Alles oder nichts


Das Schöne an der TV-Weihnachsfilmewelt ist: alles kommt gut! Alleinerziehende Müttern treffen in einem stehen gebliebenen Zug ihren geschiedenen Mann und retten mit ihm zusammen im Schneesturm den gemeinsamen Sohn. Die junge Witwe kümmert sich in Afrika um die Kinder ihres verstorbenen Gatten aus erster Ehe, findet dann ein neues Glück in der Person des sich aufopfernden Arztes und überwindet en passant noch ihre Angst vorm Fliegen. Oft tauchen in solchen Geschichten auch Engel auf in der Gestalt von gebildeten Clochards, welche berufstätigen Müttern unter die Arme greifen, indem sie deren Kinder wieder gehen, sehen, sprechen lernen, Viehweiden, Wohnhäuser und Kirchen vor Bauhaien verteidigen und die Motorräder der toten Väter reparieren. Gewaschen und in die Kleider der verstorbenen Ehemänner gesteckt, sehen solche Himmelswesen dann so richtig zum Anbeissen aus. Meist dürfen sie auf der Erde bei ihrer Liebsten bleiben, aber manchmal verschwinden sie nach der guten Tat. Es bleibt dann eine Feder ihrer Flügel auf dem Weihnachtsbaum zurück oder die Familie kehrt mit einem besonderen Glücksgefühl und bereit, alle zu lieben, von der Mitternachtsmesse in das festlich geschmückte Heim zurück.
Kein Wunder, dass sich die unmöglichsten Wünsche und Vorstellungen für die Heiligen Tage in den Köpfen der Leute festsetzen.
Zum Glück gibt es noch die Sendungen über Krisenbewältigung an Weihnachten und den Bericht über das fachgerechte Aufbewahren der Trüffel!

Jeder Schüler meiner Praktikumsklasse, KKD, durfte eine Lehrperson auswählen, um ihr einen Weihnachtsbrief zu schreiben. David wollte der Logopädin schreiben. Die Lehrerin fand seinen Brief nicht sehr weihnächtlich. Die anderen Knaben hatten Sterne gemalt und „froe Weinachten und ales gute“ geschrieben. Doch auf Davids Brief stand: „Liebe Frau Keller. Es tut mir leid. Viel Glück von David.“ Darunter waren ein Kreuz und ein ganz trauriger Sankt Nikolaus gezeichnet. Rundherum regnete es Bleistiftstriche. Tränen?

Im Lehrerzimmer klärte uns die Logopädin auf. Wir wussten, dass vor einigen Wochen ihr Vater gestorben war, aber dass sich der kleine sprachbehinderte Vietnamese daran erinnerte, darauf sind wir nicht gekommen. Ob er den Weihnachtsbrief alleine gemacht habe, wollte Frau Keller wissen. Nein, sein Freund, ein Albaner, hätte ihm geholfen. Der sei allerdings der Meinung, nach dem Tod werde man wieder geboren. David selbst glaubt aber eher, ihr Vater sei jetzt ein Engel.

Jemand klingelte unten an der Gegensprechanlage. Nein, kein Liftproblem, kein überschwemmter Waschraum, keine Gjyshe und auch keine Reklamationen störten unser gemeinsames Mittagessen, sondern ein Maler. Mein Mann wunderte sich, weil er keinen Termin mit ihm vereinbart hatte und vermutete, der Maler wolle Material unterstellen.

2nd2nd, male kam mit einer schwarzen Schachtel mit roter Schleife zurück. „Ein Dankeschön, für das Jahr unserer Zusammenarbeit. Nicht der normale Mitarbeiter hat es mir gebracht, sondern der Abteilungsleiter.“ „Und, wie hast du ihm gedankt?“ wollte ich pädagogisches Huhn wissen. „Ich hab ihm gesagt, ich sei zufrieden mit seinen Arbeitern.“ „Und?“ „Ich würde sie auch im nächsten Jahr mit Aufgaben beauftragen.“ Erst als er die Schachtel öffnete, erkannten wir edle Eichenberger Schokolade und da fiel auch das elegante Briefchen heraus: ein 100.- Gutschein für die Herrenabteilung im Globus.

Damit hat es gestern angefangen. Seither schneite es meinem Mann x Glückwunschkarten ins Haus, ein 10.- Coop-Gutschein, ein 20.- reka check, eine Schachtel Pralinen, eine Panettone, eine riesige Toblerone vom Elektriker, einen Tischkalender eines Technischen Mitarbeiters und ein Matterhorn-Wand-Kalender vom Heizungsmensch.

