2004


Heute bringt Albert seine Gedichte mit. Die Blätter liegen in einem trüben Sichtmäppchen. Sie sind vergilbt, fleckig, aber die Zeilen sind regelmässig, die Buchstaben schwungvoll. „Halt meine junge Schrift“, meint der alte Mann.
Vor 70 Jahren hat er alle Gedichte aufgeschrieben, „so zur Sicherheit“. Eigentlich braucht er die Blätter nicht, denn er weiss noch alle auswendig: Claudius, Schiller, Uhland, Lenau. Der Kaffee wird kalt. Albert hat die Augen zugekniffen und rezitiert Strophe für Strophe. Im Ofen knacken die Eibenscheite, meine alten Eltern hören zu, nicken ein bisschen mit den Köpfen: „Ja, ja, früher musste man schon als kleines Kind immer nur wärchen, aber die Gedichte kamen in den Kopf und blieben da. Weiss der Gugger wie.“ Sie gingen auch im Mitlitärdienst nicht verloren, als Albert im Jura des Nachts Wache stand und „am Morgen den Rauhreif aus den Stiefeln schüttelte“.
Aus dem blinden Mäppchen nimmt er einen Brief vom 27. Januar 1939. Seine Mutter schreibt ihm, dass sie zum Geburtstag leider keine Schokolade schicken könne, denn es gäbe im Dorf keine zu kaufen. Auf der hinteren leeren Seite, hat der junge Soldat ein Schmähgedicht auf Hitler und seine Entourage notiert, welches er auf einem holländischen Radiosender gehört hatte.
Dieser brachte auch „Lili Marleen“. Gerne hätte er nach dem Krieg einmal das
„Hotel de la Gare“
aufgesucht. Das hat leider nicht geklappt.
Übrigens: die zahlreichen Medaillen, Pokale, Urkunden, die er sich in all den Jahren an den Schützenfesten landauf landab „herausgeschossen“ hat, sind ihm heute richtig zuwider.
So, jetzt will er sich auf den Heimweg machen. Die Katzen müssen gefüttert werden und ausserdem sollte er noch ein bisschen darüber nachstudieren, welches Gedicht er nächste Woche vortragen könnte.

von lieben Nachbarn.

Der Truthahn gekauft und der Champagner gekühlt, bleibt unter uns jungen Leuten nur noch die Frage, was geht ab, nach 24.00 Uhr? Die Suche gestern nach der Super-Silvester-Party war total unpassend, hatte ich doch vorher etliche Nachrichten gelesen. So viele Tote, wie ich jetzt Schneeflocken vor meinen Augen sah, wurden geborgen.

Hast du auch kein Sylvester gefeiert, als zwei Millionen Kosovaren aus ihrer Heimat vertrieben worden sind?

Doch. Aber vorher bin ich dorthin gereist und habe einen Film gedreht.

Hast du denn jetzt auf den Genuss von Weihnachten verzichtet, wegen dem täglichen Morden in Irak?

Nein. Versteh mich doch! Lässt dich denn diese Tsunami-Katastrophe kalt?

Ich bin im Krieg geboren und der hat immer gewütet, bis wir in die Schweiz gekommen sind. Ich habe genug getrauert. Ja, jetzt bin ich kalt.

Auch du wirst wieder traurig sein. Stell dir vor, nein, lass gut sein.

Also betraten wir den Ticket-Corner. Dann gingen wir weiter ins Kornhaus. Im Kursaal dann weigerte ich mich, noch weitere Schritte zu unternehmen, um die Party zu finden.

Gestern Abend rettete mich dann der Dritte im Bunde mit seiner Idee, den teuren Silvester-Party-Eintritt den Tsunami-Opfern zu spenden. Und siehe da, vorhin läutete der Schüler Kamalaranjithan mit seinem Freund Miguel an der Tür. Er sei Mitglied der TYO (Tamil Youth Organisation) und sammle Spenden. Ein Eintritt mal drei, voilà.

Die Spitzbuben meines Schwagers beurteilen übrigens alt und jung, Schweizer, Albaner, Tamilen, Spanier und Marokkaner als die besten überhaupt.

