Gelassene Federn

Wenn der „Bären“ geschlossen ist und auf dem Friedhof und um die Klosterruinen tiefer Schnee liegt, ist im Dorf nichts los.
In den Sträuchern an der Südmauer der Martinskirche taumeln die Bienen und sumherumsen wie verrückt.
Der senkrechte Riss im Mauerwerk des Gotteshauses ist kaum zu sehen. Hoffentlich bleibt alles weitere tausend Jahre auf Fels gebaut.
Vor der Seitentür liegt ein zerbrochener Grabengel. Ab und zu rutscht ein Walm Schnee von einem Dach.
Später klettere ich die enge Stiege des alten Hauses hinauf auf die Bühne. Einige glänzend blaugraue Federn liegen auf dem Boden – der Rest einer Mardermahlzeit.
Zusammen mit Schwestern und Nichte kehre ich ich im „Gschneit“ ein, die Einheimischen sagen „Gschniit“ (geschneit – was natürlich im Sommer weniger passt). Ich bestelle das letzte Menue „Suure Mocke mit Härdöpfelstock“, was ein typisches Winteressen ist. Am gegenüberliegenden Hügel beim Tavel-Denkmal wird geschlittelt wie zu des Dichters Zeiten: ohne Lift, dafür mit einer sagenhaften Aussicht auf die Berge.

(mehr …)

Endlich und kurz vor Beginn der Segelsaison ist er zurück,
neu gepolstert und überzogen, das Holz aufgefrischt.
(Der einheimische Sattler hats geschafft).

(mehr …)

„Auso, die Frou z’strähle, isch e richtegi Herusforderig für mi“,
erzählt mir meine Schwester Rosy, die Betagtenbetreuerin.
„Zersch muesch am Hingerchopf ds Haar quer scheitle, nächhär züpfle u d’Sitefäcke uf enes Strähli liire. Ds Ganze hinger dr Scheitle zimlich obe druf befeschtige. Ds Vorderhaar uf enes grössersch Kämmli hingere stecke über ds angere Kämmli. So, das es das deckt. De gits e Querbanane, nid so, wie bi dr Grees Kelly, sondern äbe quer, vom lingge Ohr zum rächte. Wes nid guet oder z’fescht isch, schriisst d’Frou aus ache.“

Heute schneit es wieder einmal was abema. Eine alte Frau in Hausschuhen und keckem Jägerhut stapft vor mir durch den Schnee. Sie zieht ein Wägelchen, beladen mit einem grossen Wäschekorb hinter sich her. In der Hand trägt sie zwei Kesselchen mit Waschpulver.
„Müesst de öppe Chöttine montiere, Frou Sturzenegger“, wird die Wäscherin von einigen Nachbarn geneckt. Diese stehen schwatzend auf dem verschneiten Weg. Sie tragen wasserdichte Pelerinen und Filzhüte und schieben mit ihren Stiefeln Muster in den Matsch, während ihr Bassetmischling keine Lust auf Wald zu haben scheint und an Ort scharrend vergeblich an der Leine nach Hause strebt.
„Dä wott no nid ufgää“ lacht Frau Sturzenegger, hebt die Kesselchen gegen den Himmel und biegt ab zum Waschhaus zwischen den Rehenhäusern.
Block ist Block, könnte man meinen, und ein Quartier mit derselben städtischen Postleitzahl ist doch Hans was Heiri. Das finde ich nicht.

Mit dem frühmorgendlichen Durchqueren von Baustellen, dem Übersteigen von Schutt und Pfützen, den Umleitungen über provisorische Fusswege ist es vorbei. Ich beginne meinen Tag mit einem Spaziergang entlang verschneiter Gärten. In der Gegenrichtung unterwegs sind einige Hausfrauen in wetterfester Kleidung. An der Leine werden sie von ihren ungestümen Hunden Richting Wald gezerrt. Das Auto eines Malergeschäfts biegt in den Weg ein. Der Lehrling, blass und übernächtigt, hebt eine Schleifmaschine aus dem Kofferraum.
Kurz vor der Bushaltestelle begegne ich „meinem“ alten Schreiner. Er sei jetzt pensioniert und froh darüber, weg vom „Gstürm“ zu sein. Heute werde man einfach von der Liste gestrichen, wenn man mit den Preisen nicht „unghür“ tief gehe, so dass man selber kaum mehr existieren könne. Die Schneeflocken bleiben in seinem Haar und dem weissen Schnurrbart hängen, und er schüttelt sich wie ein müder Bernhardiner. Jahrelang hat er im Block Fussleisten montiert und einige hundert Schranktüren repariert. Daran denkt er gerne zürück. Aber wenn das Rentieren über dem Menschlichen stehe, möge er nicht mehr mithalten.

