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git’s Meiländerli-Teig.

Eugen Sorg hat einen guten Artikel über das Leben im Ponte Tower in Johannesburg geschrieben, den wir Blogk-Leserinnen und -Lesern (mit und ohne Südafrika-Interesse) ans Herz legen.

Wohnblöcke, die der Unterschicht ein Zuhause bieten, haben weltweit Gemeinsamkeiten, auch wenn die Unterschicht nicht in jedem Land gleich arm ist.

Das vernichtende Urteil der Aussenwelt, der allgegenwärtige Rassismus, die Loyalität der Bewohner mit ihrem Quartier, die Selbstmörder, das Abfallproblem und andere Herkulesaufgaben für den Hauswart – das gehört überall zur Blockgesellschaft.

Sein Vorgänger hat den neuen Hauswart als „Papiirlischwyzer“ beschimpft, ihn wegen seiner Herkunft beleidigt, ihm Zettel mit „deutsche Sprach, schwere Sprach“ zukommen lassen, das Treppenhaus extra verschmutzt, absichtlich Abfall verteilt, die Bewohnerinnen und Bewohner aufgehetzt, eine Petition zu seiner Entlassung vom Zaun gerissen, eine Umfrage durch die Verwaltung erpresst. Nur weil unsere Familien daran gewöhnt sind, unwillkommen zu sein, weil Flucht, Verdingung und Verstossenwerden seit Generationen zur Geschichte gehören, hatten meine Schwester, ihr Mann und die Kinder das nötige Rüstzeug um durchzuhalten und diesen Kampf innerhalb von drei Jahren für sich zu entscheiden. Jetzt gibt es meines Wissens keinen einzigen Blockbewohner mehr, der sich den alten Hauswart zurück wünscht.

Nun ist er sowieso tot, der Ehemalige. Der aktuelle Hauswart, 2nd2nd, male, war erstaunlicherweise an die Beerdingung eingeladen. In seinem schönsten Anzug ist er hingegangen. Und hat dabei einen weihnachtlich-christlich-versöhnlichen Eindruck hinterlassen, was von der Verwandtschaft und besonders von der Witwe aufs Herzlichste verdankt worden ist. Letztere entblödete sich vorher nie, lauthals Rassenmerkmale an Albanern auszumachen, das gehörte in ihr Standartrepetoire „die-sollen-doch-heim-die-passen-mit-ihren-Grinden-doch-nicht-hierhin“. Aber wie es so geht im Leben besonders dummer Menschen: Hass und Selbsthass, Ab- und Zuneigung liegen nahe beieinander. Die Ex-Hauswartin ist heute sichtlich erleichtert, den Ex-Hauswart los zu sein und ihrer Affäre mit einem albanischen Familienvater viel ungestörter nachgehen zu können.

Hausmeisterhilfe

Vielleicht ist es völlig normal, dass man einen so guten Schwager kriegt, wie ich ihn habe. Zum Beispiel putzte er uns heute sämtliche Fenster, nahm mir damit eine grosse vorweihnächtliche Haushaltbürde ab und brachte erst noch bis zum letzten Lappen alles selber mit. (Aber das ist lange nicht das Einzige. Mir erscheint vieles, was er hier leistet, aussergewöhnlich.)

Blogk macht dies‘ Mal Abstimmungsempfehlungen, wir haben uns für und gegen einiges persönlich engagiert:

Stadt Bern:
Budget: JA, dann halt.

Kanton Bern:
Stimmrechtalter 16: JA, unbedingt!

Schweizerische Eidgenossenschaft:
Bundesbeschluss Spezialfinanzierung für Aufgaben im Luftverkehr: Stimmfreigabe.
Volksinitiative für ein Verbot von Kriegsmaterial-Exporten: JA, auf jeden Fall.
Volksinitiative gegen den Bau von Minaretten: NEIN, nie im Leben!

