Von hier nach dort


Wir haben auch Ferien von den grossen Zeitungen. Die Weltpolitik kommt hier höchtens als Spot vor. Wir sind eingetaucht in die Region der Kleinstereingnisse, in Nîmes, Uzès und Camargue.

Am 11. Juli im „Midi Libre“:

In Aubais haben Arnaund und Amandine ein Tierheim eröffnet. Die „Pachas à quatre pattes“ ruhen sich auf kleinen Bettchen und in winzigen Iglu-Zeltchen aus, werden von den Pflegeeltern gehätschelt und nach allen Regeln der Kunst von Flöhen und Langeweile verschont.

In Nîmes demonstrieren die Schülerinnen des Lycée Daudet gegen die Ausschaffung von Dhiego Teles Da Silva nach Brasilien. Gegen Mittag fällt ein Hund in den Kanal. Ein Spaziergänger wirft sich sogleich („aussitôt jeté à l’eau“) ins Wasser, um ihn zu retten. Hund kommt ohne Hilfe an Land, Mensch wird von der Feuerwehr aus dem Kanal gefischt.

In Uzès beginnen die „Nuits musicales“ mit Werken von Mozart, Scarlatti, Bach und Vivaldi. Das Orchester ist aus Lausanne angereist.

In Saint-Quentin-la-Poterie ist Darcy J. Sears zu Gast, eine Keramikerin aus Kalifornien. Bei einem „Petit déjeuner“ kann man sie kennenlernen.

In Baucaire werden acht jüdische Überlebende mit der Ehrenmedaille der Stadt ausgezeichnet. Sie gehörten zu den Flüchtlingen auf der „Exodus“, welche vor 60 Jahren vor der Küste Haifas von den Engländern festgehalten wurde. Erst ein Hungerstreik machte die politische Situation unangenehm genug, dass man die Flüchtlinge in Palästina an Land liess.

Unbill hat die Einwohnerinnen von Baucaire heimgesucht: Ihr geliebtes Wahrzeichen, der Bronzestier Goya von Baucaire, wurde von Vandalen einseitig enthörnt.

In Saint-Gilles wird für die Seniorinnen des städtischen Betagtenheims ein Grillfest auf der „Manhade Bilhan“ organisiert. Die Alten tanzen glücklich und feiern den 75. Hochzeitstag ihrer Mitbewohner Monsieur und Madame Tessier.

In einem Freundschaftsspiel schlägt die Fussballmannschaft Nîmes die von Arles 2:1 im Stade Secondi in Manduel.

In Montpellier arbeiten 350’000 Bienen, deren Körbe auf einem Hoteldach stehen. Diese produzieren speziellen Honig aus den Blüten der Parkanlagen der Stadt. 2009 wird der Weltkongress der Bienenzüchter „Apimondia“ hier stattfinden, unter anderem weil die urbanisierten Bienen weltweit auf grosses Interesse stossen.

Am Ende finden sich noch zwei kurze Berichte über das Weltgeschehen: Der Sarkozy-Besuch in Algerien und die Kämpfe um die Rote Mosche in Islamabad.

Und was wäre „Midi Libre“ ohne Zizou? Auf S. 9 der Sportbeilage kommt er endlich! Zusammen mit dem Amateur-Rugby-Spieler Guillaume. Dieser traf Zidane bei einem TV-Spot-Dreh in Madrid und hat ihm eine erste Rugby-Lektion erteilt. Wer weiss, was uns hier noch wartet.

