Obwohl die Tür des Grossen Saales erst um 19 Uhr göffnet werden soll, warten davor schon zahlreiche Mieterinnen und Mieter. Eine alte Frau ist auf dem Vorplatz gestolpert und wird nun von ihren Nachbarn aus der Pfütze wieder auf die Beine gestellt. Es regnet in Strömen, ab und zu rollt der Donner über die Dächer. Alle sind gekommen, um sich über die bevorstehende Totalsanierung unseres Blocks informieren zu lassen. Aufgereiht auf der Bühne sitzen bereits die Fachmänner (Fachfrauen sind nicht vorhanden) für Haustechnik, Betonsanierung, Architektur, Verwaltung, dazu ein junger „Trübel“ mit schmalen Schultern, welcher für sämtliche „Mieterangelegenheiten“ während der zweijährigen Bauphase zuständig sein wird.
Der Redner macht dem eifrigen Getuschel des Publikums ein Ende, indem er den dröhnenden Lärm einer Kernbohrung auf Band abspielt. Zügig und solange das angebohrte Publikum noch Ruhe behält, wird nun powerpointunterstützt „ehrlich und offen“ informiert: Küche elektrisch mit Glaskeramikherd und Geschirrspüler (Klatsch, klatsch von den Hausfrauen). Dann folgt ein (ehrliches) Bild von einer herausgerissenen Küche. Dieser Zustand wird mindestens 5 Wochen andauern: deshalb Verpflegung bei Freunden organisieren, evtl. Abgabe von Kochplatten durch den Hauswart. Anschliessend Bad/Dusche geplättelt (Klatsch, klatsch von den Hausfrauen): Duschen und Bislen im abschliessbaren Kontainer vor dem Block. Herr Meise aus dem Publikum hebt seine Krücke und ruft, dass er pro Nacht mindestens dreimal müsse. Der Redner bittet um Ruhe und rät, die Ferien so zu planen, dass das Bislen in den Griff zu bekommen sei. Eine Attikabewohnerin in den hinteren Reihen verlangt eine Terrassensanierung – Teeren statt Verbundstein, damit kein Unkraut durchstösst.

Sämtliche Böden, auch die vor Kurzem erneuerten, werden rausgerissen und mit Parkett belegt, Fenster, Rolläden, Öfen, Wohnungstüren, Lifte, sämtliche Rohre, die Lüftung werden dem neuesten Stand angepasst. Die Arbeiten beginnen um 7 Uhr morgens und enden um halb sechs abends, Samsstagsarbeiten nicht ausgeschlossen, das zwei Jahre lang. 2011 werden noch die Parkplätze, die Durchgänge und das Kehrichthaus saniert.
Eine Frau wagt es zu fragen, weshalb in den vergangenen vierzig Jahren der Block so vernachlässigt und nicht regelmässig „etwas“ gemacht wurde. Wir könnten froh sein, dass nicht alle dreihundert Wohnungen gekündigt werden und wir bleiben dürften, versucht der Redner dem Unmut im Publikum Herr zu werden. Nun kommt er zum wichtigsten Punkt: der Mietzinserhöhung. Sie wird 60% des Nettomietzinses betragen!
Die Minute danach kann ich nicht beschreiben.
Bezeichnend ist, dass die Sozialarbeiter des Quartiers, die bei diesem Anlass dabei sein sollten, „gerade im Ausland weilen“.
Der Redner spricht nun von Wertvermehrung, welche die Mieter berappen müssten, dass alles Rechtens sei und man in den nächsten Tagen auch mit dem Mieterverband Kontakt aufnehme. Das ganze Quartier so nah an West-Side werde aufgewertet, das sei doch nur zu unserem Besten. Es werde ausserdem abgeklärt, ob die Kündigungsfristen nicht verkürzt werden könnten, um den Leuten den Auszug zu erleichtern.
Was wäre eine solche Misere ohne die Quartieroptimistin? Sie steht auf, wendet sich dem Publikum zu: „Liebi Froue u Manne, i bitte öich um es Bitzeli Toleranz. Die Manne da obe mache nume iri Arbeit.“ Sie macht mit Daumen und Zeigefinger vor, wie viel Toleranz sie haben möchte. Nach der Veranstaltung legt sie mir die Hand auf den Arm und meint:“Wir müssen es bitzeli Gottvertrauen haben.“
Das wird sie brauchen, denn der Mietzins wird bald mehr als einen Drittel ihres Familieneinkommens betragen. Gott werde helfen und ihr genügten, wie seit immer, Kuba-Ferien (Kueche/Balkon). Der Präsident des Quartiervereins ist besorgt, spricht von einer unerfreulichen gesellschaftlichen Entwicklung, die unsere Verwaltung nicht aufhalten könne.
In der Nacht sehe ich das neue Quartier mit den neuen Menschen vor mir. Alles ist Keramik, Parkett, gestrichen, gesichert gegen Brand und Diebstahl. Die Schule ist gut, denn nun wohnen hier nur noch Eltern, die sich um ihre Kinder kümmern.
Sie machen Wellness im West-Side und endlich ist die Vision meiner Partei Wirklichkeit geworden: Das Quartier ist ein „In-Quartier“ und es ist chic, hier im Prenzlauerbach zu wohnen, und vom 13. Stock gibts dann meinerseits nichts mehr zu berichten.