2007


In Wien werden die Hauswarte „Hausmeister“ genannt. Ist dieser Posten aber von einer Frau besetzt, so ist sie nicht „Hausmeisterin“, sondern „Hausbesorgerin“, erklärt mir die Cousine meines Schwiegersohnes, welche mich zusammen mit ihren fünf Kindern im 13. Stock besucht. Sie „besorgt“ das Haus, in welchem sie wohnt. Es ist ein Bau aus dem 18. Jahrhundert in der Wiener Innenstadt gelegen, mit hohen Zimmern, altem Parkett, Türen mit Glasfenstern und einem Lift mit Spiegel im Goldrahmen. Eigentlich mögen die Hausbesitzer, Rechtsanwälte seit Generationen, weder Ausländer noch Kinder. Aber bei der siebenköpfigen Familie aus dem Kosovo machten sie eine Ausnahme, denn auch in Wien sind versierte Hausbesorgerinnen rar.

… vo Züri habe sie avisiert. Er sei auf dem Weg nach Bern. Er werde nicht locker lassen, bis der Lift (Aufzug) wieder funktioniere. Man könne halt nicht einfach aufs Dach steigen und einen neuen Lift einbauen. Die Steuerung sei bereits ersetzt worden. Ausserdem seis mit den Liften wie mit den Autos, da gebe es halt Sachen, die man nicht so „auf einen Chutt“ herausfinde. Das brauche Zeit. Man sei immer dran. Ich solle nicht meinen, dass man dem Problem nicht auf den Grund gehen wolle. Der Hauswart sei auch gerade zu einer Besprechung gekommen. Mit der zuständigen Firma sei man sehr zufrieden. Ich müsse halt Geduld haben.
Die Liegenschaftsverwalterin, nicht Auto-, sondern angefressene Töff-Fahrerin, wünscht mir noch schöne Ostern.
Seit zwei Wochen fahre ich mit dem Lift im Nebeneingang bis in den 9.Stock, steige eine Treppe hinunter, gehe über den engen Balkon an der östlichen Hauswand Richtung Norden und steige in meinem Treppenhaus wieder ein. Noch vier Stockwerke und ich stehe vor meiner Wohnungstür.

„Äxtra Eine vo Züri“ ist eben eingetroffen, ein verbittert aussehender Mann mit schütterem Haar und tiefen Sorgenfalten um Mund und Stirne.

Kran en face

Von Angesicht zu Angesicht mit dem Kranführer sollten die vor fremden Blicken sonst Verschonten im 12. Stock langsam lernen, sich weder nackt zu bewegen noch sonst irgendwie ungebührlich zu benehmen, denn im Cam-Zeitalter liesse sich sogar ein offener Hosenstall in den eigenen vier Wänden filmen und irgendwie halböffentlich verbrämen.

(Der Kranführer hatte seine Freude weil ich ihn zuerst vergessen – räusper – und dann verewigt habe. Er hat gewinkt. Das kann ich jedoch nicht veröffentlichen, da die für sein Einverständnis notwendige verbale Kommunikation so hoch über dem Bauplatz bedauerlicherweise gottseidank nicht möglich ist.)

3rd, female schläft (endlich). nicht mehr. 2nd, male murmelt: „Es Stündli schlaafe, es Stündli chräije“, während er die alte BERNINA auseinanderbaut, um ihren Schaden zu finden und zu beheben. Und wenn jemand um Mitternacht noch etwas Aufbauendes lesen möchte, so sei ihm eine alte BERNINA Gebrauchsanweisung ans Herz gelegt, denn Problembeschreibungen wie „Das Krausziehen des Nähgutes“ entspannen ungemein.

2nd2nd, male liest das GEO Buch, in welchem Menschen aus der ganzen Welt ihr Hab und Gut vor der Wohnung auf die Strasse stellen, um sich von Peter Menzel mit allem fotografieren zu lassen.

2nd2nd, female häkelt einen Essmäntel (warum Mäntel, wenn’s gar keine Ärmel hat?) für Kleinsmädchen. Sie hält reihum allen Familienmitgliedern ein immer kleiner werdendes Klüngel violettes Garn unter die Nase und fragt, ob das wohl reiche? Die einzige, die das beurteilen könnte ist 1st, welche auch Kleinsmädchen zum Einschlafen überreden könnte, wenn sie nicht die Abschwaschmaschine ausräumte oder Decken für Gäste bezöge oder Pfannen polierte oder ihrem Enkel geeignete Fineliner heraussuchte.

