So 5 Dez 2004
Seit drei Tagen liegt bei mir eine Packung Kaliumiodid, 2×6 Tabletten, von den verantwortlichen Behörden vorsorglich und gratis nach Hause geliefert. Auf dem Informationsblatt, verfasst in acht Sprachen und in winzigst kleiner Schrift, werde ich angewiesen, wie ich mich bei einem schweren Kernkraftwerkunfall zu verhalten habe. Alle, die im Umkreis von 20 km eines Kernkraftwerkes wohnen, sollten diese Jodtabletten griffbereit haben: Bitte, lagern Sie die Tabletten an einem Ort, wo Sie diese sicher wiederfinden.
Da ich in Zone 1, nur 10 km vom Kernkraftwerk Mühleberg entfernt wohne, nehme ich die Lupe zur Hand um nichts zu übersehen. Bei Gefahr, dass radioaktive Stoffe freigesetzt werden könnten, alarmieren die Behörden die Bevölkerung. Informationen dazu finde ich im Telefonbuch auf den hintersten Seiten: (ein regelmässig auf- und absteigender Ton der Sirenen, dauert 1 Min. mit 2 Min. Unterbruch). Die Behörden ordnen an, wann die Tabletten, mit viel Flüssigkeit, ein erstes Mal eingenommen werden sollen und wie lange. Die Informationsschrift: „Chemie und Radioaktivität im Alltag“ erhalte ich gratis beim Bundesamt für Gesundheit.
Zu Weihnachten wünsche ich mir, dass es nie zu einer Alarmierung der Bevölkerung kommt. Das Merkblatt kann längst nicht von allen gelesen werden und kein Mensch weiss, was inzwischen mit all den Tabletten aus der Armeeapotheke geworden ist. Obwohl die Führungen durchs Kraftwerk bei den Schulklassen nicht unbeliebt sind, scheint es ein ungeahntes Problem zu geben, das von den Befürwortern der Kernenergie hier in der Schweiz (noch) nicht thematisiert wird.
Ich weiss, dies ist ein un-heiterer Beitrag für einen 2. Advent, aber Kleingedrucktes verschiebe ich immer auf den Sonntag.
Dezember 7th, 2004 at 18:02
Dazu fällt mir doch die Geschichte wieder ein, als wir vor gut zehn Jahren die allerersten Jodtabletten erhielten. Die kamen noch ohne Beipackzettel. Und schon gar nicht in acht Sprachen. Die kamen pro Person abgezählt in einem unbeschrifteten Papierchen.
Wir wohnten damals in einer Hausgemeinschaft unweit eines Schweizer AKW und wurden persönlich von einem extra dafür angestellten Herrn der Gemeinde um zehn Uhr morgens damit beliefert. Das Dumme war, dass der gute Herr „nur“ schweizerdeutsch sprach und die einzige gerade anwesende Erwachsene „nur“ kroatisch und englisch sowie ein langsames, ganz einfaches schriftdeutsch ohne Probleme hätte verstehen können.
Als ich abends um sieben als erste von uns anderen fünfen heim kam, fand ich meine kroatische Mitbewohnerin mit ihrem ein Jahr alten Sohn weinend in einem der Zimmer zusammengekauert. Sie hatte stundenlang geweint, irgendeine oder irgendeinen von uns erfolglos versucht telefonisch zu erreichen.
What happend?
Was? Das weisst du nicht? Ein Reaktorunfall. Sie haben Tabletten gebracht. Wir werden alle sterben. Ich habe den Mann nicht verstanden. Ich habe ihn gefragt, ob ich die Tabletten meinem Sohn auch geben muss und wieviele. Er sagte immer: Ja, ja. Und ich fragte auch, ob ich die in meinem schwangeren Zustand auch nehmen muss. Und er sagte immer: Ja, ja. Aber ich habe nicht verstanden, wieviele. Wir werden alle sterben…
Eines Tages werden wir alle sterben. So viel ist sicher. Doch nicht an dem Tag vor gut zehn Jahren, als man bei uns einen Mann mit Jodtabletten vorbei schickte …
Dezember 8th, 2004 at 12:47
Das ist trotz allem, eine tröstliche Geschichte! Mir kommen in der letzten Zeit immer Simmel-Titel in den Sinn:
Hurra, wir leben noch,
Mich wundert, dass ich so fröhlich bin,
Die Erde bleibt noch lange jung,
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Wir heissen euch hoffen …