„Hast du jemals so viele Glückwünsche erhalten?“ wollte ich wissen. „Nein, aber ich habe immer den Leuten geholfen. Jetzt endlich danken sie mir. “

Gestern hab ichs getan! Als er lässig seine prall gefüllte feldgrüne (-graue?) Reisetasche auf die Sitzbank der Bushaltestelle fallen liess, grüsste ich ihn und fragte: „Sagen Sie mir bitte, haben Sie in der Kaserne immer noch keinen Waschsalon?“
Er lächelte höflich, rückte sein hellblaues Beret zurecht (Sanitätstruppen, Veterinärtruppen, Rotkreuzdienst?) und sagte: „Nein, leider nicht.“ „Also müssen samstags immer noch Mütter, Frauen und Freundinnen die Militärwäsche waschen?“
„Nicht unbedingt. Uns steht ein Waschdienst in Münsingen zur Verfügung. “
Diesen hat der flotte junge Mann im Kampfanzug sichtlich nicht in Anspruch genommen.
Das 21. Jahrhundert hat immerhin eine Erleichterung im Waschfrauenhilfsdienst gebracht: die Wehrmänner werden nun samstags um 07:00 Uhr in den Urlaub entlassen, statt erst am Mittag.
Stelle man sich vor, aus der Rekrutenschule kehrten Fachmänner für die allgemeine und spezielle Textilpflege mit logistischem Flair ins zivile Leben zurück, das wäre ein richtiger Beitrag zum Frieden.

Neben der Tür zur Kinderkrippe hat ein junger Mann ein Stativ mit Fotoapparat aufgebaut. Es ist etwas vor acht Uhr morgens, die Kinder sind auf dem Weg zur Schule, die ersten BewohnerInnen auf dem zum Denner.
Ah, diesen Samstag gibts wohl zur Abwechslung eine Fotoreportage über unser Quartier: ein zerschmettertes Fenster, ein verspraytes Plakat vom Drehrestaurant des Schilthorns, kunstvoll beleuchtet, denke ich und halte freundlich lächelnd auf den Fotografen zu: „Guten Tag, darf ich Sie fragen was Sie hier fotografieren?“
„Mais oui!“ Er sei Student der Hochschule der Künste und interessiere sich für
Le Corbusier und dessen Einfluss auf die Architektur dieser Siedlung. Schon vor einer Stunde habe er Aufnahmen von den Schafen auf der Weide zwischen den Blöcken gemacht. Ich sei bereits die dritte Person, die ihn anspreche. Dass ihn die Leute grüssen, finde er so etwas von nett. Er müsse nächstes Jahr noch eine Arbeit über das Thema „Heimat“ schreiben und er habe gerade beschlossen, über das Quartier zu schreiben.
Da die Hochschule für Künste nur ein paar Strassen entfernt sei, (Haltestelle „Bethlehem Säge“), wäre es kein Problem, Berns westlichsten Westen besser kennen zu lernen.
Es ist ganz klar, dass er auf Blogks Unterstützung zählen kann.

Ja, lieber Zürcher, du hast recht, die Welt ist voller abgedroschener Klischees. Das vom erfolglosen Autoren aus der Grossstadt, der sich in Provinzblättern mit Kolumnen über Kleinstädte sein Brot verdienen muss – nur so als Beispiel. Das vom Zürcher, der ausser Zürich und vielleicht noch Graubünden nichts kennt von der Schweiz. Wie er in weiser Vorahnung schreibt: die Realität ist komplizierter als das Klischee. Darum:

1. Bethlehem war für mich bisher, was es für die meisten Nichtberner ist: eine berühmte Bausünde.
Nein. Schon in den 50er-Jahren war das Tscharnergut eine Musterbeispiel für verdichtetes Wohnen, wie es heute wieder en vogue ist. Auch im Gäbelbach und im Bethlehemacker wurden viele Ideen von Le Corbusier umgesetzt, was die Siedlung nach wie vor zu einem beliebten Anschauungsobjekt von Architekturstudenten macht.

2. Eine Horrorvision, die wie ein Phantomgebirge am Horizont auftaucht, wenn man mit dem Zug ins Oberland fährt.
Was man dort sieht, sind die Hochhäuser der Siedlung Wittigkofen. Das liegt ganz im Osten der Stadt und ist zu einem grossen Teil Wohneigentum. Bethlehem liegt im Westen.

