Meine Pflegetochter ist wirklich unglaublich: sie lernt schnell, ist fleissig und zielstrebig, oft auch lustig, hat Humor. Sie ist eine genaue Beobachterin, eine Kennerin sämtlicher alten amerikanischen Filme, ist eine ausgezeichnete Erzählerin, aber auch eine raffinierte Schwindlerin. In der Politik und Geografie ihres Landes kennt sie sich bestens aus. Spätere Berichte von Journalisten aus dieser Kriegsregion bestätigen das. Nach etwas mehr als einem Jahr in der Klasse für Fremdsprachige kann L. in die Sekundarschule übertreten. Zwar schläft sie immer noch nicht im Dunkeln und klagt oft über Bauchschmerzen, aber L. hat schwimmen gelernt, kann nun Rad fahren, versucht sich auf dem Snowboard, geht regelmässig ins Bauchtanzen. Inzwischen spricht sie deutsch, ihre achte Sprache. Sie liest und zeichnet gerne, freut sich an ihren neuen Kleidern, ihrem eigenen Zimmer und geniesst es, am Wochenende mit meiner Tochter in den Ausgang zu gehen.
Nach und nach wird aus meiner Pflegetochter ein hübsches und fast normales Teeny, welches dauernd am Telefon hängt und einem manchmal mächtig auf die Nerven geht. Längst ist sie ein Mitglied der Familie geworden.

Oft sagen nun die Leute: „Wir hätten L. auch genommen, wenn wir nur gewusst hätten, dass sie einen Platz braucht.“ Einige meinen zu wissen, dass ich unter einem Helfersyndrom leide. (Da niemand gerne unter so etwas leidet, warten Scharen von Bedürftigen vergebens auf Hilfe).

Ich habe keine Zeit, mich mit dieser Störung zu befassen. Neben meiner Erwerbsarbeit steht bald L.’s Berufswahl an, ein weiteres Problem. Im Kanton Bern ist es unmöglich, mit einem F-Ausweis eine Lehrstelle zu finden, „ausser vielleicht in einer Metzgerei“, wie mich die zuständige Sozialarbeiterin informiert.
Als L.s Gesuch für einen B-Ausweis bewilligt wird, fällt uns ein Stein vom Herzen. Da der Krieg in der fernen Heimat kein Ende nimmt, im Gegenteil, immer schlimmer wird, ist an eine Rückkehr nicht zu denken, aber wenigstens verplempern wir nicht die Zeit. Alles scheint auf gutem Weg.

Wenn L. in die ferne Heimat telefoniert, machen Vater und Geschwister Druck, möchten u.a. eine Kamera, eine PlayStation, Medikamente, sie wollen auch in den Westen kommen. L. soll ihnen einen Platz in Schweden organisieren.
Lästige Anrufe erhalten wir von einem Mann namens Zinar aus Deutschland, der behauptet, der Schwager von L. zu sein. In Europa sei er an Stelle des Vaters nun zuständig für meine Pflegetochter. Ein weiterer „zuständiger Cousin“, angeblich aus Amerika, taucht auf.
Für mich und meine Familie ist es unmöglich, dieses Netz von „Verwandten“, deren Pläne und wahren Lügen zu durchschauen.

L. ist im Stress und wird mürrisch. Sie will nun unbedingt nach Hause fahren, auch auf die Gefahr hin, dass sie dann ihr Aufenthaltsrecht in der Schweiz verliert. Wir versuchen, ihr diese Reise auszureden, machen den Vorschlag, dass wir jeden Monat vom Pflegegeld einen Betrag zur Bank bringen, um ein Flugticket zu kaufen, sobald es wieder Linienflüge gibt.
Bald darauf teilt uns L. mit, dass ihre geliebte Schwester H. an Asthma gestorben sei. Im ersten Moment ist das für uns ein Schock. Welch ein endloses Elend! Um unser Beileid zu zeigen, setzen wir eine Todesanzeige in den „Bund“. L. erhält darauf viel Post von Bekannten und Unbekannten, die den Tod der Schwester bedauern. Nach und nach kommen uns Zweifel, denn wir hören L. am Telefon manchmal lachen. Amüsieren sich da zwei sehr lebendige Schwestern ein bisschen über eine naive Familie in der Schweiz?
Unterstützung für ihre Reisepläne erhält L. von der Psychologin und der Sozialarbeiterin. Die beiden Frauen versprechen, das Geld und die nötigen Papiere zu besorgen – welch unprofessioneller Irrsinn! Die Fachfrauen werden von der zuständigen Juristin auf den Boden der Realität geholt.

Das Ende ist schnell erzählt. Beim Mittagessen an einem strahlenden Sommertag reisst L. einen spontanen Streit mit meiner Tochter vom Zaun, schnappt sich ihre Schultasche und verlässt die Wohnung. Gegen Abend ruft mich die Sozialarbeiterin an und teilt mir mit, dass ich am nächsten Tag eine Tasche mit frischer Wäsche und Schminkzeug ins Jugendamt bringen solle. L. verzichte auf weiteren Kontakt mit uns, auch werde uns ihre neue Adresse nicht mitgeteilt.
Völlig am Boden zerstört beginne ich, Schachteln und Taschen mit L.’s Sachen zu packen, Bücher – schluchz – Kleider – schluchz – Schuhe – schluchz – Alben – schluuchz – Bilder, Malsachen, weiche Handtücher, Bodylotion und Shampoo für empfindlich Haut und Haar. Auch noch die Wärmeflasche für kalte Nächte, die praktische Trinkflasche für unterwegs, die Sonnenbrille und den Magentee nicht vergessen und zuletzt noch das Fahrrad. Verzweifelt leere ich Schubladen, Tablare und Schrank. Schliesslich rufe ich einen Lieferdienst an. Als der Fahrer das Gepäck holt, erfasst er die Situation sofort. „Ist sie weg?“, fragt er. „Früher oder später vertuben sie immer, sie müssen auf die Walz. Nehmen Sie’s nicht so schwer.“ Erst jetzt merke ich, dass der Mann ein Quartierbewohner ist und uns vom Sehen kennt.

Ich kündige den Pflegevertrag, wobei mir mein Schwiegersohn und eine befreundete Anwältin den Gang zum Jugendamt abnehmen.
Ich erhalte noch ein paar üble Anrufe, u.a, von der Mutter aus England, die laut lacht über die stupid Frau, die meint, H. sei tot, dabei hat sie noch gestern mit ihr telefoniert. Auch Schwager Zinar aus Deutschland ist wütend, dass ihm sein Mündel durch meine Schuld abhanden gekommen ist.

In L.’s Land ist immer noch Krieg, mit anderen Feinden und Freunden, aber nicht minder heftig als vor fünfzehn Jahren. In diesem Moment wüten böse Männer mit Baggern, Planierraupen, Vorschlaghämmern und Äxten in Museen und auf Ausgrabungsstätten. Den geflügelten Lieblingslöwen meiner Pflegetochter werden gerade die Köpfe abgetrennt und die Flanken aufgebohrt – welch schändliche Schande!

Obwohl L. in Bern wohnt, bin ich ihr nie mehr begegnet. Auf der Flucht hat sie gelernt, jemandem auf engem Raum aus dem Weg zu gehen.