Alles oder nichts


Ich darf die lieben Blogk-Leserinnen und -Leser auf die freundliche Erwähnung unseres Dialekts bei wusisdus aufmerksam machen. Vered hat wie gewohnt ausgezeichnet beobachtet und einen wunderschönen Beitrag zum Gebrauch des Dialekts in Blogs verfasst. Ich verstehe die Klage, die Leute würden mit der Elektronik immer unaufmerksamer, ohnehin schlecht. Ob jemand konzentriert oder oberflächlich konsumiert, liegt wohl immer noch eher an ihm als am Medium.

Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen,
als sei es das Grab
unserer Mutter.

Hilde Domin
geboren am 27. Juli 1909,
gestorben am 22. Februar 2006

Als ich ein Kind war, waren wir – für damalige Verhältnisse – noch immer arm. Doch wir buken vor Weihnachten. Natürlich Lebkuchen. Meine Mutter beauftragte mich und meine Pflegeschwestern, die unterschiedlichsten Schablonen mit einer spitzigen Nadel aus Karton zu stanzen, denn schneiden war ihr nicht genau genug und schulte unsere motorischen Fähigkeiten in ihren Augen nur ungenügend.

Wir legten die Schablonen auf den ausgewallten Teig und fuhren mit einem Schnitzer ihrem Rand entlang. Nur von Mutter abgesegnete Formen durften verwirklicht werden, es galt unter allen Umständen zu vermeiden, dass ein zu dünnes Katzenbein im Ofen verkohlte.

Und weil meine Eltern – als erste Generation mit Arbeit in der Stadt – doch ein wenig mehr als gar kein Geld hatten, reichte es sogar für die Dekoration. Wir kauften eine Tüte Puderzucker. Den rührten wir schrittweise mit (ja nicht zu viel!) Wasser an und machten daraus echte Glasur. Diese füllten wir in erschnorrte Plastiksäcke (welche zu dieser Zeit gerade neu in Mode gekommen waren) und schnitten mit einer Nagelschere einen klitzekleinen Teil der unteren Ecke ab. So entstand unser Spritzsack. Und wenn uns einmal eine gnädige Verwandte eine Flasche Himbeersirup geschenkt hatte, rührten wir einige Tropfen davon in die Glasur, damit sie rosa wurde. Wir verzierten kunstvoll die verschiedenen Lebkuchen, natürlich dem Empfänger individuell angepasst.

Die trockenen Kuchen packten wir in das Papier, in dem wir – oder sonst jemand – unsere letzten Geburtstagsgeschenke bekommen hatten. Ein Bändeli aus dem Ausschuss der Leinenweberei, ein anderes aus Wollresten des letzten Gilets, das 1st uns gestrickt hatte, und fertig waren die originellsten Geschenke weit und breit.

Was für uns an Teig oder kaputten Kuchen übrig blieb – davon ist mir bestimmt nicht schlecht geworden. Dafür machte uns 1st nach Weihnachten ein „Memory“ aus den Geschenkpapierschnipseln, in die man beim besten Willen nichts mehr einwickeln konnte, schon gar nicht die Lebkuchen vom nächsten Jahr. Und wir haben es immer noch, das Memory.

Die Moral? Meiner Grossmutter liebstes Bibelwort: Geben ist seliger denn Nehmen. Und meiner Grossmutter liebstes Familienwort: Mach aus der Not eine Tugend.

(Unnötig zu erwähnen, dass damit auch ein gewisser Druck auf uns entstand, aber bis jetzt haben wir uns zu helfen gewusst. Ich zum Beispiel delegiere das Backen an den besten Hobbybäcker an meiner Seite, wovon auch meine Schwester profitiert. Und meine Cousine hat sogar den Weltmeister der Konditorei zum Mann. Allerdings hat er sich den Titel – das gesteht er unumwunden – nur mit ihrer fachlichen Hilfe geholt. Der Wettbewerbsbeitrag Eistorte im novemberlichen Australien war nämlich eine echte Herausforderung.)

Als meine Mutter und ihre Geschwister klein waren, waren meine Grosseltern arm. Das bedeutet, dass sie nichts hatten, und was sie hatten, selber gemacht oder gegen Selbstgemachtes getauscht war.

