Di 12 Dez 2006
Ja, lieber Zürcher, du hast recht, die Welt ist voller abgedroschener Klischees. Das vom erfolglosen Autoren aus der Grossstadt, der sich in Provinzblättern mit Kolumnen über Kleinstädte sein Brot verdienen muss – nur so als Beispiel. Das vom Zürcher, der ausser Zürich und vielleicht noch Graubünden nichts kennt von der Schweiz. Wie er in weiser Vorahnung schreibt: die Realität ist komplizierter als das Klischee. Darum:
1. Bethlehem war für mich bisher, was es für die meisten Nichtberner ist: eine berühmte Bausünde.
Nein. Schon in den 50er-Jahren war das Tscharnergut eine Musterbeispiel für verdichtetes Wohnen, wie es heute wieder en vogue ist. Auch im Gäbelbach und im Bethlehemacker wurden viele Ideen von Le Corbusier umgesetzt, was die Siedlung nach wie vor zu einem beliebten Anschauungsobjekt von Architekturstudenten macht.
2. Eine Horrorvision, die wie ein Phantomgebirge am Horizont auftaucht, wenn man mit dem Zug ins Oberland fährt.
Was man dort sieht, sind die Hochhäuser der Siedlung Wittigkofen. Das liegt ganz im Osten der Stadt und ist zu einem grossen Teil Wohneigentum. Bethlehem liegt im Westen.
3. Die Bushaltestelle heisst malerisch «Bethlehem-Säge», ist aber umzingelt von Einkaufskolossen.
Das grösste Gebäude, das dort zu sehen ist, beherbergt das Brockenhaus der Heilsarmee. Ferner sind eine Textilreinigung zu sehen und ein Coiffeursalon sowie einige Wohnhäuser mit drei bis fünf Stockwerken.
4. Und in der Bethlehemstrasse sieht es aus wie in den Zürcher Slums: triste Reihenhäuser mit Satellitenschüsseln auf dem Balkon; überall Nachwuchs-Hooligans, denen man besser nicht zu tief in die Augen schaut.
Hooligans? Noch nie gesehen. Die finsteren Gesellen, die der Autor gesehen haben wird, haben sich als Rapper oder Homies verkleidet. Fussball interessiert hier echt, die Kinder der Bethlehemstrasse sind wenn schon in der YB-Klasse. Verprügelt werden hauptsächlich schlechte Schriftsteller.
5. An einem der Stützpfeiler hängt die Ankündigung einer Podiumsdiskussion von vorletzter Woche: «Bethlehem unterwegs zu einem Trendquartier?»
Die erwähnte Veranstaltung hat am 29. November stattgefunden, also in der letzten Woche vor dem mutmasslichen Besuch des Autoren am „Samichlaus-Mittwoch“ (Zürcher Brauch?).
6. Hinter dem nächsten Busch lauert die Melchiorstrasse, und schlagartig bin ich wieder in der DDR, will sagen im Bethlehem-Klischee: rechts eine Art Plattenbau, links ein angeschlagener Wald mit Schnellstrasse.
Wenn wir uns ausdenken würden, was ein Zürcher so für Vorurteile mit sich herumschleppt: besser würden wir es nicht treffen.
Wir danken Ihnen.
PS. Bitte protestiert nicht bei der Zeitung, liebe engagierte Bethlehemerinnen und Bethlehemer. Wir fürchten, Richard Reich schreibt über uns, weil er pro Leserbrief bezahlt wird.
Dezember 12th, 2006 at 01:49
Schade habe ich diesen A., sorry, Z. nicht erwischt.
Kennt jemand „DIE HARD“, wo Bruce Willis nackt ausser mit einem „i hate niggers“-Plakat im Schwarzenviertel ausgeladen wird?
Wobei der schlechte Schriftsteller, Strafe jeder Schulklasse, eine Schande für unsere Kompoststelle wäre.