Nun bleibt vieles ungesagt. In ihrem Sinne und nach dem vergangenen Sonntag besonders:

… es besteht die Chance, dass das Abbild eines leidenden Menschen uns zum Handeln aufrufen kann.

Die Jeyarajans habe ich angerufen. Nein, sie wissen nichts von ihren Familien, nein, nein, gar nichts. Es gibt keinen Kontakt und hinfliegen können sie auch nicht, im Moment sind alle Passagierflüge gestrichen.

Sie wissen auch nicht, wie viele Opfer es gegeben hat. Doch sie sind sicher, dass niemand helfen wird, dass nur sie allein helfen können. Sie danken für meinen Anruf, sie gehen jetzt wieder in den Tempel, um zu beten und die Subramaniams und Shanmuganathans und Sriranganathans zu treffen, die vielleicht mehr Nachrichten haben aus der Heimat.

Der Tempel ist jetzt etwas weiter weg, er musste umziehen, die Nachbarschaft hat Unterschriften gesammelt. Alles was Recht ist, aber die Hindu-Feste waren wirklich zu laut. Was sind wir für ein glückliches Volk mit kleinen Katastrophen und grosser, schneller Hilfe und stets ausgezeichneter Information.

Und zum allerersten Mal in meinem Leben empfinde ich tiefes Mitgefühl für alle, auch die, mit denen ich lange Zeit im Integrations-Clinch lag. Zum Beispiel Guga Tarzans Onkel, der dem kleinen Guga die Hand auf die Herdplatte gedrückt und den Unterkiefer zerschmettert hat, wenn er im Kindergartenalter auch nur einen Mucks von sich gab.

Es ist wahrlich nie zu spät.

UPDATE 29.10. 16:29 Uhr: Die Jeyarajans wurden angerufen! Das Haus der Verwandten ist zerstört, aber alle leben und brauchen Geld. Sie wohnten nicht nahe am Wasser. Das Mädchen, das mit mir telefoniert hat, klang, als lachte sie durch den Hörer. Erleichterung ist ein überwältigends Gefühl.

Krise hin, Krise her, erhielt ich einen Termin für eine Sprechstunde im Inselspital. Da ich zu früh dort war, beobachtete ich das Erwachen der Abteilung, als eine junge Frau mit Velohelm hinein stöckelte. Sie musste Praktikantin sein.

Alle, nur bitte die nicht. Und doch holte mich gerade sie, mit ihrer roten Nase und ihren rosa Bäckchen im Wartezimmer ab. Immerhin sah der begleitende Psychiater echt aus. Die Wonderbra-Tussi stellte mir anschliessend Fragen über Fragen, obwohl ich ihr zu Beginn zu verstehen gab, dass ich meine Probleme selber benennen könne.

Ob ich Alkohol trinke? –Nein.
Rauche? –Nein.
Andere Drogen? –Nein.
Fühlen Sie sich fremdbestimmt? –Wie meinen Sie das?
Hören Sie Stimmen? –Nein.
Glauben Sie andere zu beeinflussen? –Ich bin Lehrerin.
Hat sich schon die Farbe an der Wand verändert? –Nein.
Haben Sie Angstzustände im Lift? –Nein.
Im Bus? – Nein.
In vielen Leuten? –Nein.

So verlief das „Setting“. 50 Minuten lang. Bis zu der letzten Frage, in Form eines Tests: Ich sage Ihnen jetzt drei Wörter. Ich dachte: Was, nur drei? Da unterbrach endlich der Herr Doktor und meinte, ich hätte bestimmt kein Gedächtnisproblem. Er gab mir einen Termin für den nächsten Tag.

Als ich meinen Freund kennen lernte, war er Wassermann. Seit 1991 las er inbrünstig seine Tageshoroskope. Ganz Zutreffende schnitt er sorgfältig aus und legte sie zu den wenigen Fotos seiner Kindheit im Kosovo. So wuchs er als zuverlässiger, aktiver und hilfsbereiter Wassermann heran und liess sich von niemandem aus dem Konzept bringen.