3. Die Bushaltestelle heisst malerisch «Bethlehem-Säge», ist aber umzingelt von Einkaufskolossen.
Das grösste Gebäude, das dort zu sehen ist, beherbergt das Brockenhaus der Heilsarmee. Ferner sind eine Textilreinigung zu sehen und ein Coiffeursalon sowie einige Wohnhäuser mit drei bis fünf Stockwerken.

4. Und in der Bethlehemstrasse sieht es aus wie in den Zürcher Slums: triste Reihenhäuser mit Satellitenschüsseln auf dem Balkon; überall Nachwuchs-Hooligans, denen man besser nicht zu tief in die Augen schaut.
Hooligans? Noch nie gesehen. Die finsteren Gesellen, die der Autor gesehen haben wird, haben sich als Rapper oder Homies verkleidet. Fussball interessiert hier echt, die Kinder der Bethlehemstrasse sind wenn schon in der YB-Klasse. Verprügelt werden hauptsächlich schlechte Schriftsteller.

5. An einem der Stützpfeiler hängt die Ankündigung einer Podiumsdiskussion von vorletzter Woche: «Bethlehem unterwegs zu einem Trendquartier?»
Die erwähnte Veranstaltung hat am 29. November stattgefunden, also in der letzten Woche vor dem mutmasslichen Besuch des Autoren am „Samichlaus-Mittwoch“ (Zürcher Brauch?).

6. Hinter dem nächsten Busch lauert die Melchiorstrasse, und schlagartig bin ich wieder in der DDR, will sagen im Bethlehem-Klischee: rechts eine Art Plattenbau, links ein angeschlagener Wald mit Schnellstrasse.
Wenn wir uns ausdenken würden, was ein Zürcher so für Vorurteile mit sich herumschleppt: besser würden wir es nicht treffen.

Wir danken Ihnen.

PS. Bitte protestiert nicht bei der Zeitung, liebe engagierte Bethlehemerinnen und Bethlehemer. Wir fürchten, Richard Reich schreibt über uns, weil er pro Leserbrief bezahlt wird.

Turnschuhe ausgelüftet

Hier wieder einmal ein Beispiel, wie fantasievoll in Berns Westen umgenutzt wird. Es wäre doch schade, die momentan wegen Bauarbeiten still gelegten Trolleybus-Leitungen einfach leer zu lassen.
Ich frage mich nur, ob vielleicht Herr Käppelis Schuhschrank … ?

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Vor dem Hauseingang stapeln sich Tische, Schränke, Gestelle, Stühle, Bett. Es ist noch früh am Morgen, und ich frage den Hauswart, ob jemand aus meinem Eingang ausziehe. „Ja, wissen sie denn nichts? Herr Käppeli ist gestorben.“
Dann kommt Frau Vogel, die Schwester des Toten. Ich kondoliere, noch ganz benommen von der Nachricht.
Ihr Bruder habe alles bestens hinterlassen, die Tausende von Dias, Filmen und Musiknoten angeschrieben, die Ordner aus der langjährigen Quartier- und Kirchenarbeit immer nachgeführt, die Computerprogramme, geschrieben für verschiedene Firmen, in Handbüchern korrekt festgehalten.
Aber sie habe alles rübis und stübis weggeworfen, sie musste, denn sie könne das alles nicht aufbewahren, verstehe vom Filmen und von Computern gar nichts.
Hinten auf der Terrasse zerschlägt ein Mann einen Tisch, während ein anderer mit den Füssen einen Schuhschrank eintritt.
Frau Vogel verspricht, mir den Lebenslauf ihres Bruders in den Briefkasten zu werfen. Er habe ihn selber geschrieben.
Als ich am Abend nach Hause komme, schleppt die Italienerin aus dem Untergeschoss einige Wäschekörbe mit Schischuhen, Mixer, Geschirr, Luftbefeuchter aus der Wohnung von Herrn Käppeli.
Immerhin etwas, das noch gebraucht wird – nicht ganz rübis und stübis.

flengel

Zu schade, um hier im Kommentar von lizamazo versteckt zu werden

Seit 18 Jahren können wir anfangs Dezember lesen, dass die Reichen immer reicher werden, weil die „Bilanz“ (heute erschienen in der Goldausgabe) uns die 300 Reichsten präsentiert. Inzwischen haben die 10 Reichsten doppelt so viel, wie vor 18 Jahren die 100 Reichsten hatten. Soweit nichts Neues im Staate Schweiz – nach wie vor liegt Mr. IKEA Ingvar Kamprad mit seinen geschätzten 26 Milliarden an der Spitze.

