In strömendem Regen wird das neue Wohnquartier in Berns Westen eingeweiht. Wer schon vom ersten Spatenstich an zur Prominenz gehört, ist im Besitz eines grossen schwarzen Schirms mit dem Aufdruck „West side“ und hat deshalb nur mit dem ungeeigneten Schuhwerk zu kämpfen. Gekommen sind Interessierte aus der ganzen Stadt und der Agglomeration, um das neue Angebot an Miet- und Eigentumswohnungen zu besichtigen.

Neuer Wohnraum

Auch die Ghetto-Bewohnerinnen und Bewohner erscheinen zahlreich, tappen mit nassen Schuhen auf dem Parkett der Musterwohnungen, schauen angewidert durch Wohn-, Schlaf- und Badezimmerfenster in die Wohn-, Schlaf- und Badezimmer des Nachbarhauses, stehen nachdenklich auf den neuen Mini-Balkonen für einen Maxi-Preis.

Neuer Balkon

Ich stehe unter der tropfenden Dachplane eines Info-Standes. Neben mir gart das Zitronenhuhn des Tagine-Kochs vor sich hin. Mit Schwung schenkt er den bitter-süssen Salbeitee ins Glas, schenkt mir noch einmal nach. „Mit so einem Tee kommt man durch die Wüste,“ danke ich ihm.

Warmes an einem kalten Tag

Nach der der Versammlung vor mehr als einer Woche wurde es in meinem Block eigenartig still. Ich fand keine Gelegenheit, die Bewohner und Bewohnerinnen nach ihrer Meinung zur Totalsanierung zu fragen. Heute kann ich mit zahlreichen Betroffenen sprechen. Sie alle, mich eingeschlossen, sind „Wurzelkinder“, verwurzelt oft über dreissig Jahre in einem Quartier, welches bis jetzt als „Ghetto“, oft auch als „Unort“ gehandelt wurde. Hier sind unsere Kinder gross geworden, die Grosskinder geboren und hier werden die alten Eltern von ihren Kindern und Grosskindern betreut und gepflegt. Wieviel Geld der öffentlichen Hand durch solche Eigenleistungen erspart bleibt, steht leider auf keinem Blatt. Nun sind diese Menschen verunsichert und tief besorgt darüber, wie und wo sie in Zukunft wohnen werden.
Was jahrzehnte lange Quartier- und Integrationsarbeit nicht geschafft haben, geht nun mit der Sanierung und den damit verbundenen massiv höheren Zinsen ruckzuck: unsere Wohnungen werden endlich von besser Verdienenden begehrt, besonders die im 13. Stock. In der Zeitung* ist zu lesen, dass „vermehrt auch zugewanderte Deutsche den Westen Berns entdecken“.
Der Traum der „Wurzelkinder“, ihr Zuhause nur waagrecht zu verlassen, ist dahin.
Sie finden keinen Schlaf mehr und brechen auch auf offener Strasse in Tränen aus. Dass in der Veränderung eine Chance liegen könnte, ist ein fauler Trost und die Aussage des Geschäftsleiters der Wohnbaugenossenschaft, er hoffe, dass trotz der Mietzinserhöhung möglichst viele Mieter bleiben, klingt wie Hohn in den Ohren derer, die zeitlebens jedes Füfi umdrehen mussten.
Nach vielen Stunden und unzähligen „Wurzelgeschichten“ kehre ich zurück in den 13. Stock. Auch ich gehöre zu denen, die nur waagrecht hinaus wollten.

*Leider kein Link auf: Thuner Tagblatt, Do 11.Sept. 2008, S. 30