Über mangelnde Transparenz können sich Reisende mit der Deutschen Bundesbahn wirklich nicht beklagen. Die Störung am Triebkopf wurde sofort gemeldet und später – Merkur sei gepriesen – auch behoben. Einige Zeit gabs keine weiteren Durchsagen, denn die Sprechanlage war defekt. So fläzten wir uns ahnungslos in den bequemen Sesseln der ersten Klasse! Aber dann hielt der Zug vor Mannheim inmitten herbstlicher Weiden: Leute auf den Gleisen!! Vor Karlsruhe gabs einen Unterbruch im elektronischen System: „Leider haben wir keinen Überblick über die Reservationen!“ Wenig später kam die Menue-Durchsage: gefüllte Pfefferschoten und Schweinsmedaillons an Basilikumsauce, dazu ein roter Wein. Wir sollten uns doch verwöhnen lassen und die Ruhe geniessen. Ihr ICE-Speisewagen-Team.
Mit den Pfefferschoten wurde es nichts, da sich bereits in Frankfurt die Laptop-Fraktion an den Esstischen niedergelassen und aus dem Speisewagen ein Büro gemacht hatte. Wir verzehrten die wenigen Käse-Kresse-Eierbrötchen aus der Bordküche. Inzwischen brachen wir bei jeder Durchsage in Gelächter aus. In Offenbach streikte Tür 1L. Man suchte den Schlüssel und konnte sie dann von Hand abschliessen. Allerdings liess sie sich auf dieser Reise nicht mehr öffnen.
Bevor der Zug in Basel einfuhr, bat uns die freundliche Stimme im Lautsprecher um Entschuldigung für die Signalstörung vor Hannover und wünschte in Deutsch und Englisch zum letzten Mal „trotzdem gute Fahrt“.
Der Nachtzug über Bern nach Rom hatte den verspäteten ICE abgewartet. „Nur mit der Ruhe,“ meinte der Schaffner, als er uns schwer bepackt heraneilen sah. Wir lachten bis nach Bern.

�©cologique

Hier ein Aprikosen- oder Pfirsichstein, dort eine zerbrochene Muschel, ein zerquetschter Pingpongball, ein bröselnder Zuckerwürfel. Ich sortiere Wäsche und Erinnerungen an die Ferien. Im „Le Midi libre“ wurde man gebeten, Kleider und Schuhe nach jedem Aufenthalt am Strand gut auszuschütteln, damit nicht jedes Jahr Tausende Kilos Sand „abreisen“. Ich klopfe deshalb nur wenige Körnchen aus den Taschen.
In diesem Sommer verschwanden die Plastikbeutel aus dem „Super U“. Mehr als dreissig Jahren lang wurden sie gratis abgegeben und nach Gebrauch meist vom camarguesischen Wind „entsorgt“. Sie verfiengen sich dann in den naturgeschützten Pflanzen, schwammen auf Etangs und Kanälen.
Die Neuen kosteten 30 Cents. (Die Frau an der Kasse „signierte“ den Strichcode von Hand: bezahlt.)
Oft waren die Taschen ausverkauft. Ich glaube, dass nicht wenige unter Schweizer Weihnachtsbäumen und auf Geburtstagstischen landen werden. Denn die vorausplanende Schweizerin denkt in den Sommerferien bereits an Weihnachten 😉

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Auf der Postkarte sind drei stolze Stiere, zwei Flamingos, durchs Wasser galoppierende Camargue-Pferde, ein Reisfeld und dürre Bäume zu sehen. Letzteres erinnert mich an das gestrige 10 vor 10, in dem ein Beitrag „Auch der Wald leidet in der Hitze“ gezeigt wurde.

Ich habe gehört, 3rd habe seine Kiste Bücher, die er für den ganzen Ferienmonat ausgewählt habe, schon lange gelesen. Es scheint, dass er nun Erwachsenenliteratur und die französische Zeitung liest. Er schreibt in seiner regelmässigen zusammengehängten Schrift:

Hallo 2nd2nd, female, hallo 2nd2nd, male
Bei uns in Frankreich ist es so heiss, dass in der Zeitung steht: Lundi: Chauffé, Mardi: Brûlé, Mercredi: Fondu! Aber es ist trotzdem schön, ich habe auf dem Camping schon viele Freunde.
Viele Grüsse 3rd
P.S.: Gib Bescheid, wenn das Kindlein schon früher kommt!

Darunter stehen 1000 Grüsse von 2nd, female mit einer strahlenden Sonne verziert.

Die ganze Welt spricht davon und eben erhielt ich auch eine SMS von 1st aus der Camargue:

„Midi Libre.“ 13. 07. 06: Zizou: „Je m’excuse auprès des enfants et des éducateurs…“ Dieser Kopfstoss sei unentschuldbar, aber bereuen hiesse für ihn, Materazzis Worten Recht zu geben, „…et il n’avait pas raison!“

2nd, male sitzt zu Weiterbildungszwecken in einem deutschen Kaff, das sich die S-Bahn mit einem anderen deutschen Kaff teilen muss und es deshalb nur nach längerem Fussmarsch zu bewerkstelligen wäre, in ein etwas grösseres deutsches Kaff zu kommen, was am freien Abend zeitlich nicht reicht, weil die letzte S-Bahn schon sehr bald wieder zurückfährt, weshalb er die Freizeit im Ursprungskaff verbringt. Mein urbaner Eindruck von Deutschland trügt ganz offensichtlich.

