zu dürfen. Inzwischen weiss ich übrigens, dass die Gjyshe und die Schwiegertochter in diesen zwanzig Minuten das kleine Mädchen mit dem Milupa-Schoppen ihrer Cousine beruhigt haben. Meine Schwiegermutter liebe ihre beiden Grosskinder gleich, richtete mir heute ihre erwachsene Tochter aus.
November 8th, 2006 at 20:31
Hmpf!
Naja, das bisschen Milupa wird Kleines Mädchen ja schon vertragen haben. Aber ich bin dennoch es bitzeli froh, dass es nur 20 Minuten waren.