Was allerdings auffällt, ist ein leiser Wandel im Inserate-Teil. Es winden sich immer noch die schmachtenden Schönheiten mit Duftwasser und Diamanten, noch sind Männer das Publikum (jedenfalls meinen die Inserenten das). Auch so gut wie jede Uhrenmarke ist ganzseitig oder gar mehrseitig vertreten.

Neu ist die Broschüre mit dem Denner Weinkeller, prästentiert vom Philippe Gaydoul himself (mit 900-1000 Mio. im Mittelfeld des Rankings). Bei soviel Hochglanz kann man direkt vergessen, dass die Denner-Filialen die versifftesten aller Läden sind und ihre Kundschaft den nachhaltigsten Billigst-Alkoholpegel vorzuweisen hat, auch morgens um 07:00.

Ebenfalls erstmals erscheinen Inserate von Privatkliniken. Zum Beispiel Hohenegg, auf Kuren für Ausgebrannte spezialisiert.

  • Die persönliche Krise erkennen und akzeptieren.
  • Die Ursachen für das aktuelle Befinden erforschen.
  • Den bisherigen, belastenden Lebensstil ändern.
  • Neue Lebensperspektiven aufzeigen.
  • Die Ansätze decken sich ziemlich mit denen der Kriseninterventionsstelle des Sozialamtes. Und ich bin versucht zu sagen, dass auch 25 Milliarden Differenz den Braten nicht feiss machen.

    Mein Nachbar hat in Schönschrift eine kleine Geschichte geschrieben, sie als Traktätchen auf ein gelbes Blatt kopiert und in die Briefkästen verteilt.
    Werbung für einen Bibeltisch am nächsten Samstag im Ladenzentrum – eigentlich nichts für mich, denke ich. Trotzdem lese ich das Briefchen.
    Die Titelseite zeigt eine Hand, in welcher ein Schlüsselbund liegt, links darüber ein Tannenzweig mit Kerze, rechts ein aufgeklebtes Schoggiherz.
    Herr Zünd erzählt, wie er im Sommer zusammen mit seiner Frau in den Ferien weilte, wo die beiden nach einigen Tagen bemerkten, dass ihr Hausschlüssel fehlte. Nicht sorgen, Gott vertrauen!
    Zu Hause angekommen, finden die Leute ihren Schlüssel friedlich aussen an der Wohnungstüre hängend. Alles ist noch da, es wurde nichts herausgetragen! Und das in unserem Quartier und erst noch in einem besonders struben Eingang.
    Der glückliche Mann aus Bethlehem findet dann leicht den Übergang zur biblischen Weihnachtsgeschichte, die gewaltiger sei, als die bescheidene Schlüssselgeschichte und nachzulesen im Evangelium von Lukas, Kapitel 2.
    Ich bewundere die würzige Kürze dieser Botschaft und denke, dass sich einige Theologen an Herrn Zünd ein Beispiel nehmen sollten.

    Wir haben Blog-Besuch. Eigentlich ist er ja aus Deutschland angereist, aber mir scheint, er entsprang dem Internet. Erst seit Freitag hier zu Gast, hat er schon unsere drei Blöcke gesehen, ass Raclette, sprach stundenlang über Ost und West und war mit uns bei meinem Grossvater auf dem Land, wo er das noch unverdorbenes Berndeutsch hörte. Morgen kommt er zu uns aufs Dach, damit er unsere Stadt in alle Himmelsrichtungen überblicken kann. Ich glaube, ihm gefällts hier.

    Erstes Rendez-vous

    Gestern Nachmittag:
    Hier kommen sich Sommer- und Winterschmuck erstmals nahe

    Ohne Handschuhe

    Gestern Abend:
    Zum ersten Mal Sterne aufhängen ohne Handschuhe

    Münstergasse im November

    Im November so, im Juli so (Bild 5) – und immer noch viele Flip-Flops in der Gasse

    Normalerweise verstecke ich die Geschenke, für die es Gutscheine im Türchen-Adventskalender haben wird in der Kiste, in welcher ich die Mützen und Handschuhe eingemottet habe, deren Inbetriebnahme jedoch nach wie vor unnötig erscheint.