Das war heute die Frage bei „Aussichten aus dem 16. Stock“.
Aus praktischen Gründen, weil Saison unabhängiger, habe ich „Berg“ gewählt.

Im Osten Helles

„Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer!“ aus den frühen achziger Jahren bleibt trotzdem eines meiner Lieblings-Graffitis;-)

Die Haut der Männer ist müde und muss nur munter gemacht werden. Die Haut der Frauen altert und wird gestrafft.
„Hoffart muss leiden“ hat uns Mädchen die Grosstante aus dem Bowil gelehrt.
Es war die, welche zum Honig ein Messer ohne Brot auftische und sagte:
„Näht fräveli bis gnue.“
An eine Honiggesichtsmaske hab ich damals nicht gedacht – schade.

Eine Gruppe Arbeiter zieht vor meiner alten Eingangstür das Baugerüst hoch. Ihre gemeinsame Sprache ist „Ho“, eine Art Esperanto für Bauarbeiter aus den unterschiedlichsten Ländern. „Hoo“, schreit einer, und schon fällt ein Brett krachend vor meine Füsse. Ich stosse ein erschrockenens „Ho“ aus. „Ho, Ho, ho“, wird nach oben gemeldet. Mit „Hoho“ gib mann mir den Weg frei. Die Kehrichtkübel sind bereits abgeschraubt worden. Überall liegen Büchsen, leere Chipstüten und Werbungs-Flyer. Der Lift ist unglaublich schmutzig. Es werde nicht mehr geputzt. Die Verwaltung finde, die Mieterinnen und Mieter sollten einmal mit ihrem eigenen Dreck konfrontiert werden, erzählen mir die Nachbarn. Ich fahre in meine blitzsauber geputzte Wohnung, poliere noch einmal alle Lichtschalter, Klinken, Kleiderstangen und fege das Treppenhaus mit einem warmen Schmierseifenwasser bis hinunter zum Lift. Bald erscheint der Liegenschaftverwalter und beginnt seine akribische Schmutzkontrolle.

(mehr …)

Die Wohnung ist kaum wieder zu erkennen. Die Zügelkisten stapeln sich, und ich bin bei ihrem Anblick ein bisschen frustriert. Davon, dass ich vieles verschenkt und entsorgt habe, ist absolut nichts zu sehen.
In den Pack-Pausen besuche ich meine Lieblingsblogs, schreibe an Freunde, die froh wären, wenn sie nur umziehen müssten und daneben keine ernstlichen Sorgen hätten.
Die letzte Weihnachtfeier im 13. Stock war sehr schön. Ohne die Hilfe der Männer, die im blogk nicht häufig anwesend sind, hätte es nicht so gut geklappt. Sie haben eingekauft, Baum geschmückt, gebacken, gekocht, Kinder unterhalten und gewickelt, musiziert und gesungen.
Merci beaucoup!
(mehr …)

Ich weiss nicht mehr, welches Schicksal die frühere Lehrerin dazu zwang, als Wäscherin in einem Erziehungsheim zu arbeiten. Von Waschen, Stärken, Bügeln und Glanderieren verstand die alte Frau eine Menge. Sie bewohnte ein Zimmer unter dem Dach, welches sie regelmässig mit sauberen Zeitungen auslegte. Die meiste Zeit verbrachte sie aber in der Waschküche oder im Bügelzimmer, plättete die weissen Hemden und Blusen der Heimleiterfamilie, nahm sich der handgestickten Monogramme auf Oberleintüchern und den Spitzen von Vorhängen und Tischdecken an. Unter den Angestellten hatte Frau L. keine Freunde, sie mied die Lehrerinnen und Lehrer der internen Schule, und die Zöglinge gingen ihr aus dem Weg. Manchmal hatte sie seltsame Träume, die sie den Wäschebergen erzählte. Ging es dem Herbst entgegen, kaufte Frau L. allerlei Kindersachen. Sie machte dann kleine Päckchen, nicht schwerer als ein Kilo. Nie packte sie zwei Tigerfinkli zusammen ein. Sollte das Paket an der Grenze geöffnet werden, würde es Dieben recht geschehen, wenn sie nur ein Schuhchen fänden. Es dauerte ein paar Wochen, bis Frau L. sich entschliessen konnte, die Päckchen abzuschicken in dieses fremde und wilde Land, wo ihre Enkelkinder lebten. Danach begann ein langes Warten. Werden die Tigerfinkli, Leibchen und Socken ankommen?
Welche Freude und welcher Stolz, wenn Dankesbriefe, Zeichnungen und Fotos gegen den Frühling die Schweiz erreichten. Nur sehr wenige durften einen Blick auf die kostbare Post werfen. Und nur wenige Auserwählte durften eine gefüllte Dattel aus dem Zweistromland probieren.
(mehr …)

Schirennen 1970
(Quartier-Fotoarchiv)

… die Bäume jung und Marlboro noch unschuldig waren.