Eine von mir hoch geschätzte, oft gekaufte und verschenkte Zeitschrift wie das Lettre International liess den Bankvorsteher Herr Sarrazin eine Vorlesung halten, anstatt ihn kritisch zu interviewen. Damit nicht genug, die Redaktion stellte den Ausführungen im ganzen übrigen Themenheft „Berlin“ auch nichts Brauchbares entgegen. Keinen Bericht zum Beispiel über die grenzenlose, niederschwellige und wegweisende Jugendarbeit, die in Berlin häufig und mit geringen Mitteln gemacht wird. (Unser Quartier profitiert von der Einwanderung berlinerischer Sozialarbeiter „mit Migrationshintergrund“, die verdammt gut mit Rückschlägen umgehen können und die hier bei den Indigenen des Quartiers wie auch den Migrantinnen und Migranten hohe Akzeptanz geniessen.) Nun muss ich also auch noch damit leben, dass offenbar viele Sarrazins Äusserungen gut fanden.

Ich bin die erste, die Probleme in der Integration anspricht, die sich unbeliebt macht bei den Zugewanderten, die mehr Sonderbehandlung möchten, bei den Alt-Sozialisten, die so manche Verordnung für ungerecht oder gar rassistisch halten, bei den Stammtischgängern, die einfach mal draufhauen wollen, beim Steuerzahler, der sich vom Fremden und Anderen immer und ewig geplündert fühlt.

Aber Pauschalisierungen schaffen Ungerechtigkeit. Und Pauschalisierungen in den Medien sind Gift. Nur gehört das heute offenbar zum Geschäft, immer mit der Begründung, dass es gefragt und alles Differenzierte so teuer sei. Medien, die Gegensteuer geben, werden wenig beachtet. Nun braucht also sogar die von der Intelligenzia der Friedensbewegung mit Elan, Herzblut und Gemeinsinn gegründete Kulturzeitschrift den „Kampf der Kulturen“ für ihre Auflage.

Als Antwort der pauschal Verurteilten können wir den Tastaturschlag in die Fresse lesen (danke, kaltmamsell). Gegen den moralischen Zerfall der Politik und Medien in Integrationsfragen müssen wir jedoch alle selber argumentieren und schreiben und – in der Schweiz – auch abstimmen:

Nein zur Volksinitiative für ein Minarettverbot, nein zur Diskriminierung, nein zum Eingriff in die Grundrechte. Nein.

Dafür jeden Tag wieder ja zur Bildung für alle, ja zur Aufklärung, ja zur Chancengleichheit, ja zu unserer Verfassung.

Integration ist schwierig. Für jeden und beidseitig. Danke für die Kenntnisnahme.

Heute arbeitete ich vor dem Westside an der Sonne in der Hoffnung, von ihr etwas Antrieb zu bekommen, was rückblickend halbwegs gelungen ist.

Neben mir sassen die Fernsehleute im Kaffee, sie hatten eben beim Hotel ausgecheckt. Das Handy klingelte und die SF DRS Direktorin schien dran zu sein. Sie fragte offenbar nach den Einschaltquoten und dem medialen Feed-back in der Printpresse im fernen Bern.

Man liege nicht im „Reinsch“ (Range? sic.) der Traviata, aber nach der Liebesszene seien die Leute ganz gut dran geblieben. Das werde wohl akzeptiert, immerhin sei die Einmaligkeit des Ereignisses massgebend für das sich abzeichnende internationale Interesse, man sei mit Frankreich, Italien, Irland und den USA in Verhandlung. Und ja, in Bern sei man auf beiden Titelseiten gewesen, bei der einen Tageszeitung auch noch im Innenteil. Die Direktorin scheint damit vorläufig ausreichend informiert zu sein und hängt ziemlich abrupt ein.

Wir haben es ja schon geschrieben, im Quartier wird Oper gemacht. Dabei sieht man aber nichts Öperliches, sondern Fernseh-Equipment, eine Masse TV-Leute und dann und wann eine Sopranistin (welche sogar bloggt) oder ein paar Statisten.

Doch inzwischen sind alle nett.