    Ja, die Klimaveränderung hat Auswirkungen. Bis in den hintersten hausfräulichen Alltag.

    Der Verwalter hat meinem Mann mitgeteilt, dass 90% aller MieterInnen, die an der Umfrage teilgenommen haben, zufrieden mit ihm sind. 65% der Bogen wurden übrigens von SchweizerInnen ausgefüllt.

    In dem Schreiben, das alle BlockbewohnerInnen Mitte Oktober erhalten haben, steht, der Hauswart „führe die ihm übertragenen Aufgaben gut aus“ und sei auch „als Mensch angenehm“. Ausserdem wird darin zu Recht hin gewiesen, dass „es absolut unnötig ist, hinter vorgehaltener Hand über die Umstände zu klagen und zu versuchen andere Mitbewohner negativ zu beeinflussen“.

    Viele MieterInnen nutzten den Umfrage-Bogen, um den Vorgänger zu kritisieren. Jetzt sei es viel sauberer als je zuvor, man könne endlich mit dem Hauswart sprechen und auch die Kinder hätten keine Angst vor ihm! Die früheren zwei Hauswarte hätten niemals Menschen die Türe aufgehalten, geschweige denn, Leute mit Stock am Arm geführt.

    So hat sich die Situation doch noch zum Guten gewendet. Leute, die meinem Mann vorher so frech und respektlos begegnet sind, halten jetzt ihren Mund. Auch die Verwaltung steht nun endlich hinter ihm, denn jetzt kennt sie eben diese wenigen Namen der „unzufriedenen SchweizerInnen“ und weiss, wie sehr seine Arbeit von der grossen Mehrheit geschätzt wird.

    Was für ein Tag. Am morgen begannen wir mit unserer persönlichen Putzerei und wurden ständig unterbrochen, so dass wir erst jetzt (fast) fertig sind. Am Vormittag klingelte zuerst die Mazedonierin. Sie hatte verweinte und von Make-up verschmierte Augen und hielt mir einen positiven Schwangerschaftstest unter die Nase. Zwischen Staubsauger und hungrigem Baby tröstete ich die Arme und rief erneut der Polizei an. Ich wollte mich informieren, was mit einer erneut vergewaltigten, geschlagenen, schwangeren, arbeitslosen Mazedonierin passieren würde, wenn sie die Polizei kommen lässt und sich von ihrem „Papiirli-Schweizer“ trennt. Trotz vielen Vorschlägen kehrte sie zurück in die Ein-Zimmer-Wohnung und liess sich von ihrer Familie aus Mazedonien Anweisungen geben, ihren Mann nicht zu verlassen, da ihr Vater sonst sofort sterben würde und sie niemals wieder zu ihnen kommen dürfe.

    Seit einer Stunde warte ich nun auf Block-Besuch, der vielleicht nicht eintrifft, weil der Lift stecken geblieben ist. Darin befinden sich mehrere Kinder, die ich heute Nachmittag zu Recht gewiesen habe, nicht aus dem Balkon zu spucken. Sie sind Vietnamesen und wohnen erst seit diesem Monat im Haus. Ein Kenner hat vor längerer Zeit ein Schloss im Lift kaputt gemacht. Mein Mann hat dieses Loch jetzt überklebt,

    Lift heute

    aber jemand ein Tramgegner hat den Karton-Kleber wieder durchstochen und die Kinder haben jetzt wahrscheinlich was hineingestopft.

    Mein Mann wartet jetzt auf den Liftmonteur und ich auf den Besuch. Zum Glück ist Kleines Mädchen so lieb, deshalb kann ich nämlich heute zum ersten Mal wieder in den Ausgang, wenn ich nicht auch irgendwo stecken bleibe.

