Manchmal sei es schon eine Herausforderung, neben Frau Kessler zu wohnen, erzählt mir eine Freundin. Besonders die Katze der alten Frau sei eine Plage fürs Quartier, sehe aus, wie ein Löwe und miaue den ganzen Tag. Das nerve auch Frau Kessler in ihrem verrauchten Logis. Täglich beschimpfe sie das magere Raubtier: „Du dumme Kuh, du, halt endlich die Schnauze, du, sonst drehe ich dir den Hals um! Hau doch endlich ab, du Verrückte, bevor ich auch noch verrückt werde!“ So gehe es den ganzen Tag, während Frau Kessler Glimmstengel um Glimmstengel durchziehe. Die Katze sei ein Überbleibsel ihres vor einem Jahr verstorbenen Mannes. (Sie hielt die Totenwache und liess niemanden an den Leichnam heran, bis ihr ein beherzter Sanitäter einen Sack über den Kopf stülpte).
Letzthin, es war schon spät am Abend und sehr kalt, ging Frau Kessler auf der Terrasse hin und her. Sie war barfuss und nur mit einem Nachthemd bekleidet: „Simbeli, Simbeli-Büsbüsbüs“, rief sie in einem fort. „Sie sucht die Katze“, sagte meine Freundin zu ihrem Mann und zog den Mantel an. „Du wirst doch nicht das Vieh suchen helfen?“ murrte der Gatte. „Das ist eine Sache der Nächstenliebe“, meinte meine Freundin. Sie zog Frau Frau Kessler eine Jacke über und brachte ihr die Finken. Dann ging sie durchs nächtliche Quartier und sah an der erleuchteten Tankstelle die Katze hocken. Bevor diese entwischen konnte, packte meine Freundin den „Löwen“, an dem sie jede Rippe spürte und dessen struppigem Fell ein „Jon“ von Zigarettenrauch entstieg.
Noch lange hörten die Nachbarn, wie Frau Kessler ihre Katze beschimpfte: „Du blöde Kuh, ich drehe dir den Hals um…!“

In vier Jahren geht Frau Kessler ins Altersheim. Sie hofft, dass der heute 17jährige „Simbelisimbelibüsbüsbüs“ diesen Umzug noch zusammen mit ihr durchzieht.