Fingerhut

Ein Höhepunkt im Leben der versorgten Buben (ca. 1962): das weihnächtliche Theaterspiel. Der junger Lehrer HP. H. engagierte sich in zahlreichen Überstunden und verwandelte sie für einen kurzen Moment in zarte Elfen, links mit Stock der bucklige „Fingerhütchen“ , …

… in einen stolzen König Winter

Der Winter ist ein rechter Mann

… oder in Bauer und Bäuerin,

Zwölfischlegel

… welche den Vagabunden „Zwölfischlegel“ an Weihnachten in die Familie aufnimmt (nach einer Erzählung von Simon Gfeller).
Die Schauspieler beherrschten ihre Texte fliessend. Leider fanden diese Aufführungen ohne die Eltern und Angehörigen statt.

In diesen Tagen denke ich besonders oft an meine Zeit im Kantonalen Knabenerziehungsheim. Ich habe hier schon ein paar Mal über die Buben und ihr Leben fern von ihren Familien geschrieben.

Foro: Paul Senn, ca. 1940, nach der Schule gibt es Arbeit in Feld und Stall

Gestern las ich diesen Bericht im „Bund“. Zum ersten Mal berichtet ein Nachkomme, hier der Enkel, über seinen Grossvater, der Leiter einer Bernischen Knabenerziehungsheims war. (Es handelt sich nicht um „mein“ Heim, aber ich kannte diesen „Heimvater“. Die Institutionen unterschieden sich kaum.)

Als erste ausgebildete Erzieherin, noch nicht zwanzig Jahre alt, nahm ich die Stelle anfangs der 60er Jahre als „Gruppenleiterin“ an. Meine Vorgängerin, eine tüchtige Bauerntochter mit hauswirtschaftlichem Lehrjahr, hielt die Gruppe von 16 Buben kurz. Parierten sie nicht, kam der Teppichklopfer und haute ihnen eins auf die Waden. Da ich die Stelle ohne Klopfer übernahm, hatte ich es am Anfang nicht leicht, besonders, wenn ein Neuer aus einem „harten Heim“ z.B. aus der Jugendstrafanstalt Tessenberg, zu uns kam und die Gruppe samt Leiterin zu übernehmen versuchte.
Das musste ich allein regeln, denn ich vermied es, den „Vater“ zu Hilfe zu rufen.
Altersmässig stand ich den „Zöglingen“ näher, als dem Leiterehepaar „Vater“ und „Mutter, den angestellten „Fräulein“ für Büro, Nähstube, Küche, Waschküche. In dem dem Heim angeschlossenen Landwirtschaftsbetrieb gab es einen Melker, Meisterknecht, Schuhmacher. Auch diese kräftigen Mannen durften ihre Vorstellungen von Erziehung an den „Schwererziehbaren“ nach Lust und Laune ausprobieren. Eine Ausnahme war der Gärtner, welcher sich ausschliesslich mit den Pflanzen befasste und nur aufpasste, dass ihm die Beete nicht zertreten wurden.
Einmal wurden über Nacht Zettel mit Beschimpfungen an die Wohnungs- und Bürotüren des „Vaters“ gehängt. Gleich wurde ich ins Büro zitiert, denn meine mangelnde Kooperation in der Behandlung von Zöglingen war demnach aufgefallen.
Ich sah den Zettel zum ersten Mal und sagte dem „Vater“, dass ich nie so etwas gespickt mit Schreibfehlern unter die Leute bringen würde. Er meinte, dass man so etwas auch absichtlich machen könne, um die Spuren zu verwischen.
Dass ich eine so wichtige Person wurde, wurmte die Urheberin des Schreibens dermassen, dass sie sich noch am gleichen Tag beim Heimleiter meldete. Ich habe sie nie mehr gesehen.

Wie jedes Jahr frage ich mich, was wohl aus den Buben geworden ist, und ob sich vielleicht einige an den viel zu wenigen positiven Erfahrungen in ihrer Kindheit durchs Leben hageln konnten und mehr Glück hatten als Bruno.

(Farbfotos: HP. Hoffmann)