Di 23 Mai 2006
Ich weiss natürlich, dass Marian recht hat, wenn er schreibt, die Berichterstattung in den Medien reiche nie aus, um sich ein Urteil über ein Urteil zu bilden. Trotzdem hat mich diese Meldung im heutigen Vermischten aufatmen lassen:
St. Gallen: Eine 21-jährige in der Schweiz lebende Türkin hat nach einer Zwangsheirat, die sie nicht akzeptiert hat, Todesdrohungen erhalten. Die St. Galler Behörden nahmen ihren Vater sowie den Ehemann vorübergehend in Untersuchungshaft. Die beiden wurden inzwischen ausgeschafft.
Die Türkin habe vor rund zwei Wochen Strafanzeige wegen Drohung und Nötigung gegen ihre Eltern und ihren Ehemann erstattet, teilte die St. Galler Kantonspolizei mit. Gemäss bisherigen Erkenntnissen sei sie vor rund einem Jahr in der Türkei zwangsverheiratet worden. Nach der Rückkehr in die Schweiz habe ihre Familie von ihr verlangt, alles Nötige für die Einreise ihres Ehemannes zu veranlassen. Anfang April sei der Türke über den Familiennachzug in die Schweiz eingereist. Die zwangsverheiratete Ehefrau habe sich jedoch geweigert, die Ehe mit ihm zu leben. Darauf sei es offenbar zu Todesdrohungen von Seiten des Ehemannes sowie zu Nötigungen durch Familienangehörige gekommen.
Staatsanwaltschaft und Ausländeramt des Kantons St. Gallen hätten diese Drohungen sehr ernst genommen, zumal der Ehemann in seiner Heimat wegen eines gravierenden Gewaltdelikts vorbestraft sei. Nichtgelebte Ehen würden in fundamental-islamischen Kreisen als schwere Verletzung der Familienehre angesehen. Gewisse Kreise sähen im so genannten Ehrenmord die einzige Möglichkeit, die Ehre wieder herzustellen.
Die Staatsanwaltschaft nahm deshalb den Vater der Strafanzeigerin sowie den Ehemann in Untersuchungshaft. Die beiden wurden danach in die Türkei ausgeschafft und mit einem Verbot belegt, die Schweiz in den nächsten Jahren zu betreten. Ziel der Massnahmen sei einerseits die Sicherheit der Strafanzeigerin. Anderseits soll auch klargestellt werden, dass Verletzungen schweizerischer Rechtsnormen nicht tatenlos hingegenommen werden, hiess es.
Vor allem das mit den schweizerischen Rechtsnormen hat mir gefallen, weil mich das Thema Erziehung durch Rechtssprechung durchaus beschäftigt. Ich weiss auch aus Erfahrung, dass sich Urteile herumsprechen und sich ihre Wirksamkeit oder Unwirksamkeit potenziert, was aber kein Gericht dazu verleiten sollte, Urteile hauptsächlich als Exempel zu sprechen.
Das häufigste Beispiel für die Ignoranz des Rechtstaates betrifft wohl schon die Artikel im Zusammenhang mit Familienverhältnissen. Für eine Zwangsehe brauche ich nur vier Stockwerke runter zu gehen. Und wir kennen alle viele Frauen, die nicht einmal wissen, dass ihnen die Hälfte der Pensionskasse des Mannes gehört und die einfach alles unterschreiben. Als meine Schwester gestern eine Albanerin aus der Familie ihres Mannes fragte, wer sie zur Geburt ihres ersten Kindes begleiten würde, meinte diese trocken, ihr Mann würde sie hinfahren, aber ihr vor dem Spital einen Tritt in den Hintern geben und sie den Rest alleine machen lassen.
Endlich aus den engen, inzestuösen Tälern rausgekrochen, erlebt die urbane Schweiz ihre eigene Geschichte noch einmal. Dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Wenn die Braut der (in unserem Falle kosovarischen) Familie genehm ist, wird man verwandt. Wenn sie nicht genehm ist, dann nicht. Also ist die Schwiegermutter meiner Schwester nicht die Schwiegermutter meiner Schwester, der Schwiegervater nicht der Schwiegervater, Schwager und Schwägerin sind nicht Schwager und Schwägerin und deren Kinder Tante könnte meiner Schwester niemals sein. Kein Zivilgesetzbuch der Welt kann etwas daran ändern, das gestehen sie ganz unumwunden.
Mai 23rd, 2006 at 21:36
Heute früh habe ich diesen Artikel auch gelesen und ein unangenehm fröstelnder Schauer ist mir über den Rücken gekrochen – mit was wird die junge Frau ihren Mut bezahlen müssen?
Mai 23rd, 2006 at 22:02
Mit Freiheit?
Wenn in diesem Jahrtausend immer noch geheiratet werden muss, dann zum Glück nicht mehr die gesamte Familie. Fremde winken sich zu.
(Ich wünschte, es gäbe mehr so konsequente Urteile, bspw. in deutschen „Hauptstädten“…)
Mai 24th, 2006 at 14:03
Es könnte sein, dass das noch ungeborene Kind meines zivilgesetzlichen Schwagers eines Tages froh darum sein wird, dass ich seine zivilgesetzliche Tante bin. Wer weiss, wie sich dieses Familienverhältnis noch entwickelt?
Mai 26th, 2006 at 09:29
Nun soll, nach Erkenntnis von Soziologen und Eidg. Ausländerkommission, die „Erziehungskompetenz der Mütter ausländischer Herkunft“ gefördert und „der Zugang zu psychosozialer Unterstützung geebnet“ werden. Bereits in der pränatalen Phase müsse etwas getan werden, damit die Ungeborenen später nicht gewalttätig werden, z.B. keine Morddrohungen gegen unerwünschte Verwandte aussprechen usw. Ich bin gespannt, wie die zuständigen Stellen Kontakt zu den „schlecht gebildeten“ Müttern, die Väter sind hier nicht erwähnt, aufnehmen werden.
Mai 28th, 2006 at 16:40
neinein nicht mit Freiheit – vermutlich ganz im Gegenteil.
Da sorgen nicht nur Vater und möchtegerne Ehemann dafür – oft sind es ganze Familien die eine solche zweckgebundene Heirat befürworten oder sogar erzwingen und bei nicht erreichen ihrer Ziele, mit ganz happigen ‚Strafen‘ auflauern.
Mai 28th, 2006 at 20:17
@Rinaa: Ich versteh dich doch richtig? Du möchtest den Mut dieser Frau nicht kleinreden und weißt, dass Veränderungen Mut erfordern?
Mai 28th, 2006 at 20:45
ja genau.
Bis zur erwünschten Freiheit ist’s unter Umständen ein enorm langer und steiniger Weg. Immerhin gehören noch Mutter und Geschwister zur Familie, die nicht unbedingt mit ihr einig sind. Ganz fest hoffe ich, dass die junge Frau echte und wirkungsvolle Unterstützung erhält.
Mai 28th, 2006 at 23:08
JA GENAU
Mai 30th, 2006 at 20:05
Duuu, heute gibts den ‚Zischtigs Club‘ zu diesem Thema – bitte nicht verpassen
Gruss Rinaa
Juni 6th, 2006 at 00:53
Rinaa: Leider voll verpasst (kein TV und auch keine Aufzeichnung niergends…) Danke aber vielmal für den Tipp, ein anderes Mal schaffen wir es vielleicht.