Das Traktätli liegt zwischen meinen Zeitungen. Das Titelbild dieser evangelischen Schrift zeigt eine lockere Reihe junger, weisser Männer in Flip-Flops, Bermudas und T-Shirts. Sie gehen ein wenig gebeugt, als suchten sie etwas im Gras, auf ein modernes weisses Gebäude zu. Ist das ihr Himmel? Der Text nimmt keinen Bezug auf das Bild. Gutes tun und gut werden reiche nicht, um in den Himmel zu kommen, dazu brauche es die Wiedergeburt, steht auf der Rückseite.
Ups, dieses Schriftchen wirft mich in meine Kindheit zurück, als ich Sonntag für Sonntag die nachmittäglichen Laienpredigten in Bauernstuben und Vereinshäusern des Evangelischen Brüdervereins über mich ergehen lassen musste.

Wie der Vereinsname schon sagt, durften nur die Brüder „Zeugnis ablegen“ oder „Das Wort verkünden“. Männer, die sich werktags nicht scheuten, armen Nachbarn die mickrigsten Ferkel oder eine Kuh mit Eutergeschwür teuer zu verkaufen, eigene Töchter missbrauchten und schon einmal einem kleinen Mädchen unter das Röcklein griffen, predigten da von Nächstenliebe und den zehn biblischen Geboten. Keinen Platz im Himmel gebe es für die, welche Romane lesen, ins Kino gehen und Schlager hören. Frauen und Mädchen, die Hosen oder den Rocksaum höher als 30 cm über dem Boden und Stirnfransen und Pferdeschwänze, „dünne“ Strümpfe und hohe Absätze tragen, würden es auch nicht ins Reich Gottes schaffen. Schon als Kind ärgerte ich mich masslos über so viel Scheinheiligkeit, und niemals wünschte ich mir, mit solchen Männern zusammen in den Himmel kommen.
Von diesem Verein sind mir hauptsächlich ein paar „Schwestern“ in guter Erinnerung geblieben, mit schönen Singstimmen, hilfsbereit und lustig, wenn die Männer nicht in der Nähe waren.
Heute habe ich etwas in den Archivschachteln gesucht und bin auf das Buch der „Evangelisations- Heils- und Siegeslieder“ meiner Eltern gestossen. Obwohl es beinahe 60 Jahre her sind, seitdem ich die letzte „Versammlung“ (Predigt) besucht hatte, sind mir zahlreiche, zum Teil gar nicht kindergerechte Liedertexte geblieben:
Sichre Endeszeichen, sie deuten uns mit Macht, dass in allen Zonen bricht an die finstre Nacht.
Man wird viele töten, aus Bosheit und aus Neid; Scharen sind ermordet, so jäh in letzter Zeit.
Schauerliches Ahnen durchzieht das ganze Land; lange wird’s nicht währen, so steht die Welt in Brand.

Ist das ein trister Beitrag! Kein Wunder wartet er schon seit einigen Regentagen darauf, dass ich ihn veröffentliche.