Erzählt mein Grossvater davon, klingt die Kargheit schon in der Wortwahl. „Wir hatten nichts weder Salz,“ pflegt er zu sagen. Es machte für mich seit jeher jeden Satz gähnend leer, wenn er „weder“ als „als“ benutzte.

Dennoch gab es Tage, an denen ein paar Rappen zusammenkamen, vielleicht weil man nach dem eigenen Heuet noch den von Nachbarn zu bewältigen vermochte. Dass der Bauer früh ins Bett ging, um früh aufzustehen, stimmte zumindest damals nicht. Im Alter, in dem ich jetzt bin, hatte mein Grossvater ungefähr vier Stunden Schlaf. Dank dem kam meine Grossmutter dazu, ein paar rare Rappen effizient und originell einzusetzen.

Einmal, als der Küchenschrank nicht ganz leer war, weil man als Pächterfamilie ja auch einiges aus dem Boden ziehen konnte, ging sie zur Drogerie und kaufte Lebkuchengewürz. Sie hatte es satt, ihren Kindern „nichts“ geben zu können.

Sie und die älteste Tochter (1st) standen nun also vor dem ausgewallten Teig, der den ganzen riesigen Küchentisch deckte und wussten nicht, wie sie ausstechen sollten. Es gab nichts im Haushalt, was einer Ausstech-Form nahe kam. Aber dass alle Lebkuchen einigermassen gleich gross werden sollten, war beim Backen mit offenem Feuer eine Bedingung. Grossmutter entschied sich für eine Kaffeetasse. (Diese hatte eher die Grösse einer heutigen Müsli-Schale, womit auch erklärt ist, warum man im Bernbiet noch immer „eine Schale“ bestellen kann und einen Milchkaffee bekommt).

Mit weit ausholenden Bewegungen drehte sie Dutzende von Lebkuchen aus, was zackig zu geschehen hatte, sonst blieb der Teig ja in der Tasse kleben. So buk sie also die vielen, vielen Lebkuchen und sie dufteten besser, als alles, was die Kinder je gerochen hatten und gelangen so zahlreich, dass sie sogar welche in den Schule mitbringen konnten. Aber wo aufbewahren? Weidenkörbe wurden geleert, mit sauberen Leintüchern ausgelegt und in das kühlste Zimmer gestellt. Einen Vorrat an Lebkuchen zu haben, das kam einer Offenbarung gleich.

Meine Mutter, die Perfektionistin, schämte sich, die Lebkuchen ihren Schulkameradinnen und der Lehrerin so ganz ohne Dekoration anzubieten. Aber meine Grossmutter schenkte ihr keine Beachtung und gab so viele mit, dass es für alle und darüber hinaus reichte. Die glanzlosen braunen Kuchen wurden ein Riesenerfolg, die Lehrerin konnte ihr Glück über dieses Geschenk nicht fassen. Denn meine Vorfahren waren ja nicht die einzig Armen im Dorf.

In der Stadt wird umgenutzt – zu Gunsten der Bildung! Hier einige Beispiele:
Aus der Tuchfabrik Schild in Berns Westen wurde die Hochschule für Gestaltung, Kunst und Konservierung.
Aus der Schokoladefabrik wurde Unitobler. Noch immer zieht ein feiner Duft nach Toblerone durch das Haus.
Aus der alten Frauenklinik wurde UniS, Universität Schanzenstrasse. Hier unterrichten nun die DozentInnen, welche im „alten Froueli“ das Licht der Welt erblickten.
Aus der Villa des Berner Chirurgen Theodor Kocher wurde das Haus der Universität. Der Park sei ein Geheimtipp für BlogleserInnen.
Aus der Leinenweberei Schwob wurde ein Forschungszentrum für orthopädische Chirurgie.
Aus der Maschinenfabrik Von Roll wird bald eine pädagogische Hochschule.
Nun müssen wir nur noch die Volksschule verbessern, damit es mit dem Nachwuchs in die Denk-Fabriken klappt.

Berne, Gare l

Fotografiert gegen 08:00 Uhr – auf dem Weg zu meiner Mailbox.

