An diesem Wochenende widme ich mich einigen Altlasten. Gut, dass ich dazu heute nur noch Kehrichtsäcke brauche. Steuer- und Bankbelege auf vergilbtem Papier werden rübis und stübis entsorgt. Anders ist es mit den umfangreichen Unterlagen zu einem „Unternehmen“, auf welches ich mich vor 15 Jahren einliess. Ich lese alles noch einmal durch, bevor ich den grössten Teil davon auch in den Abfallsack stopfe und Dateien lösche.
Diesen Beitrag schreibe ich zum heutigen Internationalen Frauentag und als kurzen Rückblick für die jüngeren Familienmitglieder.

Als man Ende der 90er Jahre hier in der Schweiz noch nicht wusste, was mit unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen zu tun ist – weiss man es heute? – nahm ich ein junges Mädchen auf.

L., ca. 15 Jahre alt, hat eine fünfjährige Flucht aus einem Kriegsland im Nahen Osten hinter sich, und es gibt kaum eine Grausamkeit, die ihr fremd ist. Zusammen mit ihrer Mutter und deren Freund kommt sie nach Aufenthalten in mehreren europäischen Ländern in die Schweiz. An der Grenze geben sich die drei als Familie aus und erhalten in einem Asylzentrum in der Nähe von Bern ein kleines Zimmer. Für das „Kind“ ist dies eine unerträgliche Situation, da die „Eltern“ hauptsächlich mit sich selber beschäftigt sind.
Meine Tochter lernt das Mädchen in einem Ferienlager kennen. L. erzählt, dass ihr leiblicher Vater und ihre vier Geschwister im Kriegsland geblieben seien, und dass sie dieses Geheimnis niemandem verraten dürfe.
Später vernehmen wir dann, dass die Mutter vorhabe, in einem Lastwagen schwarz nach England zu kommen, da es dort den Flüchtlingen finanziell besser gehe als in der Schweiz. (Der angebliche Vater hat sich mit dem Fürsorgegeld von „Frau“ und „Tochter“ zu dieser Zeit bereits aus dem Staub gemacht.)
Nach England will L. auf keinen Fall. Ihr Gesundheitszustand ist so miserabel, dass eine weitere Flucht in einem Lastwagen nicht in Frage kommt.
Tatsächlich gelingt es der Mutter, innerhalb von zwei Tagen, ohne Papiere London zu erreichen.

Als UMA, unbegleitete minderjährige Asylsuchende, kann L. nicht mehr in der Asylunterkunft bleiben. Sie bittet uns, sie aufzunehmen. Berns zuständige Behörden arbeiten speditiv. In Familien mit viel Platz, Zeit, Geld und Haustier gibt’s nicht die geringste Nachfrage nach geflüchteten, kranken Mädchen – und im Handumdrehen habe ich eine Pflegetochter.
Die Liste der Schwierigkeiten und Probleme, die auf die ganze Familie zu kommen, ist lang:
Wir beginnen mit der Gesundheit und starten mit Babynahrung. Nachts lassen wir das Licht an, aber ohne die Unterstützung von Ärztin, Psychologin, Zahnärztin geht es nicht. Ich kläre die Finanzierung ab, auch die für Kranken- und Unfallversicherung. L. braucht warme, passende Kleider und Schuhe, ein Abonnement für den öffentlichen Verkehr. Der Schulstoff von mehreren Jahren muss nachgeholt werden, die Lücken scheinen endlos. Immer wieder gibt es Befragungen durch das Bundesamt für Migration. Wird das Mädchen in ein anderes europäisches Land abgeschoben oder kann es bleiben? L. bekommt nach einem N- einen F-Ausweis für vorläufig Aufgenommene.
Die Mutter ruft ständig aus London an, die Tochter müsse zu ihr kommen, da Mütter mit Kindern finanziell und unterkunftsmässig Vorteile hätten, usw. Sie droht ihrer Tochter, dass sie jemanden in die Schweiz schicken würde, der sie abhole.

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