Seelenruhig steige ich beim Zytglogge ins Tram und habe nur ein paar kräftige Gurkensetzlinge im Kopf, die ich auf dem Bärenplatz kaufen will. Plötzlich habe ich den Ausweis einer Billettkontrolleurin unter der Nase. Mit geübtem Griff lange ich in mein Spezialtäschchen im Innentäschchen der Tasche, um mein Libero-Abi zu zücken. Aber da ist nichts ausser
dem Pass
der Postautomehrfahrtenkarte
der Visitenkarte meines Kundenberaters meiner Bank
der Kundenkarte meines Optikers für brillante Brillen
dem Mitgliederausweis meiner Partei
der europäischen Krankenversicherungskarte
dem Mitgliederausweis des Mieterinnenverbandes Kanton Bern
dem 10%-Rabatt-Ausweis für Künstlermaterial bei Farbwaren Schneider
dem Gönnerausweis der Rega
der Patientenkarte des Inselspitals
der Mobi24-Notrufkarte der Mobiliarversicherung
der Blutgruppenkarte
der Punkte-Sammelkarte meiner Apotheke (10 Stempel in Form einer Mistel geben Fr. 5.- Rabatt beim nächsten Einkauf)
der Spitex-Werbekarte mit den wichtigsten Telefonnummern der Stadt Bern auf einen Blick

„Nehmen Sie sich nur Zeit zum Suchen“, ermuntert mich die Kontrollfrau. Das tue ich, lasse die Gurken buchstäblich links liegen und wühle mich durch weitere Taschenfächer bis zum Bahnhof. „Müssen Sie hier aussteigen? Haben Sie einen Ausweis?“ Ungehalten reiche ich meinen Pass, interessiert beäugt von den Umstehenden. „Peinlich ist das, hier kennt mich jeder,“ murre ich. „Das kann jedem passieren, dass er seine Fahrkarte vergisst,“ werde ich von der sportlichen Uniformierten beschwichtigt. „Nicht mir!“ wage ich in meiner Situation zu behaupten. Es dauert eine Ewigkeit, bis die Personalien in das vorsintflutliche Apparätli eingetippt sind und ein Papierstreifen „Rechnug für Fahrt ohne gültigen Fahrausweis“ sich daraus entrollt. Frau nimmt ein passend grosses Sichtmäppchen, schiebt Rechnung und Einzahlungsschein hinein, überreicht es mir wie ein Gratisgeschenk, wünscht lächelnd einen „schönen Tag noch“ und ich solle morgen nicht vor zehn Uhr mein Libero-Abi beim Bernmobil Infocenter vorweisen (Busse Fr. 5.-), denn erst dann seien meine Daten dorthin übermittelt worden.
Mein „Vorfall“, wie es auf der Rechnung steht, geschah um 12:50. Das Infocenter befindet sich einige Meter von der Tramhaltestelle Bahnhof entfernt. Die Übermittlung dauert also 21:10h. Berner haben einfach ihr eigenes Tempo und denken mit Wehmut zurück an die Meldereiter und Boten auf einem oder mehr Beinen.

Das Abonnement befand sich im Seitenfach der zweiten Tasche, die ich umgehängt hatte.