Sa 19 Dez 2009
Der Gärtner hatte einen Adventskranz gross wie ein Wagenrad gebunden und ihn zusammen mit einem der älteren Buben im „Spyssaal“ an die Decke gehängt. Beim Nachtessen an den Adventsonntagen durfte einer der kleinen Zöglinge dann die Kerzen anzünden. Dazu wurde der Auserwählte vom Heimleiter, von allen „Vater“ genannt, zum Kranz empor gehoben.
Das Bild von Paul Senn wurde 1944 aufgenommen. Zwanzig Jahre später sahen die schwererziehbaren Buben in den Kantonalen Heimen noch immer so aus
Am Sonntag gabs „Kaffeekomplett“, denn die Köchin, eine deutsche Riesin mit Schnurrbart, Donnerstimme und flinker Kelle, hatte ihren freien Tag. Die Knaben erhielten eine Scheibe Butter, einen Löffel Konfitüre, einen Schnifel Rindfleisch oder Speck, etwas Käse, Brot und Tee. Das Brot wurde von den Buben „Räbu“ genannt und aus einem runden Weidenkorb auf die Tische abgezählt.
„Vater“ und „Mutter“ sassen mit ihren eigenen Kindern an einem separaten Tisch, zusammen mit den Lehrern und dem Bürofräulein, welches auch regelmässig Sonntagsdienst machen musste. Sie erhielten eine „Kalte Platte garniert“, Käse, Konfitüre, Honig und Brot soviel sie mochten. An jedem der sechs Bubentische sass eine Erzieherin, die dafür zu sorgen hatte, dass die Zöglinge „anständig“ aus ihren zerkratzten Platiktellern assen. Die Erzieherinnen wurden von einem Buben bedient, der eine weitere „Kalte Platte garniert“ von Tisch zu Tisch trug. Ab und zu gab es eine junge Erzieherin, welche die kalte Sonderplatte richtiggehend plünderte und die Cornichons, Eier- und Zugenwurstscheiben blitzschnell in den nächststehenden Bubenteller legte zwecks Weiterverteilung. Pädagogisch völlig daneben, wie der alarmierte „Vater“ zu Recht die Sünderin zurecht wies.
Nach dem Essen wurde das heimische Liedgut gepflegt. In der Adventszeit „Macht hoch die Tür“, „Lasst uns froh und munter sein“, „Es ist ein Ros‘ entsprungen“, aber auch „Ach wie churzen üsi Tage“, „Wie die Blümlein draussen zittern“, „Zu Strassburg auf der Schanz“. Der „Vater“ besass ein buntes Repertoire, eine volle Stimme und die noch vollere Überzeugung, dass böse Menschen keine Lieder haben.
Im Dezember wurde dem Heim von den Firmen im Kanton auch dies und das gespendet. Zum Beispiel Schokolade von Tobler, Ovomaltine und Ovosport von Wander oder Petit Beurre und Brätzeli von Kambly. Diese Wohl-Taten verschwanden alle in den hohen Schränken des „Besuchszimmers“. Nur die Frau des Heimleiters, von allen „Mutter“ genannt, hatte dazu einen Schlüssel. Ab und zu holte sie für ihre eigenen Kinder ein Täschchen voll „Bettmümpfeli“ aus dem stets wachsenden Vorrat.
Irgendwie färbte das „Schwererziehbare“ auch auf eine junge idealistische Erzieherin ab, welche beim Plündern immer besser wurde und deshalb unentdeckt blieb. Regelmässig lagen dann auf den karrierten Kopfkissen der Buben „Bettmümpfeli“ in Form von Schoggistängeln, Mohrenköpfen, Nidletäfeli und Kamblybrätzeli.
„Gute Nahacht und schlaft schön!“
Dezember 19th, 2009 at 22:38
Ergreifend. (Und wo ist der Hut heut‘?)
Dezember 20th, 2009 at 11:02
Der Hut war ausgeliehen. Er gehörte Sigrist, dem besten Reiter unter den Buben. Die meisten Zöglinge wurden mit ihren Nachnamen angesprochen: Sigrist, Lanz, Lehmann, Hüppi, Balsiger … Nur wenige konnten sich den Vornamen sichern. Sigrist hatte in seinem früheren Leben etwas über Cowboys gehört, besass aber kein Pferd. Im Heim gabs Pferde, aber keine Cowboygeschichten. Unbeachtet von „Vater“ und seinen Getreuen, nur bewundert von den Zöglingen auf den Feldern, ritt Sigrist die Pferde des Heimleiters wie ein Teufel, denn er war „Tom, der Cowboy“.