Pfui, jetzt hab ich mich widerwillen aufgeregt. Jenu…
Dezember 12th, 2006 at 10:18
Dabei warst du soooo nah dran! Du hättest ihn sehen müssen. Oder 2n2nd, male auf jeden Fall, wenn er noch beim Kompostplatz herumlungert.
Vielleicht war er doch nur via Google Earth hier. Das würde einiges erklären.
Dezember 12th, 2006 at 22:02
ich fass‘ es nicht – der erste eintrag von 2nd, male! 😉
Dezember 12th, 2006 at 22:57
Vielleicht neigt er zu dezemberlich verhaltenen Wutausbrüchen? Danke für den Hinweis, unter diesem Gesichtspunkt habe ich es noch gar nie betrachtet.
Dezember 13th, 2006 at 00:40
Ich danke 2nd, male für den Beitrag. Dieser musste sein, denn die Blogk-Familie kann so etwas nicht einfach stehen lassen.
Der BZ-Artikel hat nicht nur „ertäubt“, sondern auch belustigt. Man stelle sich RR vor, wie er in Bern unvorbereitet ein Gratislächeln einsacken muss, ihm dann die Melchiorstrasse auflauert und der Rollator, die nicht kompostierten Knochen samt eingebildeten Nachwuchs-Hooligans ihm Angst machen. Dazu ist er geographisch völlig desorientiert, der Bedauernswerte. Leserbriefe bekommt er auch keine. Ich hoffe, er findet wieder einen ähnlich kribbelnden Kolumnen-Ort zum Beschreiben.
Dezember 13th, 2006 at 01:33
Das nette „grüessech“ der älteren Frauen anstatt bei seinem Anblick sofort die Polizei zu rufen, scheint den armen Reich ja völlig aus seinen Pantoffeln geworfen zu haben. Erstmals wurde er nicht „sofort als Rumtreiber ertappt“.
Schlecht und schizophren geschriebenes repräsentiert aber auch unsere Gesellschaft 🙁
Dezember 13th, 2006 at 09:05
[…] Und das gemächlich Bern, das sich selbst in der Geschichte als Pseudogrossmacht verewigte, verkehrt nur in Bern und traut sich den berüchtigten sowie schmerzenden Blick über den Tellerrand nie zu. Solche kleinliche Diskussionen angesichts der Identitätsverschmutzung, mit der sich manche störrische und kleinkarierte Bildungsphilister bedroht glauben, beweist die Furcht der Berner, wenn man sie der eigenen Schubladisierung überführt. […]
Dezember 13th, 2006 at 09:34
@Kristine: Seit 40 Jahren repräsentiert ein Stempel unser Quartier, der den Menschen hier schadet, das scheint wirklich ein gesellschaftliches Probelm zu sein, auch in anderen Ländern.
An der erwähnten Veranstaltung ist ein „Dinosaurier“ der Freiwilligenarbeit im Quartier für sein Votum aufgestanden. Vorgestellt hat er sich mit Nachnamen zuerst, dann Vornamen und dann nachgeschoben, er brauche sich ja wohl nicht vorzustellen. Dann hat er donnernd gesagt: „Das einzige, was mich an diesem Quartier wirklich stört, ist sein schlechter Ruf, den die machen, die noch nie da waren.“ (Mein Problem ist nur, dass ich Richard Reich nicht einladen möchte.)
Unsere Strategie als Blogk-Familie geht insofern auf, als dass wir wirklich schon viele Begegnungen mit Medienmenschen hatten, die etwas weitsichtiger und tiefsinniger waren.
Auch stelle ich fest, dass „3027“ in manchen Banken und Versicherungen ein Label für Handlungskompetenzen ist, die durchaus gebraucht werden (Sprachmix, Kenntnisse verschidener Vermögenskulturen etc). Unsere Jugend bekommt in diesen Bereichen erstaunlich viele Lehrstellen.
Aber es ist ein verdammt steiniger Weg.
Dezember 14th, 2006 at 01:21
@ Dissident: erwarte freudig, der Schubladisierung überführt zu werden.