    Vor einem Jahr berichteten wir hier über die Schliessung des Keramikateliers. Interessierten Bogk-LeserInnen, die nachgefragt haben, berichte ich gerne über den neuesten Stand in dieser Sache.
    Die triste Situation hat sich zum Guten gewendet! Dank der Superidee eines Bewohners und dem Engagement einiger „Verbündeter“ konnte in den verwaisten Räumen eine neue Tagesschule eingerichtet weden, nachdem die alte schon seit Jahren zu klein geworden war. Das Quartier erbrachte eine grosse finanzielle Eigenleistung. Hier gibt es nämlich den „Mieterfranken“: Aus den monatlichen Mietzinsen fliessen je 2 Franken als Solidaritätsbeitrag in die Gemeinschaftskasse. Über fünfzig Kinder kommen zum Lernen und Spielen ins Tagi. Die ehemalige Leiterin des Ateliers hat eine Arbeit als Werklehrerin gefunden.
    (mehr …)

    Es war tiefe Samstagnacht, als auf dem Bauplatz plötzlich Licht über schlafende Kranenbeine, Barackenwände, gezahnten Baggerschaufel und Bypss-Strasse flutete. Dann begann ein stumpfes rasches Hämmern.
    Frau C., spundwanderprobt, stieg aus dem warmen Bett und liess eine mitternächtliche Kochwäsche durch laufen: Lärm zu Lärm.
    Frau T., knappe hundert Meter von der bearbeiteten Baugrube entfernt, versuchte gar nicht erst zu schlafen, aber das Beste aus der Situation zu machen: im Gratisflutlicht Hefte korrigieren. Frau S. fuhr auf aus leichtem Schlaf und fragte sich, was sich die MieterInnen denn jetzt wieder Fieses gegen ihren Ehemann, den Hauswart ausgedacht hatten: bumm,bumm,bumm …
    Zu sagen ist, dass das Hämmern auch in der folgenden Nacht weiterging.
    Heute endlich lag ein Infoblatt im Briefkasten, welches uns für weitere 34 Hammernächte dankt, die wir mit Verständnis und Geduld ertragen sollen.
    Man habe auf dem Tiefbauamt nicht mit „starken Lärmemissionen gerechnet, die im ganzen Raum Bern-West hörbar sind“, steht da.
    Tortelloninonemau und Tonnerschiess, sind das denn die ersten Spundwände, die sie ungespitzt in den Boden rein däppern?

    Heute Morgen kreuzte ich im Treppenhaus meine Schwiegereltern. Da wir nahe aneinander vorbei gehen mussten, drängte ich dem Vater meines Mannes die Frage auf, ob er denn sein Grosskind gar nicht anschauen wolle. „Mou schon schauen. Aber nichts schauen, wenn ich habe nichts im Sack.“ war seine Ausrede. „Schauen Sie nur!“ zwang ich ihn. Und ich gewann zwischen den Briefkästen einmal mehr eines meiner heimlichen Duelle. Doch bevor er sich zu seiner Enkelin bückte, befahl er seiner Frau, ihm 50.- zu reichen. Er nahm sie, hauchte dem schlafenden kleinen Mädchen ein „Mashallah“ aufs Bäckchen, steckte ihr den Geldschein in ihren flauschigen Anzug und hatte tatsächlich feuchte Augen: „Kinder, Kinder…“ stammelte er. Frau Schwiegermutter weint normalerweise auch bei solchen Begegnungen, aber heute hatte sie ganz rote Wangen und lachte. Endlich durfte sie sich vor den Augen ihres Mannes in den Kinderwagen hängen und ihr Grosskind küssen. Der Grittibänz, der darauf lag, war danach verdrückt und Kleines Mädchen wach.

    Ich simselte die Neuigkeit sofort meinem Mann: „Dein Vater schenkte unserem kleinen Mädchen soeben 50.-.“ Er schrieb umgehend zurück: „Ja was. Das ist ja was besonderes. Endlich hat Kleines Mädchen einen Grossvater.“ Ich musste lachen, weil ich beim „Ja was.“ den Tonfall meiner Mutter im Ohr habe. Mein Mann findet alle „Sprüchli“ von 1st so gut. E dr Tonnerschiess und schnorzeporze gefallen ihm besonders.

    „Hast du zufällig eine Baumschere und eine Spitzzange bei dir?“
    Ich bin gerade damit beschäftigt, die Farmakopea Polska, das amtliche Arzneibuch Polens zu katalogisieren, als mich diese ernst gemeinte Frage vom Nachbarschreibtisch erreicht. Frau Dr. Rieder, eben von einem Kongress im Ausland zurück, wundert sich über mein Nein: „Wirklich nicht?“
    Ich verspreche, ihr morgen selbiges zu bringen, damit sie am Abend den Adventskranzkurs gut ausgerüstet besuchen kann.
    „Hast du zufällig eine Briefmarke oder sowas?“
    Sowas hatte ich. Und ich wusste erst noch in echt den schnellsten Weg nach Worb.

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