3rd, male will eigentlich noch vor Mitternacht mit seiner Anmeldung fürs Feriensportlager fertig werden. 2nd, female hilft unter Murren beim Ausfüllen und setzt sich ab zum Bloggen.

Seit Tagen liegt in der Unterführung eine Plastiktasche mit Arbeitskleidern, einem Paar Schuhen und einem Ledergürtel.
Meine Nachbarin und ich fragen uns, was wohl mit dem dazugehörenden Maler geschehen ist.

Wochenende

Nach den letzten beiden ländlichen Beiträgen wieder zurück auf den städtischen Boden von heute. Durch ihn wühlt sich der Baggerzahn wie nie zuvor in der Geschichte. Tiefe Gräben reisst er auf, manchmal auch Wasserohre und elektrische Leitungen, stösst Erdhügel in Form einer Vor-Voralpenkette zusammen, frisst sich in Mauern und Dächer und reisst sie nieder.
Wie Schiffe auf dem ausgetrockneten Aralsee ragen die drei Wohnblöcke des Quartiers aus der Bauwüste. Überall trifft das Auge auf schmerzende Hässlichkeit. Blumen und Sträucher werden abrasiert. Ihre Wurzeln ragen aus der nackten Erde. Wer das Haus täglich zu Fuss verlassen muss, hat sich mit den unsinnigsten Umleitungen abzufinden, wie Wege über glitschige Bretter, durch Autotunnel und über Treppen. Zum Bus kommt man über einen steilen, notdürftig geteerten Erdwall – oder eben nicht.
Nun sind auch die Bäume auf der Ostseite meines Blocks abgeholzt – es soll in den nächsten Jahren ein „übersichtlicher Platz“ entstehen.
In ganz Bern scheint eine Bauwut ausgebrochen zu sein, denn auch im Innern von Waren- und Bürohäusern, Schulen und Spitälern wird umgebaut – immer bei vollem Betrieb und auf Kosten der Gesundheit von Angestellten und PatienInnen.
Der neue Stadtteil „Westside“ wird sicher einmal eine Seite in einem prächtigen Bildband zur Architektur von Daniel Libeskind einnehmen.
Aber bis dahin hat mich der Baggerzahn längst aufgefressen.

Die Hausverwaltung hat mir in diesem Jahr eine neue Dusche und einen neuen Schlafzimmerboden zugesprochen. Ein Anruf von mir genügt und ein kleines Handbäggerchen kommt, um mit seinen kleinen scharfen Zähnchen den Boden in meiner Wohnung aufzureissen.

An der Barriere, im Napfgebiet, 1913

Posieren an der Barriere. Es war wohl auch zur Zeit der Maul- und Klauenseuche. Viele Gebiete wurden abgesperrt, nur Menschen durften passieren und stellten sich auf, um die Milch in Empfang zu nehmen. Die Grossmutter von 2nd, male, im Vordergrund auf dem Bild. Ob sie an ihrem eigenen Milchkarren lehnt, ist nicht bekannt. Das Foto wurde vermutlich für eine Lokalzeitung gemacht.

