Prunkwinde

Noch vor der Tasse Kaffee giesse ich morgens die Balkonpflanzen.
Ein Hagelschlag Mitte August spaltete die Stängel der Tomatenstauden und hackte die Triebe der Prunkwinde ab. Himmeltraurig sah das aus. Auf einem nach Westen gerichteten Balkon im 16. Stock sollte man Robusteres pflanzen. Beinahe hätte ich die Schere angesetzt. Die Pflanzen haben überlebt. Sollte es noch einige sonnige Tage geben, werden noch viele Tomaten reif und die Winde macht hoch über den Reihenhäusern ihrem Namen Ehre und mir viel Freude.
So früh wie möglich gehe ich in den Garten, giesse und hacke, binde diesen oder jenen Trieb auf, schneide dürre Zweige pflücke Bohnen und Himbeeren. Manchmal kommen die Schulkinder – darunter auch zwei meiner Enkelkinder – und essen ihre Pausenbrote unter den schattigen Bäumen.
Wann immer möglich, gehe ich morgens ins Freibad.

Heute kräuselt ein hinterhältiger Biswind das Wasser.
Die Alten haben sich auf die hölzernen Liegebänke zurückgezogen, und ich teile die 16’000 m² nur mit einem orangen Wasserball namens sunrise. Ich durchquere den Weiher, schwimme dann entlang der Olympiabahnen Richtung Sprungbecken, ziehe eine Runde ums „Inseli“. Nach vierzig Minuten des gemächlichen Kreuzens und Querens lege ich mich am „Prominentenhoger“ in die Sonne und lese die aktuelle Tageszeitung (engagierte Grossmütter informieren sich zwischen Traum umd Tag meist über den Live-Ticker ihrer handlichen Geräte). Auf dem Wasser schaukeln die ersten Herbstblätter.
Meist treffe ich dort meine Nachbarin. Vor einigen Tagen ist sie Grossmutter des 12. Enkelkindes geworden. Sie nimmt’s gelassen, kocht, backt, hütet, holt ab, begleitet, organisiert, ist da, wenn sie gebraucht wird, mischt sich nicht ein, drängt sich nicht auf. Regt man sich über etwas grüüsli auf, sagt sie: „Ach chumm, das isch doch Schnouz.“ Und tatsächlich: es wird „Schnouz“.
(Die Wintermonate verbringt sie mit ihrem Mann, einem stolzen Berber und ebenso stolzen Bethlehemer in Marokko. (Zwar gibt es jetzt eine Wasserleitung zu ihrem Häuschen, aber meist ohne Wasser).
Beim Kaffee nach dem „Schwumm“ erzählt mir der Mann meiner Nachbarin über seine Kindheit in Marokko. In der Koranschule mussten die Schüler am Schluss des Unterrichts im Chor sagen: „Ich hasse den Teufel und die Juden!“ Anschliessend wurde gemeinsam mit dem Lehrer auf den Boden gespuckt. Der Lehrer, ein Saudi, sei dann aus Marokko ausgewiesen worden, da der König keine Judenhetze duldete.
Waren das noch gute Zeiten!