Dann erzählte er mir die Geschichte seiner Geburtsurkunde. Sein Vater konnte diese erst zwei Monate nach seiner Geburt ausstellen lassen. Mein Freund musste also in Wahrheit ein Schütze sein. Deshalb las er jetzt auch das Schützen-Horoskop. Ja, das passte. Er erkennt und überwindet Hindernisse, nimmt sich im beruflichen Bereich viel vor und kümmert sich um seine Freunde.

Letzten Oktober wollte der Wassermannschütze es dann doch noch genau wissen und fragte seine Eltern, an welchem Tag in welchem Jahr er geboren worden sei. Und so erfuhr er endlich, dass er ein Skorpion ist. Ja, das passt. Bei einem Skorpion ist nichts unmöglich. Er zeigt ein breites Spektrum an typischen Merkmalen vom einem aufwendigen Lebensstil bis zur völligen Enthaltsamkeit.

Nicht für jedes Kind scheint ein heller Stern, der aller Welt seine Geburt mitteilt. Dafür kann man die jetzt kaufen und verschenken.

Jetzt gehen wir beide – Schützin und Skorpion – mit dem Weihnachtsgutschein von 1st, female, ins Solbad. Der Stern von Bethlehem weist uns dann den Nachhauseweg.

Weihnachten im Blockquartier ist etwas sehr Besonderes. Ja, das sagen die draussen auf dem Land, die Waldweihnachten feiern und glückliche Ehen führen, von ihrem Fest natürlich auch.

Aber es sind so viele Fenster, so viele Lebensfilme, die hier ablaufen und an Weihnachten irgendwie übereinander abgespielt werden. Das ist einmalig. Denk ich jedes Jahr.

Manche Stubenfenster sind dunkel. Die der albanischen Bauarbeiterfamilien, die über den Jahreswechsel länger Ferien haben und deshalb nach Prisren und Pristina ausgeschwärmt sind. Zu den Gräbern ihrer Eherfrauen und -männer, Mütter und Väter und manchmal sogar Kinder. Denn beerdingt wird in Heimaterde. Egal wo gestorben wird. Und eine Person fliegt gratis mit dem Sarg und Kinder unter 12 auch.

Auch die Fenster der älteren Menschen im Block sind schwarz. Sie sind abgeholt worden, vom Betax oder von der Schwiegertochter, zu Anlässen in Altenheimen oder Familienfeiern in der Agglomeration. Da ist es schön, da ist es eben ebenerdig.

Dann gibt es Stuben in denen ein Gewusel herrscht, Kerzen brennen, Geschenke und Panetone gereicht werden. In einer 3 1/2-Zimmer-Wohnung im ersten Stock ist eine lange Tafel gedeckt, dort, wo sonst die Polstergruppe steht. Es sitzen bestimmt 20 Menschen dran. Ignoriert flimmert der in die Ecke gepferchte Fernseher.

Manche Wohnungen sind so oppulent geschmückt, dass ich nichts erkenne, als die auf den Balkon hinaustretenden Raucher, die geduldige den Weg durch die Lichterketten freilegen.

So weit ich sehen kann, leuchtet auf jedem Hochhaus ein Stern. Und in vielen Fenstern von Menschen, die Weihnachten nicht feiern, blinken kleinere davon. Denn der Stern von Bethlehem ist hier ein Symbol, das wir teilen.

Meine Weihnachtsgeschichte gabs schon am 13. Dezember. In der taberna kritika. Eine bessere kann ich mir nicht denken.

Dranmor I, 1b

(Taktlos)

Was ich über mich erzählt hätte, hat er mich gefragt, bei diesem Vorstellungsgespräch – bei meiner Vita. Ja, er hat tatsächlich das Wort Vita benutzt. Nicht viel, habe ich entgegnet. Ich hätte mehrheitlich einfach geschwiegen. Ich schweige nun öfter, ich habe glücklicherweise geschwiegen. Zu oft haben andere sich schon in peinlichen Psychologisierungen versucht. Verstiegen. Ein paar Mal wurde es mir dann zu bunt und ich packte aus und fasste zusammen, immer darauf bedacht in alles Gesagte einen genügend ironischen Ton zu legen, um mich notfalls wieder zurücknehmen zu können. Dann das immergleiche Echo: Es wären Folgen einer Demütigung, mehrfacher Demütigungen gewesen, die zu dieser Ort- und Orientierungslosigkeit, ja, zu diesem entschlossenen Abstreiten von allem, was Ort sein könnte, getrieben hätten.