Wenn das Wetter nur aufhelle für die Hochzeitsfotos, dann sei alles gut, meinte Frau Zahnd, welche für das Abräumen des kirchlichen Blumenschmucks nach der Trauung zuständig ist, und auch für die rasche Überführung desselben ins Festzelt. Die ersten Gäste fahren vor. Motorhauben und Autodächer sind geschmückt mit Spielzeuglastwagen, einer Hochzeitstorte aus Karton, Blasinstrumenten, ja, sogar ein Hornschlitten mit Heuballe und Sennenpuppe hatte jemand aufmontiert. Der Brautführer trägt ein rotes Herzkissen mit den Ringen, ein kleiner Kaminfeger wartet auf seinen Einsatz als Glücksbringer. Seine Mutter wischt ein Stäubchen vom Zylinder, prüft die Hufeisen an der Leiter.
Die Kirchenglocken beginnen zu läuten. Zügigen Schritts eilt das Brautpaar herbei, begleitet vom Fotografen mit schwerer Kamera.
Während die Zeremonie im Innern der Kirche ihren Lauf nimmt, fahren zahlreiche Traktoren und Lastwagen auf den Viehschauplatz – der Überraschungskonvoi für das Brautpaar. Die Tochter des Käsers, Bäckerin und Büchelbläserin, heiratet einen Bauern und Bauarbeiter aus den Voralpen, ein Event für die ganze Region!
Nach einer Stunde ziehen Jodel- und Naturhorntöne durchs Dorf. Arbeitskolleginnen der Braut stehen Spalier mit blumengeschmückten Riesenbaguetten. Nun folgt das unvermeidliche Fotografieren in der nahen Klosterruine, der dorfeigenen Akropolis.
(In der ganzen Gemeinde gibt es sicher kein Fotoalbum ohne diese Kulisse, seis bei Konfirmation, Hochzeit, Taufe oder Begräbnis.)
Nach einem ohrenbetäubenden Hupkonzert formieren sich die schweren Maschinen zu einem langen Zug. Vorneweg ein Traktor mit bekränztem Güllenfass. Darin sitzen das Braut- und das Brautführerpaar. Dann folgen weitere Traktoren jeden Alters und die schweren Lastwagen der Baufirma, bei welcher der Bräutigam angestellt ist.

Es gibt Leute, die einem „Es guets Tägli“ wünschen. Was soll das? Haben sie Angst vor einem richtigen Tag?
Auf die Frage „Wie geht es dir?“ erhalte ich oft die Antwort „Danke, u sälber?“
„Tschüss, Schöne!“ ist kein Kompliment, sondern die Abküzung für schönen Abend oder schönen Tag.
Mit der Anrede „Liebe Alle“ werden an meinem Arbeitsplatz immer öfters interne Mails verschickt.
So etwas von läppisch!

Überspringen Sie beim Lesen eines Buches die Widmung? Ich tue es nicht mehr, denn oft ist diese Phantasie anregender als der Inhalt.
In „Pharmaceutical statistics“ (646 S.!) habe ich folgende Widmung gefunden:
To my wife Phyllis
always present
always sensitive
always inspirational

… und in „Animal models on toxicology“ (884 S.!) :
To my beloved babies Samantha, Katina, and Jake
for ever in Daddy’s heart
and to Suzann, whom I’ll always love.
To my wife Mary Anne

Interessant wäre es zu wissen, wie Phyllis und Mary Anne die Widmung aufnahmen. Suzann hat das Erscheinen des Buches wahrscheinlich nicht mehr erlebt, und was die Babies von allem halten, nähme mich auch wunder.

Endlich wohnen wir nicht mehr im Westen von Bern.
Ich habe diese schlecht erzogenen und aggressiven albanischen Kinder satt. Ausserdem war unsere Wohnung voller Schimmel. Hier in Muri wächst unsere Tochter viel besser auf. In der Schule hat es nur Schweizer Kinder und alle sprechen nur Deutsch. Das ist so schön! Und ein bisschen weniger Steuern bezahlen wir auch. Jetzt bleiben wir hier. Näher bei der Arbeitsstelle meines Mannes zu wohnen, wäre schon praktisch, aber dort hat es eben auch so viele Ausländer. Sie beeinflussen einfach meine Tochter negativ.
Nein, standesamtlich geheiratet haben wir noch nicht. Dass unsere Tochter immer noch meinen Namen trägt, stört unsere Familien schon. Bei uns ist es halt so, dass der Stammbaum nur über den Namen der Väter wächst. Zu einer zivilstandesamtlichen Trauung fehlen uns noch verschiedene Papiere. Eine Bestätigung aus Prishtina, dass mein Mann nicht bereits verheiratet ist, der Geburtsschein meiner Tochter und…
Hauptsache, wir hatten unser Hochzeitsfest, sonst würden wir nicht zusammen hier wohnen und müssten uns immer noch heimlich treffen. Hoffentlich wird sich unser Mädchen einbürgern lassen können. Mir haben das meine Eltern verboten und mein Mann hätte schon gewollt, könnten wir es uns überhaupt leisten und wäre er nicht betrieben worden.

