Do 28 Nov 2013
Eine Gruppe Jugendlicher springt um mich herum, als ich gegen Mittag aus dem Tram steige. Die Knaben lachen und stossen sich gegenseitig, tragen trotz der Kälte weder Mützen noch Jacken. Dazu gehört ein dünnes Mädchen mit Brille, welches sich an dem Gejohle nicht beteiligt.
Ich: „Tschou zäme. Isch öppis? Heit dr eigentlech ke Schuel?“
Jugendliche: „Momol, mir hei e-n-Uftrag, aber mir säge nüt. Säg nüt, Tschännu.“
I: „Säget nume, was dr z’säge heit. Es lütet ja gly.“
J: „Auso, mir säges: ‚Dir sit e Schande für d’Umwält‘.“
I: „Ig, e Schand für d’Umwält?“
J: „Ja.“
I: „U de dir, was syt de dir? Späteschtens we dir de so alt sit wie-n-i, sit de dir o e Schande für d’Umwält.“
J: „Mir meine gar nid richtig öich, äs isch nume Gspass.“
I: „Das söll e Gspass sy? Wie chömet dr druuf?“
J: „Dr Äbdu het Geburtstag u het sech gwünscht, dass mir emene Erwachsene gö ga säge ‚Dir sit e Schande für d’Umwält.“
I: „Das isch em Äbduh si Geburtstagswunsch? Säget das enang nie, das isch eifach gemein. Mir macht das nüt us, i kenne Ching wi dir sit guet. I dr weute Klass sit dr?“
J: „I dr Füfte, bir Frou Käller Veronica.“
I: „Göt iz ine, süsch erfrüret dr no. Tschou zäme, es anders Mal.“
J: „Adiö, e schöne Tag no.“
Die Knaben und das Mädchen kraxeln den Hügel hinauf, hinter welchem das Schulhaus liegt. „Das isch e huere Nätti“, höre ich sie sagen.
Eine Gruppe von sieben Fünftklässlern darf den Unterricht verlassen, um auf der Strasse einer fremden Person zu sagen, sie sei eine Schande für die Umwelt, weil sich das ein Schüler zu seinem Geburtstag wünscht?
Obwohl es in meinem Umfeld von Lehrerinnen und Lehrern nur so wimmelt und ich selber Jahre in und um Schulen verbracht habe, wird mir diese Institution immer fremder.
November 30th, 2013 at 09:06
Materieller Wohlstand jenseits jeglicher Sättigungsgrenzen generiert wohl weit mehr Armut und Elend, als man gemeinhin wahrhaben will. Unabhängige empirische Studien zum Thema gesucht, aber nicht gefunden.
Ihr Umfeld kann nicht einmal viel dafür, dass die Institution Schule immer befremdlichere Züge annimmt – Lehrpersonen sind degradiert zu blossen Ausführenden – zu Hampelmännern, Hampelfrauen. Als staatliche Institution voll abhängig von politischen Entscheidungsträgern – diese verweisen zwar stets und gerne auf die „enge Zusammenarbeit mit der Lehrerschaft“, doch wer Gelegenheit hat, hinter die Kulissen dieser „Zusammenarbeit“ zu sehen, der weiss auch wieder sehr viel mehr zum Thema „Schein und Sein“, um es mal ganz dezent auszudrücken.
November 30th, 2013 at 12:49
Und diejenigen, die dann im praktischen Alltag den Schein gegen aussen wahren müssen wie die Frou Chäller Veronika, ihres Zeichens Fachfrau fürs Lernen – tja, da ist’s halt dann so wie überall bei den sog. Fachpersonen auch in andern Berufskreisen: Die einen machen’s eben ein bisschen besser, die andern ein bisschen weniger …
November 30th, 2013 at 17:21
Lieber Herr Amores,
am Blogk-Familientisch diskutieren wir in der von Ihnen dargestellten Richtung. (Es sind ja auch zwei engagierte Lehrerinnen unter uns). Frou und auch Herr Chäller sind vom Hampeln erschöpft. Sie werden nicht viel dagegen tun können, wenn ihre Klassen bald noch grösser werden, wenn ihre Pensionskasse zu Tode kommt und ihr Lohn niedriger ist/bleibt, als derjenige von ungelernten Arbeitskräften in anderen kantonalen Institutionen.
Zwar ist der Erziehungsdirektor nicht bereit – immerhin – «unsere Volksschule bis Sommer in ein Schlachtfeld» zu verwandeln (Bund, 27.11.13), aber was heisst das schon?
Was die Schülerinnen und Schüler betrifft: sie reden gerne mit mir und ich mit ihnen. Immer weniger Erwachsene mögen sich mit den Jugendlichen einlassen, dabei brauchen sie uns und seis nur, um uns zu sagen, dass wir eine Schande für die Umwelt sind.