Das ist ja das Schöne am Ghetto: hier trägt niemand lange die Nase hoch, nicht einmal das Zürcher Fernsehen. Und wenn sie über ihre eigenen Kabel stolpern und mit Löchern in der Stirn ins nächste Spital gefahren werden müssen, tun sie einem wirklich leid. (1st hat es zahlreiche Male beschrieben als sie noch hier wohnte: wir haben seit Jahren Baustelle, es gibt praktisch nur Treppen und Absätze und unbeleuchtete Winkel und Hindernisse. Jung und Alt fallen immer wieder irgendwo drüber, rein oder runter.)

Als ich heute nach Hause kam und zwischen den Kabelrollen und Kameras zwecks Leerung zu meinem Briefkasten steuerte, meinte ein schnittiger TV-ler: „Schon praktisch, wenn man immer neben den Briefkästen steht und sieht wie alle heissen. Dann weiss man auch, bei wem man sich gern zum Essen einladen lassen würde.“ „Sind Sie hungrig?“ frage ich nett. „Es geht grad noch…“ meint er. „Der Ramadan ist gerade vorbei, Sie können sich jederzeit melden,“ biete ich lächelnd an und er lächelt – nur noch wenig erstaunt – zurück.

Wie gesagt: TV-Staff ist schon in Ordnung.

Niesen

Ausnahmsweise hat auch unsere Sippe einmal ein Schnapsdatum für eine kleine Familienfeier genutzt. Wir haben den runden Geburtstag von mir und 2nd, male am 19.9.2009 auswärts begangen. Das war nicht Absicht sondern einfach die Mitte zwischen unseren Geburtsdaten. Wir hatten ein richtig erholsames Wochenende mit schöner Aussicht auf den Niesen und die kommenden Jahre.

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Der Bus sucht sich seinen langen, holprigen und kurvenreichen Weg zwischen den Baustellen des Trams Bern West. Es stinkt indisch. Aber vielleicht denke ich das nur, weil meine geruchsinnige Erinnerung an Indien so weit weg ist. Die Pomade der Afrikaner, die Deos der Halbstarken, die angebissenen Kebabs, die halbvollen Windeln der unzähligen Bébés, das Sandelholzparfüm der Frau aus der Lorraine, die neu ein GA hat und nun die Stadt erkundet und meine eigene Ausdünstung drohen mir beinahe den Rest zu geben.

Da sticht eine saubere Gemeinderätin durch den schmalen Gang im Bus und fragt das ältere Paar in meinem Rücken, wo sie austeigen müsse, um in ein bestimmtes Altersheim zu kommen. Das Paar fragt nach der Adresse und die Gemeinderätin zieht einen tadellosen Ausdruck eines Outlook-Termins (auf Umweltpapier) aus einem Mäppchen und nennt die Strasse samt Nummer.

Da wird es komplizert. Zuerst sagt der ältere Herr sie solle „bei Stöckacker“ raus – andererseits, gibt es diese Station überhaupt noch? Nein, meinen die einen, ja, die anderen, die Station heisse bloss anders. Eine dritte Gruppe erklärt entschieden, nicht der Name, sondern die Lage der Station habe gändert, sie liege neu 200 Meter weiter in einer Seitenstrasse. Aha, dann müsste die Gemeinderätin einfach von dort auf die Hauptstrasse und dann Richtung Brücke laufen. Oder nein, nein, die Brücke, die gebe ja gar nicht mehr. Also, dann solle sie einfach Richtung der nächsten – im Moment nicht angefahrenen Busstation „Säge“ (sie wisse doch welche, oder?) gehen, dann komme sie automatisch am gewünschten Altersheim vorbei. Die Gemeinderätin bedankt sich freundlich, die Problematik fällt in ihr Fachgebiet. Sie studiert im Stehen ihre Sitzungsunterlagen und streicht die Hälfte mit Stabiloboss an. Ich versuche herauszufinden nach welchem Schema sie vorgeht und vergesse einen Moment den indischen Bus-Koller. Gemäss den Papieren ist die Gemeinderätin unterweg zu einer Sitzung eines Komittees für ein Baufest fürs Tram Bern West „TBW“.

