So 28 Mai 2006
An der Bushaltestelle unter der Autobahnbrücke steige ich aus und fahre mit dem Lift hinunter zur S-Bahn Station Ausserholligen (SBB/BLS). Die Lifttür ist versprayt, der Boden voller Spucke, das Licht kaputt. Hoffentlich bleibe ich darin nicht stecken, denn noch immer habe ich hier mein Handy-Abo.
Die Haltestelle ist hässlich, mit zwei zwischen Betonstützmauern eingequetschten Geleisen – ein Unort. Kein Mensch weit und breit, dafür eine Infosäule, mit Knopf und einem kleinen Lautsprecher „Hier sprechen“.
Nun rumpelt die Zugskomposition der BLS heran, wie oft an den Samstagen handelt es sich um alte Wagen, deren Besteigung einer mittelschweren Klettertour gleicht. Der Zug kommt in einer Kurve zum Stehen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um per Knopfdruck die Tür zu öffnen. Diese bleibt zu. Als ich mit meinem Gepäck bei der nächsten ankomme, setzt sich der Zug vor meiner Nase in Bewegung. Mit meinem Einkaufswagen, einer Papiertasche und einem Henkelkorb gefüllt mit Sonnenblumen und Kürbisschösslingen mache ich mich fluchend daran, das Postauto ins Dorf auf Umwegen zu erreichen. (Aus Spargründen steht dieses in einer Vorortsgemeinde und fährt seit drei Jahren nicht mehr in die Stadt.)
Um mich ein bisschen zu beruhigen, kaufe ich im Hauptbahnhof einen grossen Becher Kaffee, der nach einer vierten Hand verlangt. Den Korb hänge ich an den Arm, die Papiertasche knüpfe ich an den Einkaufswagen. Wenig unterscheidet mich nun von einer Stadtstreicherin, was die Leute nicht daran hindert, mich mit einem Auskunfstbüro zu verwechseln. (Auch auf mir völlig fremden Bahnhöfen im Ausland werde ich nach Zuganschlüssen, Klos, Postbüros, Gepäckaufbewahrung, usw. gefragt.)
Endlich, wenn auch knapp zur Zeit im Postauto angekommen, belege ich vier Plätze und geniesse den Blick auf die blühenden Bäume unter welchen sich Lamas, Wasserbüffel, schottische Hochlandrinder, Dahmhirsche und einige einheimische Kühe am Wiesenkerbel gütlich tun.
Im Dorf hat man „den Geranium“ vor die Fenster gesetzt und Fahnen und Flaggen gehisst. Auch Vater hat zum grossen Schwingfest das Haus beflaggt. Um Geranien auf den Fensterbänken mag er sich in seinem hohen Alter nicht mehr kümmern. Ich setzte kühn Begonien und Rosenstöcke aus Stoff und Plastik made in China in die Töpfe.
Der alte Mann ist froh, dass sie kein Wasser brauchen. Vor dem einzigen Gasthof des Dorfes übt die Dormusik für ihren grossen Auftritt am Abend.
Ich pflanze die Sonnenblumen und Kürbisse in den Garten, besorge die Wäsche, hole Holz und Späne ins Haus, beziehe Vaters Bett frisch, giesse die Pflanzenrabatte und die echten Blumen vor dem Haus, gebe dabei (natürlich gerne) den vorbeiziehenden Pilgern und Pilgerinnen Auskunft über den Jakobsweg, das Kloster, die Abfahrtszeiten des Postautos, das nächste öffentliche Klo (in der Martinskirche), die Namen der Alpen- und Voralpengipfel, den Wanderweg Richtung Schwarzenburg und das Atelier des bekannten Dorfmalers. Dann kaufe ich ein und bereite das Essen für den Sonntag vor.
Anschliessend steige ich unters Dach auf die Bühne, um die mittlere Fahne, die sich an einem Draht verfangen hatte, zu entwirren.
Etwas nach 17:00 Uhr steige ich wieder ins Postauto Richtung Stadt. Auf dem „grössten privaten Bauplatz der Schweiz“ pflücke ich noch einen Strauss Margeriten, „Zantihansen“, wie meine Grossmutter sie nannte. Eine Nachbarin kommt und sagt mir, dass sie hier schon lange einen Strauss pflücken wollte, es aber noch nie gewagt hätte. Ich nehme meine Kamera und fotografiere sie zusammen mit den Margeriten, die auch Gemeine oder Weisse Wucherblumen heissen.
Mit dem Gedanken, dass es diese Wiese bald nicht mehr geben wird, ziehen wir beiden Frauen etwas wehmütig vom Feld.
Aus meinem Einkaufswagen riecht es nach frischem Brot. Die Nachbarin hatte mir einen „Kornring“ hinein gelegt.
Mai 29th, 2006 at 22:27
Irgendwie scheint es unmöglich zu sein, Stadt und Land zu einer gesunden Mitte zusammenzubringen, ist vielleicht eine der Herausforderungen an uns „postmoderne“ Menschen… So wie Gefühl und Verstand, Aufklärung und Dunkelheit immer noch nicht wirklich wieder beisammen sind…
Die Fahnen finde ich an solch einem urigen und authentischen Ort sogar angebracht, während ich immer wieder ungläubig den Kopf schüttle, hängen sämtliche Patridioten an Formel1-Sonntagen ihre deutschen Flaggen wegen Schumi (auch genannt Schummel-Schumi) aus den Fenstern. Mir graut es schon vor der WM!!!
Grüße von einer Eskapismussüchtigen
Mai 30th, 2006 at 13:05
Ja, man jätet und chräblet im eigenen Gärtchen – hier wie dort – und schaut nur über den Zaun um zu kontrollieren, ob beim Nachbarn etwas wächst, was man selber unbedingt haben möchte.
Es gibt sicher in den Auen am See ein WM-freies Plätzchen für Eskapismussüchtige;-)
Mai 30th, 2006 at 22:28
Ich weiß, ich muss nur dieses glitzerstickerdindgs anheften und rufen :Hopp Swiss Hopp Swiss und nieder mit de DÜtsche!!!:-)