Nachdem ich nun geschlagene 20 Jahre nie einem Kind ein Waffenimitat gekauft habe (ausser eine Wasserspritze in Form eines Fisches), gehe ich heute zu Franz Carl Weber und erwerbe das teuerste Ding, das die anzubieten haben. Auch in normalen Waffengeschäften gibt es ja Imitate, vielleicht gehe ich auch da hin, die Waffenladendichte im verträumten Bern ist ganz ansehnlich.

3rd, male hat noch immer Albträume und besonders suchen sie ihn vor dem ersten Schultag nach den Ferien heim, egal wie sehr er sich auf die Klasse freut. Er wacht schweissgebadet auf, die Tränen laufen an ihm herunter, sein Magen dreht sich nach Stunden der Folter und anschliessendem Aufgeschlitztwerden mit einem Schweizer Sackmesser.

Das sind Zahlen. Vermutlich stimmen sie sogar. Nur komme ich nach einem Jahr Verarbeitung leider zur Erkenntnis, dass die Folgen für Aussenstehende kaum zu erfassen sind. Ich bin jedenfalls meistens mit den gleichen idiotischen Plattitüden aus Unkenntnis konfrontiert, die uns schon in der Situation selber fast das Genick gebrochen haben. Übrigens in jeder Gesellschaftsschicht und trotz aller Studien.

Wir haben uns heute früh vor 3rds Poster von 50-Cent-unverwundbar gestellt und x-mal wie dieser die imaginäre Knarre hinten aus dem Hosenbund gezogen. Ab heute ist sie nicht mehr imaginär und liegt neben 3rds Bett, bis er jeden Täter im Traum erschossen hat.

Rehe an verschneiten Waldrändern sind selten geworden. Als ich ein Kind war, kamen sie in kalten Wintern oft bis an unser Haus heran und knabberten an der Rinde der Obstbäume. Wir beobachteten die scheuen Tiere durch die vereisten Fenster.
In den vergangenen Wochen suchten sich einige Rehe ihr kärgliches Futter an einem Wald- und Strassenrand auf dem Längenberg. Gestern fuhr ich wieder diese Strecke. Die Rehe waren verschwunden. Zwei Jäger hatten ihr Auto am Waldrand geparkt und zogen mit ihren Flinten in die Hügel. Wahrscheinlich gab es „Reklamationen aus der (landwirtschaftlichen) Bevölkerung“. Denn nur so kann ich mir erklären, dass sich die Weidmänner ausserhalb der Jagdsaison auf der Pirsch befanden.
(In dieser Gegend bewahrt man die alten Wolfsnetze in der Kirche auf!)

Hier noch eine Geschichte aus erster Hand:
Vor vielen Jahren nahm ein junger Bauer, dem es in den „Högern und Chrächen“ am Längenberg zu eng geworden war, neben Frau, Kind und Kuhglocken auch eine Katze mit über den grossen Teich. Der Existenzkampf in der Fremde auf einer Farm war hart, das jahrelange Sitzen auf einem mächtigen Traktor zerrte an den Kräften.
Dieser Sohn der Region braucht nun dringend einen Heimaturlaub. Die alte Katze lebt nicht mehr. Aber ihre Urenkelin soll zurück zu ihren längenbergischen Wurzeln reisen dürfen. So wird die Katze in einem Körbchen oben auf das Gepäck gestellt und in einem kanadischen Flughafen Richtung Schweiz verladen. Bei der Kontrolle des Gepäckraumes ist der Käfig leer. Wo ist das Tier? Nach langem Suchen findet man es zerquetscht zwischen den Gepäckstücken. Mit Verspätung kann das Flugzeug abfliegen, allerdings ohne die Heimaturlauber. Es gilt, den Kadaver zu entsorgen, die entsprechenden Formalitäten zu erledigen und einen neuen Flug zu buchen.

So wie ich gehört habe, ist die Zahl der auswanderungswilligen Katzen auf dem Berg sehr zurückgegangen.