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Brot mit Kropf
Mein Sonntagsbrot, abgezeichnet vor dem Anschneiden,
da ich meine Kamera im Dorf vergessen habe;-)

Die alte Bäckersfrau hatte einen Kropf, der ihr schwer aus dem Blusenkragen quoll. Auch die Brote, Vierpfünder ruch, hatten alle einen Kropf, und meine kleine Schwester Rosy war überzeugt, dass Frau Krähenbühls Brote so aussehen müssen. Auf dem Heimweg rissen wir Kinder Krumen aus der mit zarter Kruste bedeckten Wucherung und lieferten die Brote oft mit grossen Löchern zu Hause ab. Ich erinnere mich nicht daran, dass die Mutter darüber böse war.
In unserer Gegend sind Kröpfe bei Menschen zum Glück seltener geworden, da durch entsprechend angereichertes Speisesalz kein Jodmangel mehr besteht.
Auch die meist industriell hergestellten Brote weisen kaum mehr Kröpfe auf, und es gibt kaum mehr Kinder, die das Brote-von-der-Kropfseite-her-aushöhlen etwas vom Feinsten finden.
Im Dorf meines Vaters wird pro Woche nach langen Jahren wieder 1 rucher Vierpfünder auf Bestellung gebacken.

Dieser frühe Frühling bringt alles durcheinander. So findet mein erstes Saisongespräch mit meinem Nachbarn nicht wie all die vergangenen Jahre in luftiger Höhe, sondern im Bus statt. Er habe sich früher pensionieren lassen, da es in seiner „Bude“ gerade ein Sonderangebot für Pensionierungswillige gegeben habe. Nun sei er oft im Luzernischen, helfe seinem Bruder mit den Kühen und dem Holz. Das „Heimet“ sei stotzig und die Nichten und Neffen am Studieren. Auch wolle er sich mehr Zeit zum Lesen nehmen. Einmal habe er im „Das Beste“ die gekürzte Version einer Geschichte gelesen. Seit Jahren suche er das Original, sei deshalb schon in einer Buchhandlung gewesen, wo man ihm aber nicht habe helfen können. Er wisse nur, dass die Geschichte „Das Vermächtnis“ heisse.

Beim Kauf eines Waffenschrankes der Marke „Ranger A5“, inkl. Doppelbartschloss mit 2 Schlüsseln erhalte ich bis zum 31. März einen Cumulus-Vorteil von 160.-.
Das Möbel mit Sicherheitsstufe A und Spezialfach für Munition kostet statt 429.- nur noch 269.-.
Natürlich erhalte ich auch auf alle Asco-Nassfutter einen Rabatt von 6.50 bei einem Mindesteinkauf von 13.-.
Schade, dass ich keinen Rasen besitze, denn beim Benzin-Rasenmäher „High Wheel“ könnte man 400.- sparen! Ich gebe den Bon gerne ab, und auch den für den Hochdruckreiniger „K 3.900 M plus“ (Rabatt 300.-).

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Seit seinem Hirnschlag vor sechzehn Jahren ist mein Pflegebruder gelähmt. Viele Leute meinten damals, es wäre besser, wenn er sterben dürfte. Seine Frau nahm ihn nach Hause auf den abgelegenen Bauernhof im Jura, liess eine Rampe ins Haus zimmern, stellte ihn bei schönem Wetter im Rollstuhl unter einen Baum, damit er die Arbeiten auf dem Hof mitbekam. Die Familie lernte die Laute des Vaters verstehen und er sah die Kinder aufwachsen.
Nur mit dem Daumen seiner linken Hand gelingt ihm eine leichte Bewegung. Will er etwas schreiben, wählt er aus dem vorbeiziehenden Alphabeth auf dem Bildschirm des Computers den passenden Buchstaben aus, indem er damit ein Metallplättchen an seinem linken Zeigefinger berührt.
Letzte Woche hat er seinem Pflegevater folgenden Brief geschrieben:

Lieber Vater

bevor es ganz Frühling wird, möchte ich dich doch mal fragen, wie es dir geht.
Ich habe vernommen, du seist in der Zwischenzeit im Spital gewesen. Aber es ginge dir jetzt wieder viel besser. Das ist doch normal, wenn der Frühling kommt, dann erwachen die alten Menschen und sie fangen an zu hüpfen wie Kälber, die zum ersten mal nach draussen gehen.
Bei uns da oben hat es schon Schneeglöckchen und das ist hier sehr früh. Ob sie sich am Datum verschaut haben, ich weiss es nicht.
Schnee haben wir nicht viel, aber für mich ist es super, denn mit dem Rollstuhl im Schnee, das geht nicht gut.
Nadine und ich sind nun mit Isabelle allein zuhause. Beatrice ist fertig mit der Lehre als Krankenschwester. Sie arbeitet in Neuenburg und ist damit ausgezogen nach Neuenburg.
Nun wünsche ich dir noch einen milden Winter und gute Gesundheit

