[Brief meiner Freundin und Deutschlehrerin A. ]

Frau S senior und Frau S junior

Sehr geehrte Frau X,

Ich gestatte mir, mich in Sachen der obgenannten Frauen an Sie zu wenden:

Frau S senior besucht bei mir einen Deutschkurs (Modul X). Sie selbst ist anerkannt und besitzt einen B-Ausweis für anerk. Flüchtlinge. Ihre 25 Jahre alte Tochter hingegen ist vorläufig aufgenommen und hat einen F-Ausweis. Wie mir die beiden Frauen darlegten, hat die Tochter S junior ihre Stadt zwei Tage vor ihrer Mutter verlassen, weil nämlich die jungen Leute zuerst gingen resp. sich in Sicherheit brachten und die Älteren noch zurückblieben (das ist ja nicht an den Haaren herbei gerissen, dass es sich meist so abspielt, liest man in verschiedenen Berichten über Kriegsgebiete immer wieder). In die Schweiz eingereist sind sie jedoch zusammen. Es wurde vermutlich bei der Befragung ein Widerspruch ausgemacht und die Aussagen der Tochter offenbar als unglaubwürdig qualifiziert. S senior wollte einen Rekurs einreichen, begab sich zur Rechtsberatungsstelle und bekam von dort die Antwort per Post, dass man in ihrer Situation nichts machen könne. Allerdings kam der Brief, als die Ein-sprachefrist schon abgelaufen war, gemäss Aussagen von S senior. Nun ist das nicht das Problem ihres Amtes, die Frist ist abgelaufen, die Sache fix. Mutter anerkannt, Tochter vorläufig aufgenommen.

Wie realistisch ist es, dass die Tochter je wieder, ohne nahe Verwandte (Vater verschleppt, verschollen, gestorben…. bis heute ungeklärt), in ihrem Land Fuss fassen wird? Erst recht nicht, wenn ihre Mutter hier bleiben kann als anerkannte Flüchtlings-frau. Das ist doch ziemlich absurd. Wichtig ist mir, dass Sie wissen:

Beide Frauen arbeiten in Billiglohnjobs (Küchenhilfe, Reinigungsdienst). Ich könnte auch sagen, sie rackern sich ab, sie machen beide einen gesundheitlich angeschlagenen Eindruck. Sie sind sehr darauf bedacht, möglichst selbstständig zu leben. Die Tochter ist vollkommen fürsorgeunabhängig, arbeitet an ihrer Arbeitsstelle unregelmässig und auf Abruf, springt jederzeit ein, wenn sie dazu aufgefordert wird. Darum aber kann sie keinen Deutschkurs besuchen: Weil sie erstens vorher nie genau weiss, wann sie frei hat und zweitens, weil ihr, wenn sie nicht mehr jederzeit verfügbar wäre, die Stelle gekündigt würde, zumindest hat sie Angst davor. Und ein Deutschkurs darf sie auch nicht zu viel kosten, weil ihr eben an Geld mangelt (ihr Gehalt reicht gerade für die monatl. Fixkosten). Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass S junior in ihrer Heimat das Gymnasium besucht und ein Studium der Jurisprudenz angefangen hat. Sie wirkt sehr intelligent (spricht deutsch, obwohl sie nur einen Monat einen Kurs besuchte) und ich bin mir sicher, dass sie als anerkannter Flüchtling das Beste aus ihren Möglichkeiten machen würde. Seit 4 Jahren ist sie vollkommen blockiert.

Ist es sinnvoll und wünschenswert, dass ihr Potential derart brachliegt? Ich kann mir nicht erklären, warum solche Situationen geschaffen werden. Können Sie mir dies erklären? Es kann doch nicht das Ziel sein, dass eine junge intelligente Frau, die nicht mehr von der Fürsorge lebt und sich für eine Arbeit bemüht hat, derart vor sich hin dämmt und ihre Intelligenz nicht brauchen kann. Es wirkt auf mich so, als wäre sie doppelt bestraft: Der Krieg, die Flucht (die Mutter ist anerkannt, also muss es doch Asylgründe geben!) und dann eine festgefahrene Situation wegen ihres Ausweises, in der ihr eine Weiterentwicklung total verweigert wird. Es ist meiner Meinung nach eine unhaltbare Situation und ich fühle mich als Bürgerin dieses Landes dazu berechtigt, Sie darauf aufmerksam zu machen.

Natürlich habe ich den Frauen auch geraten, einen anständigen Anwalt zu beauftragen. Allerdings: Wie sollen sie sich den finanzieren?

Ich bitte Sie mit Nachdruck um Stellungnahme.