Wieviele können wir behalten und im richtigen Moment hervor holen?
Stehe ich in einer langen Warteschlange, überfällt mich oft kurz und heftig die Angst, ich hätte meinen Bankcode vergessen und würde ihn bis und mit dem dritten Versuch nicht mehr finden. Welch ein, wenn auch heimlicher Triumph, wenn ich OK drücken darf! Wie merke ich mir nur all die Zahlen- und Buchstabenkombinationen? Warum sitze ich nicht ständig vor einem schwarzen Bildschirm mit einem gesperrten Handy? Die Welt ist voller Codes und mein Kopf gefüllt mit unbrauchbaren Eselsbrücken, die im dümmsten Moment auftauchen. Da gilt es, Ruhe zu bewahren!
Im Himalaya traf ich eine Tibeterin, welche die eingehenden Essensbestellungen vor sich her sang und nie etwas vergass.
Heute habe ich wieder ein paar neue Codes gefasst. Mein Lied bekommt immer mehr Strophen – vielleicht bin ich selber der Computer?

Jemand hat mir heute 120 Danksagungen geklaut. (Das sind die Karten, die man hier nach einem Todesfall an alle verschickt, welche der Familie ihr Beileid ausgesprochen, kondoliert, haben.)
Ich habe die verschnürte Schachtel mit den wunderschönen Karten, eine Familienarbeit, kurz vor dem Briefkasten stehen lassen – und weg war sie. Viele Stunden Arbeit und einiges Geld für d’Füchs.
Ja, ich wohne in einem Quartier, in welchem sogar Trauerkarten gestohlen werden.
Das ist zum Gränne.
Nachtrag: Auch 2nd2nd females Fahrrad wurde heute „von Unbekannt“ weggetragen. Es stand abgeschlossen vor der Haustür.

Unser Quartier mit seinen BewohnerInnen gibt sogar den alten Häsinnen Rätsel auf. Gerade ziehen Vietnamesen in eine Wohnung unter mir. „Allez-y, Madame!“ geben sie mir im Lift den Vortritt. Ihre Habe stapelt sich bereits auf dem Treppenabsatz: Eine Kartonschachtel voller Kleiderbügel, einige Plastikkessel mit groben Sägespänen und ein blaues riesiges Plasikfass gefüllt mit Wasser!

Vor vielen Jahren bestellte ich 1 Versandkatalog.
Ohne mein Zutun wurden es im Laufe der Zeit immer mehr.
Oft erreicht mich das gleiches Heft doppelt oder dreifach. Wer betreibt eigentlich, gottfriedli, diesen Handel mit den Adressen? Inzwischen fahre ich die Zeitungsbünde mit dem Einkaufswagen zur Sammelstelle. Abbestellen geht nicht. Retournieren bringt nichts. Als Antwort erhalte ich einen weiteren Katalog mit der Aufforderung, doch gleich eine Bestellung aufzugeben und auch eine Freundin zu werben. So käme ich in den Genuss eines – jupi – Gratisgeschenks. Lange Zeit glaubte ich nämlich, Geschenk komme von schenken.
„Äs git nüt gratis“, versuchten mich Lebenserfahrene zu belehren. Soll ich ihnen glauben und Geschenken misstrauen, wenn ich nicht zum Vornherein bereit bin, dafür zu bezahlen?
Heute hat man mir ein „frühlingshaftes Gratisgeschenk reserviert“: eine „Börse mit passender Armbanduhr“.
Kann eine Frau da nein sagen?

Nachtrag: Es gibt noch eine weitere Art von Geschenken: die absolut grosszügigen, passenden, überraschenden, im richtigen Moment kommenden, den Tag rettenden und mein Herz erwärmenden. Von solchen habe ich hier schon geschrieben.