2nd2nd, female hingegen ist zufrieden: „Salam nga Kosove!“ schreibt sie und dass es schön ist und der Flug in Ordnung war. Natürlich hat sie im Flieger eine andere Familie aus dem Blogk getroffen. Deren Tochter hat ihre fünf Halbtage (für Feiertage anderer Kulturen gedacht) eingezogen und macht damit eine Woche Ferien, obwohl überhaupt keine Schulferien sind. Da die Schulwoche aus mehr als fünf Halbtagen besteht eine Rechnung, die nur mit einer der zahlreichen Grossmutter-stirbt-gerade-Lügen aufgeht. Integrations-Pech, dass inzwischen sogar Schweizer Lehrerinnen Kosovaairlines fliegen und blöde Fragen wie „warum bist du nicht in der Schule?“ stellen. Im Moment bleiben auch 2nd2nd female & male lieber drin, es hat schlicht zu viel Schnee, um sich fortzubewegen.

Nie mehr Mangel

Kein Nebel mehr.

Grossmutter lebte vom 30. August 1922 bis am 10. Januar 2006.
Ein Leben von Klarheit und ein ebensolcher Tod.

Foto: Driss Manchoube, 1983

Vor zwei Jahren ist meine Freundin gestorben.
Sie war Lektorin und Kummermutter zahlreicher schreibender und malender KünstlerInnen. „Rosmarin“, wie sie von einem bekannten Maler genannt wurde, hasste selbst im kältesten Winter warme Jacken, Mäntel und Schuhe. Als ich ihr einen Schal aus pistaziengrüner Alpakawolle strickte, legte sie diesen in den Kofferraum ihres Autos zu den Büchern, dem Hundefutter, den Sämereien aus ganz Europa, der Ralf-König-Uhr, den Süssigkeiten und den Spielsachen für die Kinder ihrer Freundinnen.
Rosmarin liebte Tiere über alles und konnte keines leiden sehen. Als sie auf der Strasse einen Bauern seinen jungen Esel schlagen sah, kaufte sie ihm das Tier ab, besorgte eine Milchflasche, stellte den putzigen Grauen mit den Hinterbeinen auf den Notsitz des Sportwagens, legte sich seine Vorderbeine über die Schultern und fuhr, unbehelligt von sämtlichen Grenzwächtern, von Kroatien in die Schweiz.
(Der Esel wurde von Dorfpfarrer aufgenommen.)

Für den zugelaufenen Hund „Nablus“ (genannt nach der 1967 verdunkelten westjordanischen Stadt), bezahlte sie die teure Reise von Israel in den Aargau.
Auf einer nebligen südfranzösischen Nebenstrasse hielt sie einmal an, um einem Familienzirkus, dessen Kamele, Zebras und Lamas in einem Obstgarten weideten, eine Futter-für-die-Tiere-Geldnote und einen Kilosack Früchtebonbons (aus dem Kofferraum) für die Kinder zu geben.
Neben den Vierbeinern wurden auch Bücher von Rosmarin gerettet. Diese türmten sich an den Wänden in ihrer Wohnung, umrahmten das Bett, wurden auch zu „Möbeln“, und jedes hatte seine eigene Geschichte.
Kurz vor ihrem Tod bat sie mich, für die Bücher zu sorgen, denn die Verwandten wollten nichts von dieser „Morerei“ wissen, hatten damit gedroht, alles in den Müllcontainer zu schmeissen.
Zusammen mit meinen Kindern versprach ich, dies zu verhindern.
Kaum war Rosmarin beerdigt, kamen die Leute vom Dorf mit Wäschekörben und schleppten die Bücher, die ihnen gefielen ab. Die Verwandten hatten sich so den Container erspart.
Aus dem Rest habe ich mit meiner Familie eine Rosmarin-Gedenk-Bibliothek zusammengestellt.
Manchmal greife ich ein Buch heraus, eines mit Hundekratzspuren oder einem verblassten Kaffeefleck und merke, wie sehr sie uns fehlt.

