Sa 29 Okt 2005
in dieser Nacht bekommt sie den Schlag in den Magen gegen 2:47. Nichts Ungewöhnliches eigentlich, nur eine Stunde früher, als in anderen Nächten.
Sie tappt in die Küche, schüttet die gekochten Quitten in ein Sieb und leert den Saft in die Pfanne zurück. Dann wägt sie Zucker ab, lässt während 1 Min. sprudelnd kochen, fügt den Rest des Zuckers und die Hagebutten von der wilden Rose auf dem Balkon bei. Erneutes Sprudeln, Schaum abschöpfen. Rasch füllt sie das rotklare Quittengelee in sechs Gläser ab. Die Quittenschnitze streicht sie durchs Sieb, süsst das Mus mit Rohrzucker und schüttet die Masse zum Trocknen auf eine Platte. Nun ordnet sie das schmutzige Geschirr in die Abwaschmaschine.
Draussen ist ist es immer noch dunkel. Über den beiden Lichterreihen des Hochhauses liegt der abnehmende Mond wie ein rasch hingeworfener i-Punkt.
Sie setzt sich an den Computer und klickt eine Site auf, die sie schon lange lesen wollte. Man hat sie ihr empfohlen. Sie sieht gleich, dass es für diese schlaflose Nacht das Passende ist. Viele Namen –
und dann aus der Erinnerung das Bild eines jungen Mannes mit roten Wangen und blondem Haar. Er steht auf einer Bühne in einem Schulhaussaal. In der Hand hält er stolz und etwas verlegen einen aus Kupfer getriebener Käsekessel, seine perfekte Arbeit aus dem Werkunterricht …
Ein weiteres Bild: Die Sonne scheint ins Wohnzimmer. Am Tisch sitzt die Mutter mit ihren zwei Töchtern. Alle drei weinen, denn eben ist dieser junge Mann unten an der Aare von einem Auto überfahren worden.
Das war vor zwanzig Jahren. Die Mutter ist sie selber.
In der Küche knacken die Deckel der Gelee-Gläser.
Oktober 29th, 2005 at 13:11
Liebe Mutter! Jetzt magst du gerade bei deiner Mutter sein. Ich ruf dich an, sobald ich den Kommentar abgeschickt habe. Was für einen Schlag in den Magen um Gottes Willen?
Weisst du, die besondere Glocke an meinem selbst knuzelierten Traumfänger oder die schwarzen selbst gemachten, aufgehängten Bücherregale oder der Zuckerstock von voerletztem Sylvester, alles dies Dinge eines Toten, an den ich auch oft denke. Sein Name steht auf deiner oben verlinkten Seite. Seltsam, dass ich so traurig wurde, als ich die untersten Zeilen las, ohne mich zu erinnern, wer von einem Auto überfahren worden ist. Ich denke öfter an Tote, die ich nie kannte, an den Sohn von Romy Schneider oder an den Sohn von Ursula Balzli oder an die Schwester meines Grossvaters, die als letztes vor ihrem Tod ein Spinnennetz beobachtet hat.
Oktober 30th, 2005 at 00:48
Ja, so war das damals, ich denke noch ab und zu an den toten Kupfertreiber.
Und besuche auch ab und zu diese nächtliche Site, weil ich auch so viele Geschichten kenne, die unter und hinter und zwischen den Zeilen geschrieben wurden – vom Leben eben.
Poet und Personalkommissionär geht nicht = gut. Es wäre vermessen zu erwarten, dass das „P“ allein ausreicht.
Oktober 30th, 2005 at 12:25
@2nd2nd: Ich glaube, sie schläft seit Monaten so schlecht, weil sie kurz vor ihrer Pension die Kündigung erhalten hat und der Gedanke, nach 46 Jahren Erwerbsleben, (davon 12 Jahre in der gleichen Istitution), nun stempeln gehen zu müssen, sie wach hält. Ich habe ihr vor Jahren von der Stelle in diesem Frauenarchiv abgeraten, aber sie wollte nicht auf mich hören, fand, dass sie zum Thema Frauengeschichte einiges einzubringen hätte – tat das dann auch erfolgreich. Ich selber hätte ihr diese bittere Erfahrung, ausgerechnet von vorgesetzten Frauen eiskalt abserviert zu werden, nicht gewünscht. Die Pionierinnen des Frauenrechts hatten wenigstens den Trost, von Männern so behandelt zu werden.