Seit drei Wochen arbeite ich wieder im „Herzen der Stadt“.
Nach langer Abwesenheit gewöhnen sich meine Füsse langsam an das Kopfsteinpflaster. Einige Tage stolperte ich ein bisschen durch die alten Gassen ohne nach rechts oder links zu „kucken“, (wie meine liebe Arbeitskollegin und Freundin Marva sagt). Aber nun habe ich den Blick wieder frei für vertraute Gesichter, grüsse hier, werde da angesprochen, bleibe auch ein Weilchen stehen, trotz der Kälte. Mir gefällt das. Ich treffe mich mit T. Besonders in der Mittagspause hält er nichts von solchen Plauder- und Grüssereien unter den Lauben. Gerne setzte ich mich mit ihm für einen Nussgipfel und Kaffee an den Ecktisch im „Titzi“. Hier ist es ein bisschen eng und düster, aber damit gehört das Tea Room, zusammen mit der Heiliggeist Kirche, über die Mittagszeit zu den ruhigsten Plätzen in der Stadt.
Zurück im Büro, ich recherchiere gerade in der IMDb, erzählt mir mein Arbeitskollege M. von der Bacon Number, von der ich noch nie etwas gehört hatte und die hier wirklich bestens erklärt wird. Kevin Bacon als Schauspieler ist mir auch nur ein vager Begriff. Übertragen auf unsere kleine Stadt, könnte das etwa so aussehen: Nehmen wir an, ich wäre die Null. Dann bekämen alle, die mich direkt kennen die Nummer 1. Wer mich über Personen mit der Nummer 1 kennt, erhält die 2. Ich denke, in Bern eignen sich alle BewohnerInnen als „Zentrum“, d.h., als Number 0 – und über eine 2 kommen wir nicht hinaus.

Springt dein Wagen auf unerklärliche Weise nicht mehr an? Ist seine Batterie plötzlich leer? Verliert er seltsamerweise Öl oder zittert sein Lenkrad? Wenn du dann noch Spuren auf der Motorhaube siehst, stammen die bestimmt von keiner Katze. Sondern von einem Marder. Die verspielten Nagetiere führen ein spannendes Leben. Wie kleine Kinder entdecken sie ihre Welt dadurch, dass sie alles in den Mund nehmen. Ein Motorraum ist für sie wie ein Spielplatz und auch ein warmes Versteck. Egal, ob in einem alten Polo aus zweiter Hand oder in einem roten BMW, wie ihn mein Freund hat. Den muss er jetzt schnellst möglich bestmöglichst reinigen, da sonst ein anderer Marder äusserst wütend werden könnte, falls der BMW in seinem Revier zu stehen käme. Olala, er kann die Duftsekrete seines Rivalen aus 50 km Entfernung riechen, vergisst alles andere und zerbeisst alles im markierten Gebiet der Konkurrenz, was ihm zwischen die Zähne kommt. Ich hab noch nie einen Marder zu Gesicht bekommen, höchstens ein schneller Schatten an der Wand. Aber sie scheuen die Stadt schon lange nicht mehr und leben unter uns. Unheimlich.

Die Zeit der Verzweiflung * Holz berühr * ist um! Langsam komm ich in die Phase des Lachens. Meine Schwiegerfamilie schafft es immer und immer wieder, Anschuldigungen gegen ihren Sohn, meinen zukünftigen Mann, zu machen. Das Neuste seit er Hausmeister ist: sie behaupten, dass ihre Post zuerst in seinem Hauswart-Briefkasten landet, er sie liest und sie anschliessend in ihren Briefkasten „weiterleitet“. Oder sie beschimpfen ihn, weil eine Nachbarin eine Dankeskarte an meine liebe Mutter in ihren Kasten geworfen hat. Das ist doch jetzt wirklich lächerlich? Es gibt doch im Block genügend Probleme, als dass man sie erfinden muss? Z.B. meine brasilianische Namensvetterin, die seit dem Dreikönigstag nicht mehr gesehen worden ist.

Himmel und Erde

Weil ich ja nicht nur die Tote, sondern auch den Lebenden besuchen wollte, bin ich vom Friedhof noch hinauf zu Grossvater. Die Tür war offen, alles glänzte, Feuer und Licht brannten – einfach einladend. Grossvater war frisch rasiert und gut angezogen. Er lag auf seiner Seite des Bettes wie eh und je und schlief. Ich liess ihn in Ruhe; er hat weissgott viel nachzuholen.

Auf der Heimfahrt in die Stadt hat mir Johnny Cash ein passendes Lied gesungen.

***

Lesenswerter Nachtrag: Kaltmamsell hat gestern ihre Oma beerdingt, Schnappschüsse aus deren Schubladen inklusive rückseitiges Gekritzel gescannt und gezwungenermassen einen Selbstversuch gemacht und mit ihren Neffen geschauspielert.

