So 14 Sep 2008
In strömendem Regen wird das neue Wohnquartier in Berns Westen eingeweiht. Wer schon vom ersten Spatenstich an zur Prominenz gehört, ist im Besitz eines grossen schwarzen Schirms mit dem Aufdruck „West side“ und hat deshalb nur mit dem ungeeigneten Schuhwerk zu kämpfen. Gekommen sind Interessierte aus der ganzen Stadt und der Agglomeration, um das neue Angebot an Miet- und Eigentumswohnungen zu besichtigen.
Auch die Ghetto-Bewohnerinnen und Bewohner erscheinen zahlreich, tappen mit nassen Schuhen auf dem Parkett der Musterwohnungen, schauen angewidert durch Wohn-, Schlaf- und Badezimmerfenster in die Wohn-, Schlaf- und Badezimmer des Nachbarhauses, stehen nachdenklich auf den neuen Mini-Balkonen für einen Maxi-Preis.
Ich stehe unter der tropfenden Dachplane eines Info-Standes. Neben mir gart das Zitronenhuhn des Tagine-Kochs vor sich hin. Mit Schwung schenkt er den bitter-süssen Salbeitee ins Glas, schenkt mir noch einmal nach. „Mit so einem Tee kommt man durch die Wüste,“ danke ich ihm.
Nach der der Versammlung vor mehr als einer Woche wurde es in meinem Block eigenartig still. Ich fand keine Gelegenheit, die Bewohner und Bewohnerinnen nach ihrer Meinung zur Totalsanierung zu fragen. Heute kann ich mit zahlreichen Betroffenen sprechen. Sie alle, mich eingeschlossen, sind „Wurzelkinder“, verwurzelt oft über dreissig Jahre in einem Quartier, welches bis jetzt als „Ghetto“, oft auch als „Unort“ gehandelt wurde. Hier sind unsere Kinder gross geworden, die Grosskinder geboren und hier werden die alten Eltern von ihren Kindern und Grosskindern betreut und gepflegt. Wieviel Geld der öffentlichen Hand durch solche Eigenleistungen erspart bleibt, steht leider auf keinem Blatt. Nun sind diese Menschen verunsichert und tief besorgt darüber, wie und wo sie in Zukunft wohnen werden.
Was jahrzehnte lange Quartier- und Integrationsarbeit nicht geschafft haben, geht nun mit der Sanierung und den damit verbundenen massiv höheren Zinsen ruckzuck: unsere Wohnungen werden endlich von besser Verdienenden begehrt, besonders die im 13. Stock. In der Zeitung* ist zu lesen, dass „vermehrt auch zugewanderte Deutsche den Westen Berns entdecken“.
Der Traum der „Wurzelkinder“, ihr Zuhause nur waagrecht zu verlassen, ist dahin.
Sie finden keinen Schlaf mehr und brechen auch auf offener Strasse in Tränen aus. Dass in der Veränderung eine Chance liegen könnte, ist ein fauler Trost und die Aussage des Geschäftsleiters der Wohnbaugenossenschaft, er hoffe, dass trotz der Mietzinserhöhung möglichst viele Mieter bleiben, klingt wie Hohn in den Ohren derer, die zeitlebens jedes Füfi umdrehen mussten.
Nach vielen Stunden und unzähligen „Wurzelgeschichten“ kehre ich zurück in den 13. Stock. Auch ich gehöre zu denen, die nur waagrecht hinaus wollten.
*Leider kein Link auf: Thuner Tagblatt, Do 11.Sept. 2008, S. 30
September 14th, 2008 at 18:43
Hui ui ui, heute wurde aber geputzt wie verrückt. Den ganzen Morgen fuhren die orangen Fahrzeuge der Stadt durch das neue Quartier, um es wieder blitzsauber zu bekommen.
Nur der Lift diesseits der Quartiergrenze, also der für unsereins, funktioniert noch immer nicht. Da wir jetzt kein einziges Stützli sondern nur noch Treppen haben (s. Beitrag vom Vortag) sind wir jetzt besonders fit. Oder bleiben daheim.
September 14th, 2008 at 22:46
hoi, voll depro monn! warten wir mal ab, wie die diese wohnungen am ende vermieten (können), bzw. bis. ihr habt doch schon ganz anderes überdauert – ich denke an all die unglaublichen reiseberichte und dazu gehörende randgeschichten.
vom treppensteigen werdet ihr den längeren atem haben!
September 15th, 2008 at 09:44
Liebe Lizamazo! Danke vielmal.
Dass wir jetzt depro-Bloggen ist einerseits ein Gefühl andererseits auch ein politisches Statement. Die Antithese zu Rytz, Hayoz und Tschäppät, die die letzten Tage das Quartier beehrten.
September 15th, 2008 at 10:04
Dies nennt man Natürliches Selektieren von Mietern. Wer es sich leisten kann, kann bleiben, der Rest soll selbst schauen wo er lebt. Es ist schlimm wie die Bewohner vom Gäbelbachquartier in den Medien “ vernütiget “ werden. Wie hies es im Telebärn Beitag vom Samstag: Das Unbeliebte Gäbelbachquartier.
Finde ich eine heftige Aussage. Die Frage stellt sich, von welchem Blickwinkel das Gäbelbachquartier unbeliebt ist.
September 19th, 2008 at 13:05
Liebe 1st,
als ehemalige Pultnachbarin (in den engen Altstadtmauern mit den „landestypischen“ Blumen vor dem Panorama) verweile ich immer wieder gern auf eurem Blogk und bin enttäuscht und entsetzt über eure Vermieter. Natürlich vor allem aus Solidarität mit euch, aber auch aus der egoistischen Befürchtung, dass wir LeserInnen uns dann nicht mehr an den Geschichten und Betrachtungen aus dem Westen der Stadt erfreuen dürfen.. Plant ihr denn wirklich umzuziehen? Auf jeden Fall: Alles Gute!!!
September 19th, 2008 at 21:47
Oh, Granium, ich freue mich, etwas von dir zu hören. Gerade habe ich mit der Familie gerechnet und gerechnet – wir werden sehen. Büchermenschen sind halt nur selten reich;-)
Herzlicher Gruss!