Fr 1 Sep 2023
Zuerst müsse er beten, erklärt der Mann und legt den Gebetsteppich in unserem Gemeinschaftraum aus – mehr gegen Süden, als gegen Osten?
Aber einer wie er kennt die Himmelsrichtungen besser als wir. Unterdessen berichtet der Hausmeister seiner Familie im 12. Stock, dass er überraschend einen späten Gast aufgenommen habe. Kissen, Decke und Essen werden bereit gemacht.
Der Fremde hat einen besonders anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Mit seinem 17 Meter langen Lastwagen, voll beladen mit Tannenbrettern für unsere Baustelle, kommt er heute aus Österreich. Das härteste Stück des Weges wartet am Ende seiner Fahrt auf ihn: Manöverieren des schweren Fahrzeugs durch die engen Quartiergassen von Bern West. Nur ein Profi schafft das. Dann hält er gegen 21 Uhr neben dem längst geschlossenen Bauplatz.
Zum Glück – könnte man sagen – hat sich Kleinesmädchen das Knie beim Spielen aufgeschürft. Sein Vater, der Hausmeister, eilt auf den Platz vor dem Schulhaus, kommt mit Pflaster und Spray zu Hilfe. Auf einen Blick erfasst er dabei auch die Notsituation des LKW-Fahrers. Als erstes hilft er diesem, das Fahrzeug sicher zu parkieren. Valiullah kommt aus Usbekistan, spricht Russisch und Usbekisch, nur wenig Deutsch. Guugels helfen beim Übersetzen. Der Hausmeister verspricht dem Verspäteten, ihm am nächsten Tag bei der Suche nach dem Zuständigen und der Auslieferung der Bretter zu helfen, denn am Bau sind über 50 verschiedene Unternehmen beteiligt. Er lädt den Fahrer zum Übernachten in den Block ein. Valiullah kann diese gute Nachricht seinem Vorgesetzten im fernen Tirol mitteilen.
Zuerst ist es Zeit fürs Gebet und dann endlich auch fürs Essen und Schlafen.
Am nächsten Morgen liefert Valiullah sein Holz ab. Es wird vom Kran gleich an die richtige Stelle auf dem Platz befördert.
Nun kann der Fahrer sich duschen, bekommt aus dem vielseitigen Fundus des Hausmeisters frische Kleider, bis die schmutzigen in Waschmaschine und Tumbler ihre Runden gedreht haben.
Anschliessend machen sich die beiden Männer auf den Weg ins nahegelegene türkische Restaurant. Valiullah spricht auch Türkisch. Bei „Nemruts Döner-Teller“ mit Salat und Joghurtsauce wird „nid gschmürzelet“ (gegeizt). Der Gast strahlt übers ganze Gesicht und geniesst das Essen.
Solche Begegnungen sind immer ein Geben und Nehmen. Wir hören etwas über das Leben eines Gastarbeiters und seiner Familie aus Usbekistan. Wie es ist, acht Monate 6’000 Kilometer von Frau und Kindern getrennt zu sein, dann für zwei Monate daheim in Samarkand zu verbringen. Und das über Jahre hinweg, bis alle sechs Kinder die Schulen abgeschlossen haben und hoffentlich eine Arbeit in ihrer Heimat finden werden. Der älteste Sohn ist bei der staatlichen Öl- und Gasförderungsgesellschaft angestellt.
Schweizer Strassen, meint Valiullah, seien sehr gefährlich. Nein, nicht weil sie zu eng wären. „Man fährt wie auf Samt und kann leicht einschlafen. Die Schlaglöcher auf den Strassen durch Zentralasien halten einen wach.“
Familie Blogk verabschiedet sich herzlich vom Gast. Der Hausmeister gibt ihm noch ein paar Schachteln Popcorn mit auf die Reise. Mais in dieser Form kannte unser neuer Freund noch nicht und ist davon begeistert. Gute Fahrt!
Solche kleinen Geschichten erleichtern uns die vierjährige Nachbarschaft mit einem Bauplatz. Sie helfen uns, die Bautätigkeiten vor unserer Nase unseren Ohren/Augen/Balkonen kognitiv umzubewerten, wie es der Umweltpsychologe Jürgen Hellbrück empfiehlt.
September 3rd, 2023 at 07:19
Ein wunderbares Beispiel dafür, dass man auch ohne eine Woche Urlaub und Flugticket etwas aus dem Alltag ausschwenken, bereichernde Begegnungen knüpfen und andere Kulturen kennenlernen kann! Manchmal werden einem Erlebnisse vor die Haustüre gefahren. Ein grosses Lob an den Hausmeister für die Offenheit, seinen Einsatz und die Gastfreundschaft.
September 3rd, 2023 at 08:06
Danke, liebe Yael, ich werde das Lob dem Hausmeister gerne ausrichten. Er wird sich darüber freuen.