Aber dieses Altersheim, meint der alte Mann viele Busstationen später, dieses Altersheim sei dann ein Block.

Also die Blöcke stehen noch, auch der neue Garten ist noch da. Seit unserer Rückkehr füllen wir Kaffeekrüge und Waschmaschinen gleichermassen und sind bald soweit und ganz aufgeräumt. Die Kinder – beim Grössten müssen wir das Wort schon fast in Anführungsstriche setzen – sind gern wieder daheim. Sie trommeln ihre Freunde zusammen, holen Legos und Weetos aus den Schränken und freuen sich, ihre Muttersprache zu sprechen und zu hören. Auf dem Spielplatz wurden beide Schaukeln gestohlen und die Bewohner, die vor den Ferien entsprechende Drohungen ausgestossen hatten, wurden bereits von der Hauswartsfrau zur Rede gestellt. (Sobald ein Spielplatz seinen Zweck erfüllt, ist er nicht mehr ruhig und macht sich Feinde.)

Wir gewöhnen uns alle langsam wieder Kleider und ein eiliges Tempo an und die Flip-Flops ab.

Für Block-Kinder, die sich Häuschen nicht gewöhnt sind, ist sogar die Umstellung auf ein Mobilehome gross. Es klingt ja alles anders da drin und darum herum so nah am Boden.

3rd, female war erst überrascht, beim Rauslehnen aus dem Fenster nicht gerügt zu werden. Sie drehte sich zu uns um und stellte trocken fest:

„Block höch, Hüsli nid höch. Bim Usegheie nid tot.“

Im Garten zwischen dem Schulhaus und nahe dem Heimathochhaus haben wir gestern den Geburtstag von 1st begangen.

Es war nass und lustig. Aber für die Pasta, den Braten und die Rüeblitorte haben wir uns dann doch von der Scholle verabschiedet und den Lift in nach Hause genommen.

Die Woche ist noch jung und dennoch ist bereits ein Rekord geschlagen:

Vier lange Texte von mir publiziert mit Namen von anderen darunter: Zwei Vorgesetzte, ein externer Texter (!) und ein Gleichgestellter. Ich bin eigentlich eine Linienstelle und wohl einfach selber schuld. Weiss allerdings weder, was ich falsch gemacht habe, noch wie ich derlei in Zukunft vermeiden oder gar Rache üben soll.

Ihr Hirn sei nicht mehr gut, ruft die alte Frau – eine Migrantin aus der ehem. Tschechoslowakei – uns zu, als wir sie beim Spaziergang durch das Quartier überholen. Es bedürfe einer permanenten Überprüfung. Sie gehe laufend die Teile ihres Gehirns durch – sie beschreibt mit ihrer durchsichtigen Hand einen Kreis über ihrem weissen Haar – und ermittle, welcher Teil noch funktioniere. Die Diffential- und Integralrechnung, die sei noch ganz fest – sie krallt die dünnen Finger an ihren Hinterkopf – verankert. Aber die lateinischen Buchstaben, die seien weg. Sie könne nur noch gotische Schrift lesen, die, die sie nach dem zweiten Weltkrieg gelernt habe: „Für meine Enkelkinder bin ich eine An-al-pha-bet-in!“

Sie solle doch mit ihnen rechnen und zeichnen, das reiche bei Weitem, antworte ich. Ja, ja, im Zeichnen seien sie gut die Enkelkinder, sie dokumentierten damit gern die streitenden Eltern. Sie seien sehr genau im Zeichnen, man sehe, wie Vater und Mutter sich anschreien und die Mutter sei dabei „oben ohne“, aber sie finde das nicht unmoralisch. Auch die Zeichnung mit diesen Skalpen gefalle ihr. „Terrror“, das müsse sie immer wieder erklären, „das ist das Hauptwort. Und terrorisieren ist, was gemacht wird.“

Die Tamilin neben mir las und hustete. Sie war mit einem Znüüni-Säcklein (Weggli und Capri-Sonne und Chips) eingestiegen, welches sie offenbar ihrem kleinen Sohn mitgeben wollte. Dieser gehörte zu einer Unterstufenklasse auf dem Maibummel, welche hinten im Bus Radau machte.

