Mi 22 Feb 2006
Als meine Mutter und ihre Geschwister klein waren, waren meine Grosseltern arm. Das bedeutet, dass sie nichts hatten, und was sie hatten, selber gemacht oder gegen Selbstgemachtes getauscht war.
Erzählt mein Grossvater davon, klingt die Kargheit schon in der Wortwahl. „Wir hatten nichts weder Salz,“ pflegt er zu sagen. Es machte für mich seit jeher jeden Satz gähnend leer, wenn er „weder“ als „als“ benutzte.
Dennoch gab es Tage, an denen ein paar Rappen zusammenkamen, vielleicht weil man nach dem eigenen Heuet noch den von Nachbarn zu bewältigen vermochte. Dass der Bauer früh ins Bett ging, um früh aufzustehen, stimmte zumindest damals nicht. Im Alter, in dem ich jetzt bin, hatte mein Grossvater ungefähr vier Stunden Schlaf. Dank dem kam meine Grossmutter dazu, ein paar rare Rappen effizient und originell einzusetzen.
Einmal, als der Küchenschrank nicht ganz leer war, weil man als Pächterfamilie ja auch einiges aus dem Boden ziehen konnte, ging sie zur Drogerie und kaufte Lebkuchengewürz. Sie hatte es satt, ihren Kindern „nichts“ geben zu können.
Sie und die älteste Tochter (1st) standen nun also vor dem ausgewallten Teig, der den ganzen riesigen Küchentisch deckte und wussten nicht, wie sie ausstechen sollten. Es gab nichts im Haushalt, was einer Ausstech-Form nahe kam. Aber dass alle Lebkuchen einigermassen gleich gross werden sollten, war beim Backen mit offenem Feuer eine Bedingung. Grossmutter entschied sich für eine Kaffeetasse. (Diese hatte eher die Grösse einer heutigen Müsli-Schale, womit auch erklärt ist, warum man im Bernbiet noch immer „eine Schale“ bestellen kann und einen Milchkaffee bekommt).
Mit weit ausholenden Bewegungen drehte sie Dutzende von Lebkuchen aus, was zackig zu geschehen hatte, sonst blieb der Teig ja in der Tasse kleben. So buk sie also die vielen, vielen Lebkuchen und sie dufteten besser, als alles, was die Kinder je gerochen hatten und gelangen so zahlreich, dass sie sogar welche in den Schule mitbringen konnten. Aber wo aufbewahren? Weidenkörbe wurden geleert, mit sauberen Leintüchern ausgelegt und in das kühlste Zimmer gestellt. Einen Vorrat an Lebkuchen zu haben, das kam einer Offenbarung gleich.
Meine Mutter, die Perfektionistin, schämte sich, die Lebkuchen ihren Schulkameradinnen und der Lehrerin so ganz ohne Dekoration anzubieten. Aber meine Grossmutter schenkte ihr keine Beachtung und gab so viele mit, dass es für alle und darüber hinaus reichte. Die glanzlosen braunen Kuchen wurden ein Riesenerfolg, die Lehrerin konnte ihr Glück über dieses Geschenk nicht fassen. Denn meine Vorfahren waren ja nicht die einzig Armen im Dorf.
Februar 22nd, 2006 at 11:33
Welch Wohltat, diese Geschichte zu lesen. Irgendwo in mir schlummerte sie.
Ich weiss noch, wie meine Mutter (1st) mit ihren „NachhilfeschülerInnen“ aus aller Welt bei uns zuhause im Block Lebkuchen gebacken und ganz farbig verziert hat. Da war ich noch sehr klein.
Februar 22nd, 2006 at 12:20
Und du hast auch geholfen, stimmt, sehr klein, Anfang Achziger. Die Vor-Geschichte kommt noch, vielleicht heute Nacht.
Februar 22nd, 2006 at 23:09
Die Lehrerin hatte vier hungrige Buben und einen Mann zu versorgen, der als einfacher Bahnarbeiter „Gramper“ nur einen kleinen Lohn heim brachte.
Februar 23rd, 2006 at 09:24
Wunderschön.
Darf ich dies Geschichte in mein Vorlese-Repertoire aufnehmen?
Herzlichst Rinaa
Februar 23rd, 2006 at 09:53
Ja, Rinaa, gern!