Zuerst müsse er beten, erklärt der Mann und legt den Gebetsteppich in unserem Gemeinschaftraum aus – mehr gegen Süden, als gegen Osten?

Aber einer wie er kennt die Himmelsrichtungen besser als wir. Unterdessen berichtet der Hausmeister seiner Familie im 12. Stock, dass er überraschend einen späten Gast aufgenommen habe. Kissen, Decke und Essen werden bereit gemacht.

Der Fremde hat einen besonders anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Mit seinem 17 Meter langen Lastwagen, voll beladen mit Tannenbrettern für unsere Baustelle, kommt er heute aus Österreich. Das härteste Stück des Weges wartet am Ende seiner Fahrt auf ihn: Manöverieren des schweren Fahrzeugs durch die engen Quartiergassen von Bern West. Nur ein Profi schafft das. Dann hält er gegen 21 Uhr neben dem längst geschlossenen Bauplatz.

Zum Glück – könnte man sagen – hat sich Kleinesmädchen das Knie beim Spielen aufgeschürft. Sein Vater, der Hausmeister, eilt auf den Platz vor dem Schulhaus, kommt mit Pflaster und Spray zu Hilfe. Auf einen Blick erfasst er dabei auch die Notsituation des LKW-Fahrers. Als erstes hilft er diesem, das Fahrzeug sicher zu parkieren. Valiullah kommt aus Usbekistan, spricht Russisch und Usbekisch, nur wenig Deutsch. Guugels helfen beim Übersetzen. Der Hausmeister verspricht dem Verspäteten, ihm am nächsten Tag bei der Suche nach dem Zuständigen und der Auslieferung der Bretter zu helfen, denn am Bau sind über 50 verschiedene Unternehmen beteiligt. Er lädt den Fahrer zum Übernachten in den Block ein. Valiullah kann diese gute Nachricht seinem Vorgesetzten im fernen Tirol mitteilen.

Zuerst ist es Zeit fürs Gebet und dann endlich auch fürs Essen und Schlafen.

Am nächsten Morgen liefert Valiullah sein Holz ab. Es wird vom Kran gleich an die richtige Stelle auf dem Platz befördert.

Nun kann der Fahrer sich duschen, bekommt aus dem vielseitigen Fundus des Hausmeisters frische Kleider, bis die schmutzigen in Waschmaschine und Tumbler ihre Runden gedreht haben.

Anschliessend machen sich die beiden Männer auf den Weg ins nahegelegene türkische Restaurant. Valiullah spricht auch Türkisch. Bei „Nemruts Döner-Teller“ mit Salat und Joghurtsauce wird „nid gschmürzelet“ (gegeizt). Der Gast strahlt übers ganze Gesicht und geniesst das Essen.

Solche Begegnungen sind immer ein Geben und Nehmen. Wir hören etwas über das Leben eines Gastarbeiters und seiner Familie aus Usbekistan. Wie es ist, acht Monate 6’000 Kilometer von Frau und Kindern getrennt zu sein, dann für zwei Monate daheim in Samarkand zu verbringen. Und das über Jahre hinweg, bis alle sechs Kinder die Schulen abgeschlossen haben und hoffentlich eine Arbeit in ihrer Heimat finden werden. Der älteste Sohn ist bei der staatlichen Öl- und Gasförderungsgesellschaft angestellt.

Schweizer Strassen, meint Valiullah, seien sehr gefährlich. Nein, nicht weil sie zu eng wären. „Man fährt wie auf Samt und kann leicht einschlafen. Die Schlaglöcher auf den Strassen durch Zentralasien halten einen wach.“

Familie Blogk verabschiedet sich herzlich vom Gast. Der Hausmeister gibt ihm noch ein paar Schachteln Popcorn mit auf die Reise. Mais in dieser Form kannte unser neuer Freund noch nicht und ist davon begeistert. Gute Fahrt!

Solche kleinen Geschichten erleichtern uns die vierjährige Nachbarschaft mit einem Bauplatz. Sie helfen uns, die Bautätigkeiten vor unserer Nase unseren Ohren/Augen/Balkonen kognitiv umzubewerten, wie es der Umweltpsychologe Jürgen Hellbrück empfiehlt.