(mehr …)

An der Bushaltestelle steht ein kleiner Traktor, dessen Motor im Stand läuft. Ich schaue mich nach dem Fahrer um. Niemand weiss, wem das Gefährt gehört. Inzwischen läuft der Motor schon vier Minuten, wie ich an der elektronischen Bus-Anzeigetafel ablesen kann. Endlich kommt ein Arbeiter mit einer Kabelrolle vom nahen Bauplatz. Nein, der Traktor gehöre ihm nicht. Nein, er könne den Motor nicht abstellen. Das sei auch nicht nötig, denn davon gehe die Welt gewiss nicht früher unter. Ein anderer Mann kommt hinzu und belehrt mich, dass es viel schädlicher sei für die Umwelt, den Motor ab- und wieder anzustellen.
Als ich nach sechs Minuten in den Bus steige, läuft der Motor immer noch.
Mit mir sind auch viele Schulkinder, die zukünftigen Autofahrerinnen und Autofahrer eingestiegen.
Bei wem werden sie lernen, auf die Umwelt acht zu geben?

Lichter zum Geburtstag

Immer im Dezember, an den Geburts-Tagen meiner Töchter, zünde ich in aller Frühe eine Kerze an und stelle sie auf die Balkonbrüstung. Ein winziges Licht inmitten der nächtlichen Blöcke. Für mich ist es ein Moment, um an die vergangenen Jahre zu denken. Von hoher Warte aus konnte ich jeweils ein Auge auf die spielenden Kinder werfen und zur Stelle sein, wenn ihr schrilles „Iiimaaa“ ertönte.
Heute habe ich das letzte Geburtstagslicht auf diesem Balkon angezündet. Es fallen kleine nasse Schneeflocken, aber die Kerze brennt ruhig weiter.
Alles Liebe und Gute fürs neue Lebenjahr!

Bereits ab dem 5. Januar sollen diese beginnen. Eigentlich wird seit vielen Jahren in meiner Umgebung gerodet. Es ist nicht sicher, dass die Rebe die kommenden drei Jahre überlebt. Einigen der Bauherren scheint sie ohnehin ein Ast im Auge zu sein, obwohl sie Vogelnester beherbergt und den Menschen mit den Wohnungen direkt am Hochkamin den Ausblick verschönert. Er war nur die fehlende vierzig Meter hohe Leiter, welche die Kletterpflanze vor dem Abriss rettete. In Kürze wird ein Kran aufgestellt …
Nach den Rodungen wird in den meisten Fällen sauber geteert und betoniert, was nicht immer auf den ersten Anhieb klappt, wie es die diversen Flickarbeiten an neuen Stufen, neuen Plätzen, neuen Wasserabläufen, neuen Bänken zeigen.
Auch an diesem Gebilde „WederBrückenochDach“ wird immer noch gewerkelt. Die Fahrer, welche die Baumaterialien dafür liefern „lachten sich darüber einen Schranz“, wie mir einer selber erzählte.
Im Gegensatz zu mir glauben meine Kinder nicht, dass sich Meister Le Corbusier ob all der neuen Hässlichkeit in seinem Grabe umdreht.
„Sind das Ahorne?“ frage ich die Gärtner, welche zwischen zwei Strassen einige Bäume anpflanzen. „Nein, das hier ist ein Liriodendron tulipifera“, kommt es dem einen federleicht über die Lippen, „ein Tulpenbaum“.
He nu, da sind wir wenigstens auch in den Bäumen multikulti.

Um die Schwierigkeiten des Schweizerdeutschen zu demonstrieren, verlangt man oft von „Fremden“, dass sie „Chuchichäschtli“ nachsprechen. Dieses „Chu-chä“ hats wirklich in sich, ist aber kein Ding der Unmöglichkeit.
Einige indische Bettler überraschen die helvetischen Touristen bei deren Gang zum Tempel mit einem akzentfreien „Chuchischäschtli“, was meistens belohnt wird. Hier ein amüsanter Link zum Dialekt und Sie wissen, wo Sie sprachlich beheimatet sind. Ich kam direkt zu meinem Heimatort ins tiefste Emmental, welcher über eine äusserst erfolgreiche Damen-Korbballmannschaft verfügt 😉

Um für Westside Webung zu machen, werden keine Kosten gescheut. Ist dieses Plakat nicht traumhaft, mit fröhlichen Menschen in weichgespülten Kleidern, neben unberührten Hügeln mit verschneiten Tännchen und im Hintergrund der Stall der kristallene Tempel?

