Sa 18 Okt 2008
Eiger, Mönch und Jungfrau, Niesen, Stockhorn, Nünenen und Gantrisch schweben über einem leichten Nebel. Der erste Frost hat die Blätter von den Linden geholt und die Heuballen stehen aufgetürmt am Rande der Felder. Heute ist Grünabfuhr im Dorf. Stauden und Äste werden auf den Sammelplatz gebracht. Jeden Herbst falle es ihnen schwer, die Geranien abzuräumen, besonders bei diesem Prachtswetterchen, meinen die Frauen vor dem Dorfladen, während ihnen die Kastanien vom höher gelegenen Schulhausplatz an den Füssen vorbei der Kirche zu rollen.
Nicht nur in der Stadt, auch auf dem Land gibt es Veränderungen. In der Bäckerei wird (endlich) wieder einmal ein neues Brot angeboten, „Maggia-Brot“ heisst es, ist flach und dunkel. „Ist das Wasser im Brot aus der Maggia?“ fragt meine Schwester Rosy. Die Verkäuferin weiss nicht, weshalb „Maggia-Brot“, sie selber ist nicht von hier, ist aus der Ostschweiz zugezogen. Letzte Woche wurde endlich die Esche an der Friedhofmauer gefällt, welche Vater jahrelang die Sicht auf den Thunersee versperrte. Der Neubau mit den Eigentumswohnungen für Senioren, auf dem Grundstück der alten Post ist fertig und bereits bewohnt. Allerdings sind die Hürden für ein Dorfleben im Alter damit nicht ganz ausgeräumt, müssen die Leute doch bei beiden Läden mühsame Treppen erklimmen. Auch der Zugang zu Kirche und Friedhof bleibt beinahe unüberwindlich, da das Kopfsteinpflaster stetig talwärts rutscht. Fussgängerstreifen gibt es keine und Ruhebänke mit Aussicht findet man mit einer Ausnahme nur auf dem Friedhof. Einige Gärten im Dorf sind verwaist, ihre Gärtnerinnen und Gärtner sind tot, wohnen im Altersheim oder müssen sich mit ihren Blumenkistchen auf den Lauben begnügen, weil die alten Knochen die feuchte Erde nicht lieben.
Ich mache einen Besuch auf einem nahe gelegenen Bauernhof. Der ehemalige Besitzer ist gestorben und sein Haus wird geräumt. Längst hatten die Katzen sich in den Stuben eingerichtet, ihre Jungen auf den gestärkten Sonntagshemden zur Welt gebracht, hatten sich Nester gebaut in den Bundesordnern mit der Buchhaltung der verschiedensten Vereine. Sie fanden dort auch einen Platz zum Sterben, wie ein Skelett zeigte. Die Mäuse nisteten sich ein in die hundert Jahre alten Schuhe längst Verstorbener, frassen in kargen Wintern den Futterfilz, während sich der Holzwurm an den Absätzen gütlich tat. (Um solche „Historien“ wegzuräumen braucht es weit mehr als ein paar dicke Handschuhe und tiefe Kehrichtsäcke!)
Auf Schritt und Tritt begegnet man Gerätschaften aus einer vergangenen Welt, von welchen unsere Kinder nicht mehr wissen, wozu sie damals gebraucht wurden. Neben Bibeln und Gesangbüchern, Lexika, Wörter- und Fachbüchern ist auch das Zeugnisbüchlein des Verstorbenen zu finden. Er war ein ausgezeichneter Schüler, mit lauter Einsen, ausser im Gesang, wo man ihm eine 2-3 geben musste.
Ich habe, gegen jede Vernunft, einen Bund Garbenseile mitgenommen. Sie werden sowenig in meine Block-Wohnung im 16. Stock passen, wie der Dreschflegel, die Sattlerschere, der Getreidesack mit dem aufgemalten Namen des Besitzers, die Blackenschaufel und der Kamm, mit welchem man früher die Heublumensamen abstreifte.
Beim Kreisel mit den beiden Findlingen „Nünenen“ und „Gantrisch“ steige ich ins Postauto Richtung Bern. Es ist bis zum letzten Platz besetzt mit alten Leuten. Eine herbstliche Tristesse will mich überkommen ob all der Vergänglichkeit, wären da nicht meine lieben Begleiterinnen, die mir heute geholfen haben, dieses Haus hier „einzuwintern“ und wenigstens eine Weile vor den Übergriffen der Nachbarn der Natur zu schützen.
Oktober 19th, 2008 at 13:56
Diese Geschichte erinnert mich an Franz Hohlers „Rückeroberung„.
Oktober 19th, 2008 at 23:15
mich auch…genau so hiess das.