Das gute Zusammenleben in einem so grossen Block mit BewohnerInnen aus vielen Ländern hängt sehr vom Hausmeister ab und von seiner Familie, die mithilft, die Türen offen zu halten. Herzliche Grüsse übers Meer!
September 3rd, 2023 at 10:04
Die Turksprachen wie Usbekisch oder Aserbaidschanisch sind sehr nah am Türkischen dran. Hier können sich die Juden aus Usbekistan und Aserbaidschan gut mit den türkischen Migranten verständigen und sind eine Brücke zur türkisch-muslimischen Community.
September 3rd, 2023 at 12:54
@ N. Aunyn: Herzlichen Dank für die hoch interessante Information! Es wird höchste Zeit, dass ich mich mit der Geschichte der Juden in Zentralasien befasse. Einen schönen Sonntag.
September 4th, 2023 at 11:16
Was für eine schöne Geschichte über Gastfreundschaft! Wo hätte der Fahrer denn sonst geschlafen? Das interessiert mich – manchmal haben sie ja Schlafkojen hinter den Sitzen, aber wie organisieren sie das Kochen und was ist mit sanitären Einrichtungen? Sehr hübsche Beschreibung der Schweizer Strassen 🙂
September 4th, 2023 at 16:43
Liebes Granium, ich habe tatsächlich die Geschichte etwas gekürzt. Hier ein paar, hoffentlich klärende Details:
Der Fahrer wäre im LKW geblieben, allerdings wohl schlaflos. Da die engen Quartiersträsschen inzwischen beidseitig zugeparkt waren mit den Autos der Bewohner*innen im Feierabend, war für Valiullah kein Durchkommen. Zudem war sein Gefährt ein Hindernis für eventuelle Notfalldienste oder für Leute, die früh morgens wegfahren müssen. Ganz sicher hätte jemand die Polizei gerufen.
Der Hausmeister öffnete mit seinem Schlüssel die Sperrpfosten zum Pausenplatz, damit der LKW gewendet und am Strassenrand parkiert werden konnte.
Wäre Valiuallh während der Arbeitszeit zur Baustelle gefahren, hätte er auch ein Problem bekommen. Sein Navi wusste nicht, dass der Haupteingang zur Schulanlage seit zwei Jahren aufgehoben ist. Sämtliche Transporte führen seither über spezielle Zufahrten in Einbahn! (Dafür wurde sogar ein Streifen Wald gerodet.) Am nächsten Morgen konnte der Hausmeister veranlassen, dass Valiullah in die falsche Richtung der Einbahn zur Baustelle fahren durfte.
Nun kam die Suche nach dem Zuständigen, der die Holzladung bestellt hatte. Es dauerte einige Zeit, bis der Schreiner gefunden werden konnte. Ein Problem gab es mit dem Entladen der Bretter. Der Kran war den ganzen Tag ausgebucht. Die Betonmischer waren da und die Betonwannen mussten pausenlos transportiert werden. Ausserdem war der Kranführer in den Ferien. Sein Stellvertreter, ein bisschen gestresst, lenkte den Kran mit dem Funkgerät vom Boden aus und war von einem, der dazwischenfunken wollte nicht begeistert. Schliesslich klappte alles. Gegen 15 Uhr machte sich Valiullah auf den Rückweg. Einen Tag später schrieb er eine Nachricht, dass er gut im Tirol angekommen sei und herzlich für alles danke.
Zu sagen ist, dass es hier im Block viele Geschichten der Gastfreundschaft und der gegenseitigen Hilfe gibt. Ich kann sie halt nicht immer erzählen, weil sie zu persönlich sind und sie die Farbe verlieren würden, nähme man ihnen das Persönliche.
September 6th, 2023 at 09:53
Danke vielmals für die Erläuterungen. Das braucht schon Nerven als Fahrer*in, wenn man sich immer wieder an fremden Orten orientieren muss, keine Ansprechpersonen findet, irgendwo übernachten soll, bzw. die ganze Nacht wach bleiben.. Das letztere finde ich risikoreich, er wäre ja dann quasi ohne Schlaf zurückgefahren. Also habt ihr auch noch was für die Sicherheit auf der Strasse getan. Gestern hat mir jemand erzählt, dass sie fast mit einer anderen Fahrerin kollidiert wäre, die in einen Sekundenschlaf fiel. Allgemein finde ich es schön, dass ihr auch im Alltag und in der Nachbarschaft viele schöne Geschichten gegenseitiger Unterstützung erlebt. Schade, dass sich viele Nachbar*innen hierzulande z Leid wärche. Wir geniessen den freundlichen, hilfsbereiten, entspannten Umgang in unserer neuen Wohnbaugenossenschaft auch sehr.