[unbedingt weiter]

Vielen Dank, Herr Abendschein. Und frohes Fest.

-Baum besorgen
-Restliche Geschenke kaufen
-Haare schneiden
-Kolleginnen zum Kaffee einladen
-Päckli knutselieren
-Karten an Bekannte ohne Mail
-Zeitungen lesen, bündeln
-Kühlschrank abtauen, Wäsche erl.
-Kehrichtmarken!

Sonntag, 19. Dezember:
Es regnet, und ich wate mit den Kindern durch den Matsch auf der Bundesgasse. Der nasse Schnee drückt auf die Äste der Tannenbäume. Handelseinig werden wir mit Herrn K. aus Steffisburg, der uns eine prächtige Weisstanne verkauft. Ihre Herkunft kann man nur bis nach Langnau zurück verfolgen. Möglich ist es aber, dass sie aus Dänemark … aj, aj, aj!
Herr K. ist begeisterter VW-Fahrer, möchte sein Wägelchen mit Diesel-Motor nicht mehr hergeben, braucht keinen Stern auf der Motorhaube. Wartet darauf, dass er seine Steffisburger-Bäume in einem zukünftigen Dezember verkaufen kann. Vorläufig sind diese noch „Zwärge“.
Völlig durchnässt bringen wir den 2 Meter hohen Baum heim in den 13. Stock.
Wie jedes Jahr ist er der Schönste vom ganzen Markt.

Montag, 20. Dezember:
Ich mache mich zeitig auf, um die letzten Geschenke zu kaufen. In einigen Familien verzichtet man (mehr oder weniger erfolgreich) auf Geschenke, weil man ja eigentlich alles hat. Statt dessen kann man spenden wos gerade nötig … In anderen Familien beschenkt man nur die Kinder.
Bei uns, der weihnächtlichen Grossfamilie, türmen sich die Pakete weit ins Wohnzimmer hinaus, haben kaum Platz unter dem Baum. Das Auspacken dauert die halbe Nacht, wird ein bisschen chaotisch, besonders, wenn die 2. Garnitur Kerzen herunter gebrannt ist. Mir fehlt nur noch das Geschenk für C., den Freund meiner Nichte. Ich habe keine Ahnung von DVDs und wende mich, da ich nicht fündig werden kann, an den jungen Verkäufer mit Bärtchen. „Herr der Ringe III- unmöglich, in Bern total ausverkauft,“ bestätigt er meine Befürchtungen. O je!
„Hier habe ich noch ein Spezialangebot mit Burg“, meint er. Ich weiss nicht so recht, ob ich einem Erwachsenen eine DVD mit silberner Plastikburg schenken soll. „Doch, doch, wenns ein wirklicher Fan ist, freut er sich auch an der Burg. Man kann diese öffnen und zum Beispiel Salznüsschen reintun.“ “ Sie sind ein guter Verkäufer. Ich nehms.“ „Soll ichs Ihnen als Geschenk einpacken?“ Der junge Mann verschwindet für 20 Minuten hinter einer Tür, kommt dann strahlend mit einem schiefen Paket wieder, auf welchem zwei grosse Schleifen prangen. Das Papier ist ein bisschen zerknittert und wirft besonders an den Kanten einige Falten. Ich bin gerührt und danke herzlich für so viel Mühe im Weihnachtstrubel. Der Verkäufer lächelt etwas schüchtern. Nun kommt mir das Gesicht bekannt vor. „Entschuldigung, waren Sie einmal bei mir im Hort?“ frage ich ihn. „Ja, und auch in der Bibliothek, habe immer Bücher geholt.“ Wunderbar! Noch einer, aus dem etwas geworden ist.

