Auf dem Markt treffe ich Ida. Eben hat sie zwei Äpfel und einen Topf Herbstaster eingekauft. Ich grüsse nur kurz, weil ich weiss, dass die alte Frau um diese Uhrzeit immer in Eile ist, denn um halb Zwölf wird im Spittel gegessen. Heute hat sie Zeit für einen Schwatz, was mich erstaunt. „Weisst du, ich melde mich anfangs der Woche jeweils für einige Mittagessen ab. Das gibt mir einfach mehr Freiheit.“ „Dann hast du Zeit für einen Kaffee?“ frage ich. Zielstrebig schiebt Ida den Rolator durch die Gasse. Sie weiss, wo es die beste heisse Schokolade der Stadt gibt. Das sei dann ihr „Zmittag“.


Als wir vor unseren Tassen sitzen, vernehme ich, dass das Kleine Mittagessen im Altersheim Fr. 29.- kostet. Meldet man sich ab, werden einem allerdings nur Fr. 12.- gut geschrieben. Eigentlich geht Ida abends nicht in den Speisesaal, bereitet sich selber etwas zu. „Ich bin eine Einzelgängerin und gehöre zu keiner der Gruppen im Heim, aber letzthin habe ich mich dann doch zu ein paar Frauen gesetzt und ein halbes Stück Pizza und einen Tee bestellt. Das hat fünfzehn Franken gekostet“. Auch ein Schälchen Birchermüesli hätte Fr. 15.- gekostet. Wenn der Hausdienst zwei Nägeli für einen Kalender einschlägt (Dauer: 1 Minute), kostet das zehn Franken. Das Bringen von einem Weggli aufs Zimmer kostet auch zehn Franken. Das sei in allen Heimen so: jedes Extra kostet extra.
Idi jammert nicht. Während sie erzählt, blitzen ihre Augen jung hinter den Brilllengläsern, so, als sei sie selber verwundert über die fehlende Noblesse seitens der Heimbetreiberin.
Wahrscheinlich sollte sie ein schlechtes Gewissen haben, dass sie in den Spittel gezogen sei, meint Ida, aber die kleine Wohnung habe ihr so gut gefallen, besonders der Blick auf die Stadt und die Berge sei einmalig. Der habe sie über den „Abschied von zu Hause“ hinweg getröstet und ihr dann auch aus dem Loch heraus geholfen, in welches sie gefallen sei, als sie sich von allem trennen musste, besonders von den Büchern. Aber der Rücken wollte einfach nicht mehr.
Ida ist nun 88 und seit 16 Jahren Witwe. Bis 75 hat sie gearbeitet – freiwillig ohne Lohn, denn ihr Gatte, ein Bauingenieur, wollte nicht, dass seine Frau „mitverdiente“. Nachdem die Kinder ausgeflogen waren, hielt sie lange Jahre Nachtwache in einem Altersheim. „Für mich gab es keine schönere Arbeit als die Nachtwache. Das war eine ganz andere Welt. Ich fühlte mich stark und frei.“
Der neue, letzte Lebensabschnitt sei eine besondere Herausforderung. Jetzt, wo sie aus dem tiefen Loch raus sei und wieder lesen und unter die Leute gehen möge, wolle sie sich dieser stellen.
Nur: Gelesene Bücher würden gleich verschenkt, bekämen keinen Platz in der neuen Wohnung. Zu schmerzlich sei die Erinnerung an die Trennung von ihren zahlreichen treuen Gefährten.