Meine Mutter hielt ständig Ausschau nach einem Nebenverdienst, damit das schmächtige Einkommen aus dem Bergheimetli etwas „Schmutz“ (Fett) ansetze. Wie sie auf die Chinchillazucht kam, weiss ich nicht mehr, wahrschenlich durch „Die Grüne“, eine Bauernzeitung, denn in der ganzen weitläufigen Gemeinde gab es wahrscheinlich niemanden, der auch nur den Namen dieses Tieres aussprechen konnte.
Chinchillas seien äusserst heikel aufzuziehen, aber man könne damit sehr gut verdienen. Aus ihren Fellen würden die exklusivsten Pelzmäntel genäht.

Die Vorstellung, die engen Stuben des Bauernhauses mit Käfigen voll gestellt zu bekommen war mir ein Gräuel, fetter Verdienst hin oder her.
Ob der Käfig mit den Hamstern, der eines Tages auf dem Oberen Ofen (Sitzofen) in der Wohnstube stand, ein kostengünstiger Probelauf für die Chinchillas war, weiss ich nicht mehr. Die Hamster wurden zum Glück schon bald von unseren Katzen gefressen, da wir Bauernkinder mit solchen Haustieren keine Erfahrung hatten und wahrscheinlich dachten, die Hämsterchen würden ihr Käfigtürchen vor dem Zubettgehen selber schliessen.
Mit der Chinchillazucht wurde es dann nichts. Die idealen Voraussetzung dazu könnten wir nicht bieten, meinten die Chinchillaexperten.

Letzte Woche las ich einen Bericht über den Chemiker Albert Hofmann, welcher vor 75 Jahren für seinen Arbeitgeber Sandoz das LSD aus dem hochgiftigen Mutterkorn synthetisierte. (Der Bund, 08.09.2018)
Dabei erinnerte ich mich an einen früheren Nebenerwerbs-Versuch meiner Eltern.

Mitte der 50er Jahre pflügte mein Vater den steilen Acker hinter dem Wäldchen. (Der Pflug hing dabei am Drahtseil einer Winde, die von meiner Mutter oder meiner Schwester bedient wurde.)
Das Saatgut lieferte ein Mann, der den Eltern Anweisungen gab und sie ein Papier unterschreiben liess. Auf den Kornsäcken stand Sandoz. Sie schienen etwas Besonderes zu sein, denn Vater und Mutter verbreiteten eine für mich als Kind unerklärliche Nervosität. Die Eltern hatten beschlossen, Mutterkorn anzupflanzen. Das sei sehr begehrt, weil die Firma Sandoz daraus neue Medikamente herstelle.
Als dann am „stotzigen Bord“ hinter dem Wäldchen die Roggenhalme mit ihren jungen Ähren hoch standen, gingen Vater und Mutter, an den Händen ein nagelbesetztes Holzbrett, durch das Feld, tauchten diese Bretter in einen Kessel mit einer Flüssigkeit, nahmen ein Büschel Halme dazwischen und – klatsch – impften die Ähren mit dem Mutterkorn-Impfstoff. In meiner Erinnerung war das eine langwierige, anstrengende Arbeit, bei welcher wir Kinder nicht mithelfen mussten.
An den Ähren würden nun bald Wolfzähne wachsen.

Mutterkorn

(Foto: Schweizerische Nationalbiblithek NB, abgerufen am 14.08.2018)

Hässlichgrausige, gekrümmte und gedrehte Zinken standen und hingen dann zwischen den klebrigen, spitzen Grannen. Alle Familienmitglieder, welche sie an den hohen Roggenhalmen erreichen konnten, mussten beim Sammeln der Wolfzähne mithelfen. Trotz grosser Anstrengung konnte man als Kind an einem Nachmittag nur eine Handvoll ernten. Ab und zu zerbiss ich aus Wut einen schwarzen Wolfzahn, der nach nichts schmeckte und innen ganz weiss war. Wie giftig Mutterkorn ist, wusste ich nicht.
Nach dem Dreschen mussten wir noch lange Mutterkorn aus dem Roggenkörnern sortieren, denn jeder angebrochene Zahn war kostbar.
Trocken brachte Mutterkorn noch weniger auf die Waage und unser Einkommen blieb von jedem Grämmchen Fett weiterhin verschont.
Trotzdem bekamen wir Kinder damals einen Fussball aus schwerem Leder, der uns jahrelang begleitete, mit uns umzog und uns neue Freunde brachte.

Mutter hielt weiterhin Ausschau nach Nebenverdiensten.

Mit über siebzig Jahren wagte sie beruflich noch einmal einen Anfang. Als Hauspflegerin betreute sie alte und kranke Menschen und Familien mit Kindern. Zum ersten Mal in ihrem Leben verdiente sie einen regelmässigen Lohn, während mein Vater Haus und Garten in Ordnung hielt und das Essen vorbereitete.