Dienstag, 21. Dezember:
Nachdem der Coiffeursalon in unserer Ladenstrasse lange Zeit gar nicht mehr recht lief und auch das zusätzliche Angebot an üppigen Hochzeitskleidern die Kundschaft im wahrsten Sinne des Wortes nicht anzog, übernahm Nina den Laden. Ihre Stammkundschaft aus dem chicen Quartier am Fusse des Hausbergs folgte ihr, vielleicht etwas verwundert, in den Westen von Bern. Seit heute bin ich dort neue und zufriedene Kundin. Nicht nur der Espresso, auch die Frisuren sind 1a und „preislich“, wie mein Vater sagen würde. Verstellbare Sessel, auf welchen man zwischen Waschen, Schneiden und Fönen hinauf- und hinunter gefahren wird, gibt es nicht. Der vergebliche Versuch, sich leicht zu machen, damit sich die zierlichen Coiffeusen nicht in Schweiss treten müssen, fällt weg. Sehr angenehm. Dieser Salon mit Spiegeln, die keine Wände sind ist ein wahrer Geheimtipp.

Mittwoch, 22. Dezember
Eine gute Bekannte von mir, allein erziehende Mutter, hat für eine Reise nach Ägypten gespart. Sie will Weihnachten nicht in der Schweiz verbringen, möchte keine Tannenbäume sehen. Diese Heilige Zeit erinnert sie zu sehr an früheren Familien- und Ehestreit. Das Arrangement am warmen Meer im Hotel unter Palmen war günstig. Zwar gab es dort vor einigen Wochen einen schrecklichen Terroranschlag, aber wir sind ja heute nirgends mehr sicher!?

Donnerstag, 23. Dezember: einziger blokgkonzeptwidriger Nachtrag!
In frisch gestrichene Lifttüren werden, je nach Eingang, sofort unzähligen Mitteilungen jeglicher Art eingekratzt. Wahrscheinlich nachts, denn ich habe noch nie jemanden mit Messer oder Schlüssel hantieren sehen. So weiss ich auch nicht, wer in meinem Hauseingang „Davidstern = Hakenkreuz“ eingeritzt hat. Es muss sich um eine erwachsene Person handeln, denn es stand vor einigen Wochen ganz oben an der Lifttüre geschrieben. Ich holte Farbe und übermalte das Ganze mit einer Frau und einem Mann, die zwischen sich ein Kind an der Hand führen. Unterdessen war der Maler im Haus und strich mit dem passenden Gelb darüber. Seit einiger Zeit steht, wieder am obersten Rand der Türe, „Down, down Israel. YES“ Der Maler wirds im neuen Jahr wieder überstreichen. Wer von meinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern „schreibt“ so etwas?

Schnee im Bärengraben

vom realen Kopftuchstreit

Gestern hat es geklingelt und ich habe den Hörer genommen. R. war unten, er kennt mich nicht so gut, er ist Schweizer. Er hat gefragt: „Bist du 3rd?“ Ich habe „Ja“ gesagt. Dann hat er gefragt „Hast du ein TV?“ und ich habe „Nein“ gesagt. Dann hat er gefragt „Bist du ein Streber?“ Und ich habe „Nein.“ gesagt. Da hat er gesagt, dass er nur wissen will, ob die anderen „huere“ Lügner seien.

Ich habe es Mam erzählt und Rs Stimme genau nachgemacht (das war Berndeutsch und ich kann das nicht so gut schreiben, weil Berndeutsch schreiben ist hennä schwer) und wir mussten beide lachen.

Im aktuellen SPIEGEL (ab S. 66) ist ein ausführlicher Bericht über Libeskind, den Daniel, den Architekten, den „Prediger, der baut“.

Er rennt, er hüpft, er hat von allem den finalen Entwurf im Kopf, er sieht ganz genau wie es zusammenhängt, er ist stolz, gespannt, polnischer Jude in New York, nie ein Berliner geworden, obwohl Berlin das spezielle Licht hat.

Es ist leicht zu sagen: Ach, das ist grau. Aber es gibt etwas Schönes in diesem Licht, ein östliches Licht. Es gibt mehr Helligkeit in dem dunklen Berliner Himmel, als man mit blossem Auge sehen kann. Es ist das Licht der Geschichte, der Ideen der Menschen. Architektur hat unter anderem die Aufgabe, diese Licht erkennbar zu machen.