Die Hochnebeldecke in der vergangenen Woche ist schuld an der besonders abgasgeschwängerten Stadtluft. Beinahe täglich werden die Grenzwerte überschritten.
Während man in der Stadt besonders nachts hustet und Gästebetten zerwühlt, darf ich über dem Nebel saubere Landluft einatmen. Denn die Russpartikel der ungefilterten Dieselmotoren und Holzöfen können sich in der Höhe besser verteilen.
Trotzdem bleibe ich von Feinstaub ganz anderer Art nicht verschont. Wenn die weit verzweigte Familie sich nach vielen Jahren zu einem Begräbnis trifft, steigen Partikel von Missverständnissen, Meinungsverschiedenheiten, Enttäuschungen, Neid, und Egoismus auf. Das sei bei Hochzeiten nicht anders, meint meine Bekannte. Da passe man auch auf wie ein Häftlimacher, lege jedes Wort auf die Goldwaage, behandle die empfindlichen Gäste wie rohe Eier. Manchmal gelinge es einem trotz aller Mühe nicht, dass die Kirche oder die Moschee im Dorf bleibe. Ihr Mann jedenfalls habe sich auf unbestimmte Zeit zu seinen Verwandten in die Wüste Afrikas abgesetzt, denn er ertrage es nicht, dass seine Tochter, seit einigen Tagen eine muslimische Ehefrau, immer noch so vorlaut sei, ja, dem Vater sogar in aller Öffentlichkeit widerspreche, wie vor ihrer Heirat.

Ich habe meinen Schwager, den neuen Abwart im benachbarten Block, auf der Arbeit besucht. Er war von mehreren älteren Damen belagert und trug es mit Fassung. Nicht ohne auch die Kinder im Blick zu behalten, die gerade im Begriff waren, mit einem Riesenschneeball die Eingangshalle zu entern. Die gezielte Frage des neuen Abwarts an den Jungen, der sie unter dem Arm trug: „Wo willst du mit dem Schnee hin?“ tat ihre Wirkung sofort, und der Junge liess den Schnee draussen.

Eine lustige Witwe nutze diese Gelegenheit, mir ins Ohr zu flüstern:

Also man darf das ja nicht laut sagen, aber wenn die Beschäftigungslage nicht so schlecht wäre, hätten wir niiieee einen so jungen bekommen!

Und sie lachte glücklich.

Auf dem Leidzirkular war Grossmutters Lied, das im Original nicht Berndeutsch, sondern Solothurnisch ist.

S’ het daheim e Vogel gsunge
I dr Hoschtert vor em Huus
Ha ne wölle faa mit Hände
Bin ihm na, dür d’Hoschtert uus.

***

Bi du gly i d’Frömdi gange
Wo ne andre Vogel singt
I ha glost, ob us dr Heimat
Mir dr Wind es Liedli bringt.

***

Bi du wider hei zue gange
S’isch dr Vogel wo my zieht
Wott ne nümme faa mit Hände
Ghört i nume no sys Lied.

– Grosis Lied.

Den Lebenslauf begleiteten zwei Lieder der Jodlergruppe „Echo vor Gibelegg“, eines über Heimatlosigkeit und eines über den Sommer der vergangen ist und wiederkehren wird. So passend zum Leben meiner Grossmutter, deren Kindheit mit sieben Jahren durch Verdingung beendet wurde, dass sogar der Chor mitgeweint hat.

Nach dem Lebenslauf sangen wir alle: So nimm denn meine Hände, Strophe 1, 2 und 3.

Und nach dem (1st verhassten) „unser Vater“: Grosser Gott, wir loben dich, die Strophen 1, 2 und 10. Auf Pfarrers Frage, warum denn die 10. und nicht die 3. wie üblich, sagten wir, dass die 10. auch mal gesungen werden wolle, dänk:

Alle Tage wollen wir
dich und deinen Namen preisen
und zu allen Zeiten dir
Ehre, Lob und Dank erweisen.
Rett aus Sünden, rett aus Tod,
sei uns gnädig, Herre Gott.

Bevor wir die Kirche verliessen, sang die ganze Trauergemeinde vierstimmig (und falsch, wie meine Mutter meinte und meine Schwester bestritt,) den Kanon Vom Aufgang der Sonne.

Lebenslauf Johanna

...am Vorabend seiner Demontage

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