Sollte ich „im Ausland“ in finanzielle Schwierigkeiten geraten, müsse ich es sagen und er werde ein Rindli verkaufen, meinte mein Vater beim Abschied.
Mit dieser Reiseversicherung machte ich mich vor vierzig Jahren auf den Weg nach Osten. Einen sperrigen Überseekoffer mit Blechbändern verstärkt hatte ich schon nach Marseille voraus geschickt. Bis dahin war meine weiteste Reise die nach Lausanne an die Expo gewesen.
Nun nahm ich den Nachtzug ab Bern und wurde im Couchette-Wagen über die Grenze das Rhonetal hinunter gerüttelt. Morgens um vier Uhr war es im Bahnhof von Marseille kalt und leer. Ich setzte mich in ein Café. Mein Schiff sollte erst am Nachmittag ablegen. Ein Problem, das ich bis dahin noch zu lösen hatte, war der Riesenkoffer, den ich irgendwo in diesem Riesenhafen aus einem Lager holen und an Bord bringen musste. Im Café war es düster. Fremde Stimmen, die so ganz anders klangen als im Französischunterricht, umschwirrten mich. Ein bisschen benommen sass ich, angetan mit einer weissen Bluse und einem Faltenrock, inmitten der rauchenden Bahnarbeiter. Nach und nach füllte sich das Lokal. Fremde Frauen und Männer setzten sich an meinen Tisch, begrüssten mich, als hätte ich auf sie gewartet. Sie sprachen ungarisch, deutsch, holländisch, englisch, jiddisch, eine Sprache die ich zuvor noch nie gehört hatte. Namen wie Paul Grüninger und Carl Lutz fielen. Zum Erstaunen meiner TischgenossInnen waren mir die beiden unbekannt. So erhielt ich im Bahnhof von Marseille eine längst fällige Geschichtslektion aus erster Hand.
Gegen Mittag brach man auf Richtung Hafen. Taxis wurden organisiert, jemand übernahm die Papiere für meinen vermaledeiten Koffer.
Die Sonne schien und es blies ein kalter Wind. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich das Meer, unglaublich weit und blau wie ich es mir nie vorgestellt hatte. Neugierig betrat ich das wunderschönste Schiff, das ich je gesehen hatte: die „Moledet“. So war das erste Wort, das ich lernte „Heimat“.
Als am fünften Tag der Reise Haifa in Sicht kam, drängten sich die Passagiere an Bord, viele Einwanderer weinten vor Freude.

Anfangs der 70er Jahre wars mit den Passagierschiffen dann vorbei. Seit mehr als 30 Jahren besitzt die ZIM Line nur noch Containerschiffe.
Ein ZIM-Container bildet jeden Sonntag die Kulisse in der Sendung „Sternstunde“ (SRF) Philosophie, Religion, Kunst. In seiner rostbraunen Farbe erinnert er mich immer an mein mit Blech beschlagenes Koffer-Monstrum von damals.

Nun bleibt vieles ungesagt. In ihrem Sinne und nach dem vergangenen Sonntag besonders:

… es besteht die Chance, dass das Abbild eines leidenden Menschen uns zum Handeln aufrufen kann.

Eine weitere Geschichte aus dem Irak, erzählt von L. (16), gesammelt von 1st, November 2002

1991 haben die Peshmerga Saddams Soldaten aus Kurdistan verjagt. Meine Mutter ging mit uns Kindern, ich war 5 Jahre alt, zu dem grössten Gefängnis in Suleimanja. Es war ein eigenartiges Wetter an diesem Tag: sonnig, der Himmel war hellgrau und es blies ein starker Wind. Ich ging an der Hand meiner Mutter. Sie trug meinen kleinen Bruder Zaniar auf dem Arm. Im Lautsprecher wurde der Bevölkerung mitgeteilt: „Bevor wir das Gefängnis putzen, sollt ihr kommen und sehen, wie schrecklich es aussieht.“ Es gingen nicht viele Leute hin. Wahrscheinlich hatten sie Angst. Das Gefängnis Chabad war zweistöckig und drinnen war es schwarz. Es roch nach Blut. An einer Wäscheleine hingen blutbespritzte „Nüggeli“ von Babys, kleine Hütchen und Hemdchen, blutige Unterhosen. Die „Nüggeli“ habe ich grausig gefunden. Eine alte Frau hat auf dem Boden nach etwas gesucht und laut geweint.
Wir haben alles angeschaut und sind dann den weiten Weg zu Fuss nach Hause in die Ibrahim-Pasha gegangen: vier Kinder wie Enten hinter der Mutter mit Zaniar auf dem Arm. Der Wind blies heftig in ihr schwarzes Kleid.

24.09.04: Todesanzeige aus Israel von E.M.