Auch wenn eine Shopping-Mall nicht geade das jüdische Museum oder das neue World Trade Center ist: Wer weiss, vielleicht lässt sich auch hier das Licht der Erkenntnis nutzen, vielleicht verschwinden auch hier die Mauern:

Ich zeichnete einfach durch sie [die Mauer] hindurch, als wäre sie gar nicht da. Die Mauer war nichts gegen meine Ideen, gegen die jüdische Kultur. Bis heute habe ich das Gefühl nicht vergessen. Und als die Mauer dann tatsächlich fiel, dachte ich, ich habe etwas damit zu tun. Was wir glauben, was wir denken, jeder von uns, trägt dazu bei, was in der Welt passiert.

… findet der Gebläseträger den Dreck. Es ist noch dunkel. Sechs Strassenwischer in orangen Overalls und warmen Kappen machen sich daran, die Bushaltestelle und den Fussweg zum Quartier zu kehren. Seit mehr als einer Woche liegen Laub, Papier, Plastiksäcke und Flaschen umher, kleben feuchte Zeitungen auf den schleimigen Spuckehäufchen und in der Urinecke der abgefackten Bushaltestelle. Neben dicken Saugrohren hantieren die Männer auch mit Handsägen, Bürsten, Rechen, Greifzangen und Reisigbesen.
„Ich danke Ihnen, dass Sie hier putzen. Es ist dringend nötig. Ich wurde schon ganz schwermütig ob all dem Müll.“
„Wir wissen nicht, wo wehren, haben immer alle Hände voll zu tun. Ständig wird gespart und werden Stellen gestrichen, müssen Sie wissen.“
Im Bus lese ich, die grösste gegenwärtige Sorge der Schweizerinnen und Schweizer sei die Arbeitslosigkeit, genauer gesagt, die Erwerbslosigkeit. Arbeit gäbe es eigentlich in Hülle und Fülle, seis in den Schulen, den Heimen, beim Abfall, in den Bibliotheken, aber heute ist kein Geld da, auch nicht 2005. Es soll ein richtiges Sparjahr werden. Das sind schlechte Nachrichten. Wahrscheinlich muss dann der kurdische Wirt noch einen Tisch mehr vor seine Beitz stellen, damit die Erwerbslosen, die Invaliden, die Frühpensionierten, die Ausgesteuerten, die AlkoholikerInnen einen warmen Platz haben in unserer Ladenstrasse. In der Welt vor Bern-West sieht es nicht besser aus. 26 Mio. Euro im Jackpot verursachen ganze Völkerwanderungen und bringen die Menschen ein bisschen zum Träumen: ein Häuschen auf Kreta, eine Reise, ein junger Mann möchte sich endgültig zur Ruhe setzen. Die Wünsche der Befragten an den Verkaufsstellen sind bescheiden. Mit einigen 1000 Euro wäre man zufrieden und viele Geldsorgen los.
Ich habe keinen Lottoschein ausgefüllt, obwohl mich eine nette Dame aus FFM angerufen hat und mir einen verkaufen wollte. Auch das samstägliche Los von der Post im Dorf brachte wie immer nichts. Die Posthalterin erinnert sich, dass vor Jahren einmal einer 250 Franken gewonnen hat.
Ich will nicht klagen, denn heute und morgen habe ich noch eine Erwerbsarbeit, und weiter schaue ich die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde an, denn wozu sonst habe ich schon als kleines Mädchen ein Fläschchen schwarzer Tusche beim Bibelquiz in der Sonntagsschule gewonnen?

Vorhin hat ein Junge aus 3rds Klasse hier geklingelt, der der Blogk-Familie normalerweise feindlich gegenübersteht. Kein Wunder, seine Eltern finden „diese Studierten“ einfach nur so zum Wegschmeissen (dass 3rds Eltern nicht studiert haben, ist sowas von egal) und er hat daher bei uns von Zuhaus aus Hausverbot. Jedenfalls war der dann doch hier an der Tür:

Er: Kann ich dein Lesebuch leihen?
3rd: Wozu?
Er: Um das Gedicht zu lernen, das wir müssen bis morgen.
3rd: Ich habe es vergessen.
2nd, female: Ich kanns dir rasch ausdrucken, wenn du warten möchtest?
Er: Ich warte.