Nach und nach wurde der Husten zur Atemnot und sie sah mich immer wieder mit grossen, blutunterlaufenen Augen an, in denen ich nicht lesen konnte ob sie Hilfe suchte oder um Entschuldigung bat. Ich riet mit einigen Gesten und selber ziemlich hilflos, etwas zu trinken und das Halstuch zu lockern. Sie tat es und riss hustend den Strohhalm von der Capri-Sonne. Inzwischen hatte sie Nasenbluten bekommen und ich dirigierte meine Abwehrkräfte innerlich in Alarmstellung, bevor ich ihr meine Taschentücher reichte. Dann sah ich, dass jemand auf der anderen Seite sachte ihre Hand nahm – es war der kleine Sohn.

So begleiteten wir einander bis zur Endstation, das Nasenbluten lies nach, der Husten kaum. Als wir im Bahnhof ausstiegen, drückte die Tamilin ihrem Sohn die angefangene Caprisonne und das übrige Znüünisäcklein in die Hand, murmelte ihm etwas zu, lächelte mich gequält an und nahm immer noch wüst hustend den nächsten Bus zurück.

Unser Ladenzentrum wurde rundum erneuert, aber die Mieterschaft lässt auf sich warten. Deshalb macht die Hausverwaltung bei allen Mietern eine schriftliche Umfrage, welche Geschäfte wir uns hier wünschten und welche wir regelmässig besuchen würden. Wir überlegen, debattieren, wägen ab.

Den „Optiker“ , den „Schuhmacher“ sowie den „Bücherladen“ könnten wir zwar gut gebrauchen, müssten aber dafür unsere angestammten Dienstleister für Schuh-, Seh- und Geisteswerk verlassen, was für genetisch veranlagt treue Kundschaft wie uns schwer vorstellbar ist.

„Drogerie“, „Reform“, „Teppichgeschäft“, „Kosmetik“, „Schüsselservice“, „Möbelgeschäft“, „Blumenladen“, „Computerladen“ und „CD- und Video-Shop“ weniger. Hingegen könnte dieser oder jener aus unserer Kleinstfamilie den „Sportartikeln“, der „Metzgerei“, dem „Brockenhaus“, dem „Fitness“ und der „Unterhaltungselektronik“ etwas abgewinnen. Auf den „Kiosk“ verzichten wir aus Gründen der Volksgesundheit.

Auf dem Formular gibt es vier Zeilen für eigene Vorschläge und hier überstürzen sich die Ideen: Ein kleines Ricardo-Bordell, wo jeder nach Belieben und Möglichkeit und Wirtschaftslage anbieten und kaufen könnte. Eine weitere Stelle für die kontrollierte Heroinabgabe, die Publikum aus dem ganzen Einzugsgebiet der Stadt ins Quartier bringen würde. Auch der Jagdbedarf und Bootsbau wird ja von der Innenstadt und den Shoppingzentren enorm vernachlässigt und könnte hier neu erblühen.

Wir einigen uns auf die Empfehlung für ein Geschäft, das Publikum von Auswärts anlockt, schliesslich geht es um Aufwertung und darum, der Ghettoisierung entgegen zu wirken. Wir schreiben „Pferde- und Reiterutensilien“ und „Tattoostudio“. 3rd, male besteht zusätzlich auf „Bowling- oder Billardcenter“.