„… they had separated from us for ever. Mirjam was gone at January and Micha just now, at 14th of September. Both were born in Berlin in 1908 and knew each other 70 years, loving like a couple of pigeons until they last day … „]

Liebe Mirjam,
Lieber Micha
in der Kleinen Welt habt ihr für den Frieden gelebt. Es ist tröstlich zu glauben, dass ihr ihn nun in der Grossen Welt gefunden habt.

BeAhava
C.

1994 – In fremden Dörfern, erzählt von L. (Jg. 1986) am 10. August 2003, gesammelt von 1st

Meine Eltern hatten sich wieder einmal getrennt. Meine drei älternen Schwestern blieben bei meinem Vater in Süleimanja. Mein kleiner Bruder und ich zogen mit der Mutter weit weg von der Stadt in ein Dorf, seinen Namen weiss ich nicht mehr, in die Nähe von Halabja. (Diese Gegend ist bekannt für ihre Mäuse und Malariamücken.)

Die Menschen dort lebten von den Kühen, dem Federvieh, den Früchten der Bäume, dem wilden Honig und dem Arrak, in welchem noch die Blättchen des süssen Kümmels schwammen.
Wir fanden ein Zimmer bei einer alten Frau, die ich „Chanm“, Madame, nannte. Um ihren Hals verlief eine hässliche Narbe. Zwei Einbrecher hatten sie einmal hinterrücks überfallen und ihr beinahe die Kehle durchgeschnitten. Einer der beiden verlor beim Überfall seinen Ausweis und so kamen die Diebe ins Gefängnis.

Meine Mutter stand immer sehr früh auf, um auf dem Markt Frühstück zu kaufen. Sie war sehr schön, mit ihrer hellen Haut, den braungrünen Augen und den rosaroten Wangen. Die Männer waren verrückt nach ihr, tuschelten hinter ihrem Rücken und starrten sie an. Das machte mich sehr eifersüchtig und ich war oft wütend deswegen. Der Joghurtmann war richtig verliebt in sie und gab uns oft die Waren umsonst. Meine Mutter war ganz anders als die Dorffrauen, welche schon mit 13 Jahren Falten bekamen, mit den Hühnern zu Bett gingen und mit den Hähnen aufstanden. Bei der Arbeit rollten sie ihre Röcke hoch und zeigten ausgemergelte Beine. Diese gross gewachsenen Frauen fanden meine Mutter dumm, denn sie war nur eine kleine Lehrerin und hatte keine Ahnung vom Melken und Käsen. Dabei konnte meine Mutter Wein machen und auch ein feines Essen, das „Trchena“ genannt und auch als Wintervorrat zubereitet wird. (Ich weiss leider nicht mehr, woraus diese Trchena gemacht wird. Ich muss unbedingt meine Kusine fragen).

Plötzlich, eines Tages, tauchten mein Vater und die Schwestern auf. Nun wohnte die ganze Familie in dem kleinen Zimmer. Mein Vater und die Schwestern haben sehr über die rückständigen Leute gelacht. Lachend hat mein Vater angefangen, für das ganze Dorf nützliche Sachen zu bauen: einen Tauchsieder aus einem mit Draht umwickelten Stein, damit man das Badewasser wärmen konnte, er flickte das Radio aus den 70er Jahren, fertigte aus einem Ölfass einen Ofen an, auf dem man Brot backen und Fleisch braten konnte. Die Leute haben uns dafür geliebt. Wir wurden immer eingeladen und mussten nie mehr kochen. Als die Schule im Herbst wieder anfing, zogen wir nach Bakrajo, denn in Süleimanja waren die Wohnungen zu teuer.

Zum Dorf Bakrajo, das heisst „Gerstenernte“, führte nur ein schlechter Weg, welcher bei nassem Wetter schlammig wurde. Kein Bus fuhr in dieses abgelegene Dorf. Die Wohnung war billig. Die Leute wohnten mit Mäusen und Ratten zusammen, welche aus den Schränken heraussprangen, wenn man die Türen öffnete. Wir kannten fast alle Probleme der Bewohnerinnen und Bewohner, und meine Mutter hat fast alle gelöst. Die Menschen von Bakrajo hatten nicht viel Ahnung von der Welt ausserhalb ihres Dorfes. Sie leben von den Sonnenblumen und ihren Kernen, vom Reis und der Gerste (Jo). Aber diese Menschen hatten ein grosses Herz und waren bekannt für ihre wunderbare Gastfreundschaft. Zu unserem Einzug haben sie uns königlich beschenkt mit allem, was sie hatten.

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