Heinz und Familie

Letzte Woche ist eine neue Mieterin eingezogen. Eine streng gläubige Muslima aus Sri Lanka. Sie wollte wissen, welche Nationalität ich hätte. Ich antwortete, ich sei Schweizer mit kosovarischen Wurzeln und auch Moslem. Uh, wie sie sich freute: „Allah ist gross! Er hat mich zu dir gebracht. Siehst du, wenn man an ihn glaubt, tut er dir nur Gutes!“

Sie begann, mir ihre Geschichte zu erzählen. Sie habe sich von ihrem Mann getrennt und lebe jetzt alleine. Er habe ihre extreme Religiosität nicht mehr ausgehalten und wollte eine „modernere“ Frau. Sie hingegen kauft ihr Fleisch nur beim Türken. Alles andere sei „haram„. Wenn sie dann doch einmal in die Migros müsse, nähme sie die Liste mit den E-Angaben (den Haram-Produkten) mit, denn Schweinepartikel seien in vielem enthalten. Sie schaue keinen TV und höre nur Koranverse ab CD.

Als ich sie um ihren genauen Namen bat, damit ich ihre Klingelschilder in Auftrag geben kann, musste sie in ihrem Handy nachschauen. Sie sei in einem Frauenschutzprogramm und hätte eine neue Identität erhalten.
Nun heisse sie Frau Imnamengottes.

Als ich heute mit 3rd, male, Geschichte lernte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Der Stadt-Land-Graben zum Beispiel ist keine Neuerrungenschaft, sondern mindestens 526 Jahre alt. Die Eidgenossen hatten da gerade eine Glücksträhne und einige Schlachten gewonnen (zuletzt die bei Nancy, bei der Karl der Kühne dran glauben musste) und wurden darob eingebildet. Die Städter gingen Bündnisse mit anderen Städten – sogar im Elsass und Deutschland – ein, was die vom Land auf und zur Randale brachte. Der bestehende Bund der Eidgenossen war gefährdet und die Kriterien für die Aufnahme von Neuen streitig. Im letzten Augenblick gelang es dem einig Volk von Brüdern Verhandlungen anzuberaumen, die als Stanser Tagsatzung doch noch zum friedenssichernden Resultat führten. Allen Mitgliedern war es fortan verboten, untereinander und mit Auswärtigen Sonderbündnisse einzugehen (EU nein danke) oder weiterhin aufrechtzuerhalten, die Aussenpolitik musste im gemeinsamen Dialog (obligatorisches Referendum) gestaltet werden. Alle Sonderabkommen nach aussen mussten gemeinsam getragen werden (UNO-Beitritt der Schweiz bereits 2002).

Bei der Gelegenheit wurde auch der lesenswerte Sempacherbrief bestätigt und der Wille zur Einhaltung bekräftigt. Und weil man den nicht so gut online findet und wir ja heutzutage alle lebenslang lernen müssen, tippe ich ihn mal aus 3rds Schulheft ab:

1. Diese Abmachung gilt für Zürich, Luzern, Bern, Solothurn, Zug, Uri, Schwyz, Unterwalden und Glarus.
2. Im Krieg, bei Waffenstillstand oder in Friedenszeiten darf kein Eidgenosse einem anderen etwas stehlen.
3. Wenn wir gemeinsam in den Krieg ziehen, so soll keiner im Gefecht davonlaufen.
4. Wer stiehlt, soll bestraft werden, wenn zwei Zeugen ihn ertappt haben.
5. Ein verwundeter Krieger darf nicht bestohlen werden.
6. Es ist verboten zu plündern, bevor die Schlacht zu Ende ist. Erst wenn die Hauptleute es erlauben, darf geplündert werden. Das geraubte Gut muss verteilt werden. Jeder erhält ungefähr gleich viel.
7. Kapellen und Kirchen dürfen nicht geplündert oder angezündet werden. Nur wenn der Feind sich in einem Gotteshaus versteckt oder dorthin sein Gut geflüchtet hat, darf eine Kriche oder Kapelle angegriffen werden.
8. Frauen dürfen nicht geschlagen, gestochen oder „ungewöhnlich behandelt“ werden, es sei denn, sie verraten einen durch ihr Geschrei vor dem Feind, wehren sich oder fallen einen an.
9. Kein in Punkt 1 genannter Ort darf von sich aus Krieg anfangen. Kriege werden gemeinsam beschlossen.

