Sollte ich „im Ausland“ in finanzielle Schwierigkeiten geraten, müsse ich es sagen und er werde ein Rindli verkaufen, meinte mein Vater beim Abschied.
Mit dieser Reiseversicherung machte ich mich vor vierzig Jahren auf den Weg nach Osten. Einen sperrigen Überseekoffer mit Blechbändern verstärkt hatte ich schon nach Marseille voraus geschickt. Bis dahin war meine weiteste Reise die nach Lausanne an die Expo gewesen.
Nun nahm ich den Nachtzug ab Bern und wurde im Couchette-Wagen über die Grenze das Rhonetal hinunter gerüttelt. Morgens um vier Uhr war es im Bahnhof von Marseille kalt und leer. Ich setzte mich in ein Café. Mein Schiff sollte erst am Nachmittag ablegen. Ein Problem, das ich bis dahin noch zu lösen hatte, war der Riesenkoffer, den ich irgendwo in diesem Riesenhafen aus einem Lager holen und an Bord bringen musste. Im Café war es düster. Fremde Stimmen, die so ganz anders klangen als im Französischunterricht, umschwirrten mich. Ein bisschen benommen sass ich, angetan mit einer weissen Bluse und einem Faltenrock, inmitten der rauchenden Bahnarbeiter. Nach und nach füllte sich das Lokal. Fremde Frauen und Männer setzten sich an meinen Tisch, begrüssten mich, als hätte ich auf sie gewartet. Sie sprachen ungarisch, deutsch, holländisch, englisch, jiddisch, eine Sprache die ich zuvor noch nie gehört hatte. Namen wie Paul Grüninger und Carl Lutz fielen. Zum Erstaunen meiner TischgenossInnen waren mir die beiden unbekannt. So erhielt ich im Bahnhof von Marseille eine längst fällige Geschichtslektion aus erster Hand.
Gegen Mittag brach man auf Richtung Hafen. Taxis wurden organisiert, jemand übernahm die Papiere für meinen vermaledeiten Koffer.
Die Sonne schien und es blies ein kalter Wind. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich das Meer, unglaublich weit und blau wie ich es mir nie vorgestellt hatte. Neugierig betrat ich das wunderschönste Schiff, das ich je gesehen hatte: die „Moledet“. So war das erste Wort, das ich lernte „Heimat“.
Als am fünften Tag der Reise Haifa in Sicht kam, drängten sich die Passagiere an Bord, viele Einwanderer weinten vor Freude.

Anfangs der 70er Jahre wars mit den Passagierschiffen dann vorbei. Seit mehr als 30 Jahren besitzt die ZIM Line nur noch Containerschiffe.
Ein ZIM-Container bildet jeden Sonntag die Kulisse in der Sendung „Sternstunde“ (SRF) Philosophie, Religion, Kunst. In seiner rostbraunen Farbe erinnert er mich immer an mein mit Blech beschlagenes Koffer-Monstrum von damals.