Grauer Morgen

(07:51)

Heute Nacht habe ich von einem grossen Bus voller Schriftsteller geträumt. Er hielt an einer Strasse, vor dem Laden meiner Eltern. Ich stieg aus, weil ich hier „zu Hause“ war. Ich hatte einen Schlüssel. Kurz hatte ich Angst, er könnte nicht passen. Ich wusste, dass niemand mehr da war …

Das bin natürlich nicht ich, sondern Annie Ernaux in Erinnerungen eines Mädchens, Suhrkamp 2018, ISBN: 978-3-518-42792-7

Nachdem ich gegen 06:00 Uhr die Küchenwäsche vom Ständer genommen, sie zusammengelegt und versorgt habe, schlüpfe ich noch mal unter die Decke, um noch ein paar Seiten zu lesen. Mein Buch harmoniert bestens mit der Tristesse draussen: Nebel, der in die Häuserzeilen fällt und ein grosser, grauer Himmel. Die Geschichte ist ausgezeichnet geschrieben, aber die Erinnerungen der Autorin an ihr Leben als junge Frau sind zeitweise ziemlich verstörend und müssen von mir in Kleinstleseportionen eingeteilt werden. So mache ich mich schon bald bereit für den Tag, der ein Kleinkrähentag werden wird. Zuerst erledige ich die Post. Dann packe ich ein paar Geschenke ein für die Novembergeburtstage in der Familie. Die sehen dann schon wie Weihnachtspäckli aus.
Auf dem Balkon wird es nun auch Winter. Tomaten und Kletterpflanzen (ausser dem Efeu) sind abgeräumt. Ich reinige noch diverse Töpfe und mache einen grossen bereit für die Christrosen. Trotz allernettester Pflege und grosser Zuwendung blühte die Geranie – ihres besonderen Rots wegen gekauft – den ganzen Sommer über nicht. Erst jetzt, wo’s in den Keller gehen soll, fängt sie damit an. Ich sehe schon, wie ich als Zimmerpflanzenhasserin sie durch den Winter päpple. Immerhin hat die Fliegen-, Käferplage etwas nachgelassen und ich muss heute keine Insektenleichen entsorgen.
Gegen 10 Uhr kommt Grosses Mädchen aus dem 12. Stock. Es ist die dritte Woche krank, hat sowohl Scharlach als auch das Pfeiffersche Drüsenfieber. Immerhin verspürt das Kind heute ein bisschen Hunger und isst ein dünnes Butterbrot mit Quittenkonfi.
Zwischen Ausruhen, Trinken und Vorlesen machen wir heute etwas Mathematik, berechnen Schiffsladungen, Geschwindigkeiten, Tourenzahlen, Reichweiten von Schiffshörnern und Durchnittsgewicht von Passagieren. Die Namen der Schiffe (Gallia, Unterwalden, Schiller, Stadt Luzern, Uri) bringen uns vom Hundertsten ins Tausendste, d.h., bis mindestens zum Apfelschuss.

Nun läuten die Kirchenglocken schon das Zmittag ein. Der Hausmeister bringt Kebab mit knackigem Salat, Zwiebeln und Tomaten.

Inzwischen hat sich der Nebel verzogen.
Ich stelle ein paar Himmelsansichten der letzten Tage in den Blog. Sie erinnern mich an die Tausende von Sonnenauf- und Untergangsfotos, die früher bei Eins Festival auf die „Sonnenbank“ gelegt werden konnten.

Himmel I

Himmel II

Himmel III

Himmel IV

Himmel V

Gegen 14:00 Uhr flattert auch die jüngste Kleinkrähe zu mir. Wieder ist Vorlesen angesagt: zum 100. Mal das momentane Lieblingsbuch. Dann noch eines zur Jahreszeit passend, in welchem sich Wiedehopf von seinem Freund verabschiedet, um sich dem Vogelzug nach Süden anzuschliessen.

Zum Zvieri gibt es Äpfeln, Tomaten, Brot, Joghurt und den Rest Kebab.

Trotz Lehrplan 21, der kaum Hausaufgaben vorsieht, gibt es heute noch dieses und jenes zu üben. S. muss in der Klassenlektüre weiter lesen und das dazugehörige Dossier nachtragen. Die Erzählung handelt vom 13jährigen Brian, der einen Flugzeugabsturz überlebt und sich allein in der kanadischen Wildnis zurecht finden muss. Sicher eine spannende Bubengeschichte. Aber gefällt sie auch den Mädchen? (Die einzige Frau darin scheint die Mutter zu sein, welche einen neuen Mann hat.)
Während die Grösseren schreiben und lesen, spielt die Jüngste mit einem Tierquartett und singt dazu aus voller Kehle: „Schweines anniversaire, Schweines anniversaire …“, denn in einer Woche wird sie 3 und man kann nicht früh genug mit Lied üben anfangen. Joyeux anniversaire!

Gegen 18:00 Uhr machen sich die Kinder auf den Heimweg in den 12. Stock.
Draussen ist es bereits finster wie in einer Kuh.
Ah, am 25. November 2018 gibt es endlich die Abstimmung, auf welche ich seit mehr als acht Jahren warte!

Weitere pünktlich am 5. des Monats erschienene WasMachstDuEigentlichDenGanzenTag-Beiträge auf der Website der In­i­ti­an­tin dieser Rubrik!