Drita lebt in einem konservativen Dorf in Kosovo, dem Geburtsort meines Mannes. Sie ist seine jüngste Cousine väterlicherseits und als einzige noch ledig. Letztes Wochenende wurde sie verlobt. Sie wird im Laufe dieses Jahres heiraten und ab diesem Moment bei ihrem Ehemann wohnen. Sie ist dann verpflichtet, ihre Schwiegereltern und deren Haus bis in den Tod zu pflegen und mindestens einen Sohn zu gebären.

Ich hatte das Glück, Drita letzten Winter kennen zu lernen. In Kosovo lag sehr viel Schnee und wir sassen in den Ferien hauptsächlich um den Ofen herum. Auch im eingeschneiten Haus ist uns die Decke nicht auf den Kopf gefallen. Drita unterhielt uns mit ihren unzähligen Geschichten, Gedichten und Liedern. Drita bedeutet in Albanisch Licht. Ein passender Name, denn sie hat auch während dem täglichen Stromausfall stets Licht in die Stube gebracht. Sie hackte Holz, sprang übers Feuer, sammelte die letzten Kastanien, briet sie auf dem Ofen, führte uns ihre akrobatischen Kunststücke vor, machte den Handstand und konnte sogar den Spagat. Sie wusch ihrer alten Mutter die Füsse und massierte ihrem kranken Vater den Rücken. Sie wäre die perfekte Schauspielerin, in so viele Rollen konnte sie schlüpfen. Ihre Stimme war zum Verlieben. Besonders wenn sie ihren Neffen tröstete oder ihm Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte. Seine Kindergärtnerin wollte ihn direkt in die zweite Klasse bringen, aber Drita fand ihn als Fünfjährigen dann doch zu klein dafür.

Mein Mann und seine älteste Cousine sind sehr traurig, dass Drita nun „zur Frau wird“. Was hätte es nun für einen Sinn, in ihrem Heimatdorf Ferien zu machen, wenn sie nicht mehr da sei? Das Licht ist aus.

Endlich habe ich mich getraut, meine ehemalige Schülerin nach ihren beiden Kindern zu fragen. Warum ich mich Jahre zurück gehalten und von weitem so getan habe, als ob alles normal und in Ordnung wäre, weiss ich nicht.
Nun habe ich Aliva einmal ohne ihren Mann getroffen und die seltene Gelegenheit benutzt, um mich nach ihren Söhnen zu erkundigen, die vor acht Jahren von ihrem Vater entführt wurden. Auch wollte ich wissen, wie es eine Mutter aushält, so lange von den Kindern getrennt zu sein?
Es gehe den beiden gut im Nahen Osten. Sie besuchten in der Hauptstadt des Landes eine katholisch-französische Schule zusammen mit Diplomatenkindern. Das koste im Vergleich zu schweizerischen Privatschulen fast nichts. Sie habe hart gearbeitet, um ein Haus in einem besseren Quartier zu kaufen, damit die Buben zusammen mit Tanten und Grosseltern aus der Zweizimmerwohnung ausziehnen konnten. Im vergangenen Oktober habe sie einen Besuch gemacht, Kleider und Schulmaterial gebracht. Ihr Arabisch sei inzwischen viel besser geworden. Im Gegensatz zum Jüngeren verstehe der Ältere noch Schweizerdeutsch und vermisse die Mutter sehr. Der Kleine leide weniger. Er sei mit Markenartikeln aus der Schweiz zu trösten, gebe damit in der Schule an und lasse sich von der ganzen Verwandtschaft verwöhnen. Sie, Aliva, versuche, das Beste aus der Sache zu machen, beginne bald mit einer Zusatzausbildung. Lernen und Arbeiten sei das, was sie durch die Tage bringe.
Heute lebe sie wieder mit dem Mann zusammen, der vor acht Jahren ihre Kinder entführte. Er besitze nun die nötigen Papiere, um in der Schweiz zu bleiben und sie habe alles einigermassen unter Kontrolle.

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