Im 11. Stock ganz links blinkt noch Weihnachtsdekoration am Fester, in der Wohnung gleich daneben bügelt eine Frau. Wenn sie die grossen Tücher ausschüttelt verdeckt sie mir die Sicht, aber beim Zusammenfalten sehe ich ihre schmale Gestalt, die dünnen Arme weit ausgestreckt und doch zu kurz. Genau darunter im 9. kocht jemand und rennt regelmässig zu einer grossen, braunen Sofaecke und zurück in die Küche, vielleicht schreit ein Kind nach der Flasche. Etwas weiter links unten im 7. ist die Wohnung hell erleuchtet, das Licht brennt in jedem der drei Zimmer. Doch hat es kaum Möbel und die Wände sind kahl. Wahrscheinlich ein Umzug. An den Fensterscheiben kleben drei A3-Blätter. Die Wohnungen darum herum liegen bereits im Dunkeln, aber weiter links im 6. flackert eine Kerze hinter einem orange Vorhang. In mehreren Wohnzimmern darunter läuft das gleiche Sportpragramm, dem grünen Bild nach zu schliessen Fussball. Die drei Stockwerke der Untergeschosse sind finster, nur in einer Stube sitzen sich zwei gegenüber und rauchen.

Heute habe ich mich aufgerafft, einmal beim Block, wo die Sanierung begonnen hat, vorbeizugehen. Es sind drei gleiche Blöcke, die das Quartier ausmachen, in welchem ich seit Kleinkinderzeit wohne, ich habe schon in jedem gelebt und kenne sie weissgott wie meine Hosentasche.

Ich kann mich aber nicht erinnern, dass einmal Wohnungen frei waren. Vielleicht höchstens ein, zwei Monate, weil man eine Weile brauchte, um Schweizer als Nachmieter zu finden. (Wenn Leute schweizerischer Nationalität ausziehen, wird i.d.R. darauf geachtet, diese Wohnungen wieder Leuten schweizerischer Nationalität zu geben, denn wir sind integrativ manchmal etwas am Limit hier.)

In dem Sanierungsblock gibt es total 275 Wohnungen. Und ich habe heute 25 abmontierte Klingelschilder gezählt. Nicht nur die Attika von 1st, sondern auch die 3.5-Zimmerwohnung, die ich mit 2nd, male und 3rd fünf Jahre bewohnt habe, steht leer.

Wäre es möglich, dass die oft zitierte Einschätzung der Verwaltung und anderer Aufwertungs-Prediger, die Leute blieben dann schon, weil sie „nichts Billigeres und Besseres“ finden, falsch war?

Nun hoffen wir auf den grossen Zuzug nach der Sanierung. Denn Leerwohnungen sind nicht gerade das, was ich unter Aufwertung verstehe.

In Thailand, so meint 3rds Freund von ebenda, gibt es keine Prüfung auf militärische Tauglichkeit wie in der Schweiz. (Die Jungs machten sich beim heutigen Abendessen erste Gedanken über ihre Aushebung.)

In Thailand werden alle Einundzwanzigjärigen in einem grossen Raum des Quartiers zusammengerufen. In dem Raum gibt es eine Bühne. Auf der Bühne steht eine Kiste, in deren Deckel ein Loch ist. Die einunzwandzigjährigen Männer reihen sich auf Kommando der Militärs in eine Schlange ein und einer nach dem anderen greift in das Loch, um eine rote oder eine schwarze Karte rauszuziehen. Rot bedeutet Militärdienst, schwarz keinen Militärdienst (oder umgekehrt, 3rds Freund war sich nicht mehr sicher). Diese Karte streckt der junge Mann hoch über den Kopf damit alle sie sehen und die Militärs notieren sich, ob er für zwei Jahre einrücken muss oder von der militärischen Bildfläche verschwindet.

„Und wenn einer ein kürzeres Bein hat? Oder sonst eine Krankheit?“ frage ich. Es wäre ihm bei der Aushebung seiner älteren Brüder und Cousins nie aufgefallen, dass man auf sowas geachtet hätte, antwortet 3rds Freund. Einzig das Los entscheide.

Ob sie denn nicht ein Berufsarmee machen könnten, wo nur die gehen, die wollen, bohre ich weiter. Nein, unmöglich. In Thailand wolle keine einziger Einundzwanzigjähriger zur Armee. Man gehe schliesslich auch nicht freiwillig ins Gefängnis.

Ausser vielleicht in der Schweiz. Da hat es im Gefängnis sogar Betten. Betten! Und Spiele. Und Essen umsonst.

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