(mehr …)

Neben mir im „Habicht“ sitzt eine kleine sehr alte Frau auf einem Kissen. Ein weiteres Kissen stützt ihren Rücken. Die Kellnerin hat ihr den Rest des Gratins eingepackt: „Das können Sie ja zum Zvieri essen.“
Sie sei zum ersten Mal in diesem netten Restaurant, obwohl sie nicht weit weg über dem Bärengraben wohne. Behend erhebt sich die alte Frau, will nicht, dass man ihr Platz macht. Und während sie sich aus der Eckbank „fädelt“, erzählt sie ihre Geschichte.
Sie sei zwar über neunzig, aber zum Glück noch sehr beweglich. Mit 88 habe sie das Eggishorn bestiegen. Dann sei aber Schluss gewesen, ein bisschen traurig, aber so schön in der Erinnerung. Ihr erster grosser Traumberg war das Matterhorn. Dafür habe sie sich in Zermatt akklimatisiert, sei jeden Tag in der dünnen Luft gewandert und geklettet. Dann, eines Morgens, als das Wetter günstig war, sei sie mit dem Bergführer Bruno in der Dunkelheit aufgestiegen über den Hörnligrat zum Gipfel, einfach unvergesslich und unbeschreiblich. Noch heute sei der Berg eine alpine Herausforderung und werde leider völlig unterschätzt.
Als jüngste von vier Kindern sei sie ledig geblieben. Sie habe sich ganz dem Bergsteigen gewidmet, was mit einer Familie nicht möglich gewesen wäre. Über die Zeit, als die Frauen aus dem Schweizerischen Alpenclub ausgeschlossen blieben kann sie hinterher nur lachen. „Die Männer waren doch nur eifersüchtig.“
Ihre junge Begleiterin, eine Bergkameradin, bringt ihr das Mäntelchen. Ohne hinzuschauen schnallt die Pionierin die Gurtschnalle zu, greift nach dem Eispickel Stock, verstaut die in Alufolie eingepackte Wegzehrung im Beutelchen und macht sich leichten Schrittes und blitzenden Auges auf den Heimweg. Nicht, ohne gedankt zu haben für offenes Ohr, Interesse und Sachverstand.

(Gründung des SAC 1863, Ausschluss der Frauen 1907, 1918 gründen die Frauen einen eigenen Verein SFAC, Zusammenschluss 1979, Fusion tritt 1980 in Kraft)

Drachen

Die Lätteli-Phase meiner eigenen und den zahlreichen zugewandten Kinder dauerte ziemlich lange. Das bedeutete, dass die Gemüseschublade unseres Kühlschranks jahrelang Lehmblöcke statt Grünzeug enthielt.
Nach einigen Aschenbechern und Blumenvasen aus Lehmwürstchen wurde immer grosszügiger aufgebaut.
Heute habe ich diese hier dem Wetter preis gegeben. Ungebrannt und schwer wie die Figuren sind, würden sie einen Umzug nicht überstehen.

(mehr …)

Es ist nicht anzunehmen, dass das Schriftchen in den vergangenen 130 Jahren oft gelesen wurde. Auch bezweifle ich, dass es in den nächsten hundert Jahren mehr Beachtung finden wird. So gesehen, könnte man es wegwerfen. Mein Auftrag ist zum Glück ein anderer. Ich habe es mit dem Pinsel entstaubt, ihm die umgebogenen Ecken glatt gestrichen, es katalogisiert und in einen säurefreien Umschlag gesteckt, nicht, ohne vorher einen Blick auf ein Stück Berner Sozialgeschichte zu werfen:

Im Laufe des Jahres 1876 hatten, in Folge der Liquidation der 2 Bankgesellschaften für Arbeiterwohnungen in der Länggass und Lorraine, die Mietzinse für derartige Wohnungen, besonders in diesen Quartieren, einen ganz unerhörten Preis erreicht.
In der Länggasse war mit einem Schlage der Miethzins für zwei Zimmer mit Küche von Fr. 300 auf Fr. 400 erhöht worden und in der Lorraine wurde für 1 Zimmer mit Küche Fr. 300 bis 320 jährlich gefordert und zwar vielfach für Lokale wie sie gesundheitsschädlicher nicht wohl gedacht werden können.

(mehr …)

Bern West aufgewertet

Einige hatten schon eins, aber wir hatten wochenlang keins. Mit der Faust im Sack Geduldig standen wir an der Bushaltestelle ohne Sitzgelegenheit, und bei Regenwetter noch unangenehmer, ohne Dach über dem Kopf. Nun hats endlich geklappt mit Dach und Bänkli. Darüber sind wir froh und bankbar. Ergeben schauen wir zu, wie sich der Lack subito davon macht und haben keine Kraft, ihm das auszureden.

« Vorherige SeiteNächste Seite »