Fr 2 Dez 2022
Punkt sieben Uhr früh gehen die Lichter auf der Baustelle an, leise, beinahe adventlich. Schon ist der Augenblick vorbei. Die Bagger fahren ihre Eisenrüssel aus, stossen sie in die Grundmauern des Oberstufengebäudes am Kornweg 113 und zertrümmern den Beton in handliche Brocken. Ein weiterer wühlt gnadenlos in der Wiese, schiebt den Humus zusammen. Lastwagen transportieren diesen ab und damit auch unzählige Wurzelballen von Margeriten. Als weisser Blütenteppich und Bienenparadies lagen die Blumen jeweils im Sommer zwischen der Quartierstrasse und dem Schulhaus. Wie ein riesiger Zeiger dreht sich der stählerne Arm des Krans über allem und wirft seine Schatten auf den ehemals Roten Platz. Gelbe und orange Leuchtmänner eilen zwischen Schuttmulden und Materialtürmen hin und her um zu hämmern, zu bohren, zu verlegen, zu schrauben, zu schaufeln, zu halten und zu zünden.
Wenn man in der Stadt alt wird, muss man mit Baustellen leben. In der Rubrik „Totalsanierung“ habe ich schon 33 Mal darüber berichtet.
Um sich weniger am Lärm zu stören und sein Unbehagen abzumildern, sollte man die Lärmquelle kognitiv umbewerten.
Jürgen Hellbrück, Umweltpsychologe
Um abzumildern und umzubewerten unterhalte ich mich oft mit den Arbeitern, dem Bauleiter, dem Architekten, dem Spengler, dem Elektriker, dem Brunnenbauer, den Landschaftgärtnern. Sie sind alle freundlich und geben gerne Auskunft. Ein Ingenieur will mir die besten Tomatensamen der Welt aus einem abgelegenen Dorf in Kalabrien mitbringen. Frauen sehe ich kaum. Mir scheint, dass an diesem 63,85-Millionen-Projekt, es heisst MON ONCLE, hauptsächlich Männer beteiligt sind.
Die Gemeinderat an den Stadtrat, 14.08.2019: Das Projekt wird nachhaltig geplant und realisiert. Dies gewährleistet einen energieeffizienten und unterhaltsfreundlichen Betrieb mit entsprechend tiefen Lebenszykluskosten.
Wie schädlich vier Jahre Bauzeit für Umwelt und Klima sind, davon steht im Bericht nichts. Was ich jetzt schon weiss: unterhaltsfreundlich bedeutet, etwas ist leicht zu putzen. Den Pausenplatz teerte man im vergangenen Sommer in einem freundlichen Grauschwarz. Ein Teil des Gartens wurde betoniert und mit Betonplatten versiegelt belegt. Für die Zu- und Abfahrt der Lastwagen rodete man einen Streifen Wald hinter dem Block. Dieser soll später wieder zurückgebaut und neu bepflanzt werden. Einstweilen bleibt die Erde für Monate zugepflastert.
Gegenüber reissen die Bagger in Fetzen, was ihre Zangen gerade zu greifen bekommen. Das Haus ist schon deutlich angefressen, man sieht in sein Innenleben, wie bei einem Puppenhaus, das man im Querschnitt öffnen kann.
* Finn Schlichtenmaier: Wie ich lernte, die Baustelle zu lieben in Das Magazin Nr. 47, 26.11.2022, S. 24
Baustellen sind launisch. Sie haben viele Gesichter. Manchmal, in ihren pubertären Phasen sind sie lärmig, stinkig und staubig. Und dann plötzlich wieder sauber und leise. Sie können lieb sein und gemein, rücksichtslos und sorgsam, sie können die Grüne Wende verheissen oder einen weiteren Schritt ins Verderben – oder alles gleichzeitig. Deshalb ist es zu einfach, von „der Baustelle“ zu sprechen.
* Finn Schlichtenmaier: Wie ich lernte, die Baustelle zu lieben in Das Magazin Nr. 47, 26.11.2022, S.27
Zusammen mit der Mehrheit der Berner Stimmbürger*innen habe ich am 9. Februar 2020 für die Erweiterung und Sanierung der Schulanlage gestimmt, denn wir brauchen sie dringend.
Klar, werfe ich jeden Tag mehrmals einen Blick vom Balkon im 16. Stock hinunter auf die Freiluftbühne und bin beruhigt, wenn die Schauspieler ihre Rollen beherrschen.
- Der Bericht von Finn Schlichtenmaier „Wie ich lernte, die Baustelle zu lieben“ in Das Magazin Nr. 47 vom 26.11.2022 ist wirklich ein aussergewöhnliches Lesestück!
Dezember 6th, 2022 at 17:57
Das hier ist ein ebenso aussergewöhnliches Lesestück und ein Zeitdokument für unser Quartier. Vielen, vielen Dank dafür.
Dezember 6th, 2022 at 19:26
Danke, das freut mich sehr!