Ich hole „Knecht Ruprecht“ von irgend einer Kindergarten-Präpp-Seite und passe den Text auf die Lesebuchversion an, während der Junge und 3rd vor der Türe flüstern. Dann mache ich eine lesefreundliche Variante im Word, die ich ihm in einem nigelnagelneuen Klarsichtmäppchen überreiche. Richtig elitär und superstudiert.

Er: Danke, tschüss.
3rd und ich: Tschüss.

Background: 3rd, der Streber, kann den Ruprecht längst auswendig, darum hatte er sein Lesebuch nicht dabei. Aber das würde er nie im Leben zugeben.

Man soll nicht nur in den Teller, sondern auch über dessen Rand schauen. In diesem Falle ist beides sehr erbaulich. Zum Beispiel die Website eines meiner liebsten Lokale. Besonders interessant: die Link-Kategorie „Matrimonials“. (Die Links „Heiratvermittlung“ wurden unterdessen rausgenommen. 1st, female, 02.09.2013)

ist wieder da!!!

Jemand hat es mir letzten Donnerstag in den Briefkasten getan. Es ist nicht kaputt. Ich möchte gerne wissen: hat jemand ein schlechtes Gewissen gehabt oder haben es die Eltern gemerkt? Ich freue mich riesig, dass ich es wieder habe!!!

… zu meiner Lehrertabelle:

Jemand hat mittelrichtig geraten:

Platz 1: Französischlehrerin (ich habe nur eine, auch wenn sie 2x drauf war, das war ein Fehler.)
Platz 2: Gitarrenlehrer1 und Gitarrenlehrer2 und Flamencolehrerin
Platz 3: Herr Werken nicht textil, Flötenlehrerin1, Flötenlehrerin3
Platz 4: Klassenlehrerin1 und Klassenlehrerin2, Englischlehrerin, Flötenlehrerin2, Skilehrer
Platz 5: Frau Werken textil2
Platz 6: Frau Werken textil1

Seit drei Tagen liegt bei mir eine Packung Kaliumiodid, 2×6 Tabletten, von den verantwortlichen Behörden vorsorglich und gratis nach Hause geliefert. Auf dem Informationsblatt, verfasst in acht Sprachen und in winzigst kleiner Schrift, werde ich angewiesen, wie ich mich bei einem schweren Kernkraftwerkunfall zu verhalten habe. Alle, die im Umkreis von 20 km eines Kernkraftwerkes wohnen, sollten diese Jodtabletten griffbereit haben: Bitte, lagern Sie die Tabletten an einem Ort, wo Sie diese sicher wiederfinden.
Da ich in Zone 1, nur 10 km vom Kernkraftwerk Mühleberg entfernt wohne, nehme ich die Lupe zur Hand um nichts zu übersehen. Bei Gefahr, dass radioaktive Stoffe freigesetzt werden könnten, alarmieren die Behörden die Bevölkerung. Informationen dazu finde ich im Telefonbuch auf den hintersten Seiten: (ein regelmässig auf- und absteigender Ton der Sirenen, dauert 1 Min. mit 2 Min. Unterbruch). Die Behörden ordnen an, wann die Tabletten, mit viel Flüssigkeit, ein erstes Mal eingenommen werden sollen und wie lange. Die Informationsschrift: „Chemie und Radioaktivität im Alltag“ erhalte ich gratis beim Bundesamt für Gesundheit.
Zu Weihnachten wünsche ich mir, dass es nie zu einer Alarmierung der Bevölkerung kommt. Das Merkblatt kann längst nicht von allen gelesen werden und kein Mensch weiss, was inzwischen mit all den Tabletten aus der Armeeapotheke geworden ist. Obwohl die Führungen durchs Kraftwerk bei den Schulklassen nicht unbeliebt sind, scheint es ein ungeahntes Problem zu geben, das von den Befürwortern der Kernenergie hier in der Schweiz (noch) nicht thematisiert wird.
Ich weiss, dies ist ein un-heiterer Beitrag für einen 2. Advent, aber Kleingedrucktes verschiebe ich immer auf den Sonntag.

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