Obwohl noch viel „Schnee in der Luft ist“ und Vater eigentlich am liebsten zu Hause bleibt, freut er sich seit Tagen auf den Besuch im grössten Stall des Dorfes. Der junge Bauer hatte ihn eingeladen, seine Rinder und Kälber, ohne Ausnahme von schweizerischen Spitzenstieren abstammend, zu besichtigen.
Ein ganz besonderes Angebot, da die Züchter sonst keine fremden Leute die Ställe betreten lassen.
Seit Jahren hatte Vater es akzeptiert, dass er selbst im Stall seines Schwiegersohnes und Nachfolgers auf dem Hof nicht mehr ein und aus gehen konnte. Er lasse die Jungen machen, welche sich der neuen Zeit anpassen müssten. Trotzdem tat es ihm weh, dass er nie mehr gefragt und die Landwirtschaft mehr und mehr zum reinen Geschäft wurde.
Auf seinen Rollator gestützt steht er nun im grossen Stall, wo sich gegen hundert Rinder frei bewegen können, stellt Fragen und folgt interessiert den Erklärungen des Fachmannes.
Dass die Tiere bei unserem Erscheinen unruhig werden, findet der Bauer nicht schlimm, im Gegenteil, eine Abwechslung tue ihnen gut. Kleinesmädchen strampelt mit den Beinen und fuchtelt mit den Händchen, fängt an zu „muhen“ und erschreckt damit die schwarzen Kälber.
Gegen hundert Rinder recken ihre Köpfe dem Meister zu, wollen gestreichelt werden. Er macht uns auf seine besonderen Lieblinge aufmerksam. Z.B. auf ein kleines Rind, welches neben den Grossen den vordersten Platz halten kann. Bei Nr. 583, einem dunkelbraunen Tier mit schwarz umrandeten Augen und einer tulpenförmigen weissen Blesse auf der Stirn konsultiert der Bauer eine Liste, die er immer in Brusttasche trägt. Das Rind heisst „Datscha“.
Wie er denn bei so vielen Häuptern den Überblick behalte, wenn sie „stierig“ (brünstig) würden, will Vater wissen. Die passenden Bullen ermittle man per Computer. „Natursprünge“ seien nur noch selten, immer dann, wenn eine künstliche Besamung nicht klappe. Wichtig sei es, dass sich die Tiere wohl fühlten, dann sei die Nachzucht kein Problem.
Das Futter produziert Bauer Stefan auf dem Hof und ergänzt es, besonders bei trächtigen Tieren, mit einer „Müsli“-Mischung u.a. aus Hafer, Mais und Affenbrot, ein Schweizer Produkt, obwohl man heute nicht sicher sein könne, ob wirklich alle Zutaten im Innland angebaut würden.
Bevor er seinem Liebling, einem Rind mit glänzend schwarzem Fell, eine Handvoll hinhält, knabbert er selber einige Flocken und Körner.
Nach dem Besuch im Stall machen wir mit Vater noch eine gemächlige Besichtigungsfahrt durch die Felder, zum Teil steile, aber sonnseitige Äcker. Versiert steuert 2nd2nd, male den schweren Chrysler (ausgeliehen von 2nd, male, der im Moment mit der Familie in der Mojave Wüste unterwegs ist) über die steinigen Wege. Vater ist ganz aufgeräumt, kennt alle Häuser, die an den Hängen kleben, jede kleinste Abzweigung in einen abgelegenen „Chrachen“, er weiss, wem Land und Holz gehören und erzählt von früher, als Mutter noch lebte, die auch alle Leute kannte.

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Obwohl die Kräutersuche in diesem Jahr mühsam war, die guten Plätzchen um- und abgegraben, gelang es doch mit einiger Anstrengung, eine Handvoll hundekotfreie Pflänzchen zu finden. „Ich spring nur über Gräbelein und find‘ kein einziges Blättlein“, jammerte meine Tochter frei nach Grimm und schwenkte verzweifelt ihre leere Plastiktasche. Hätte ich das Färben nicht besser der Firma EiCo überlassen?
Aber schliesslich sassen wir dann doch mit einigen Zuhausegebliebenen um den grossen Tisch und drapierten Blättchen, Blüten und Halme auf die Eier.
Natürlich füllten wir auch die den Eierschachtel beigelegten Wettbewerbstalons aus. Erstaunlicherweise konnte sich niemand für den ersten Preis, einen Chevrolet Matiz, erwärmen. Alle waren für den dritten: einem Brunch für zehn Personen auf einem Bauernhof in der Region. Der Gewinner würde selbstverständlich die Tischrunde einladen.
Da die Talons schon seit dem 26. Februar im Umlauf sind, haben wir kaum Chancen, auf diesem Wege zu Hamme, Züpfe, Niidle, Chäs u Anke zu kommen.

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In Wien werden die Hauswarte „Hausmeister“ genannt. Ist dieser Posten aber von einer Frau besetzt, so ist sie nicht „Hausmeisterin“, sondern „Hausbesorgerin“, erklärt mir die Cousine meines Schwiegersohnes, welche mich zusammen mit ihren fünf Kindern im 13. Stock besucht. Sie „besorgt“ das Haus, in welchem sie wohnt. Es ist ein Bau aus dem 18. Jahrhundert in der Wiener Innenstadt gelegen, mit hohen Zimmern, altem Parkett, Türen mit Glasfenstern und einem Lift mit Spiegel im Goldrahmen. Eigentlich mögen die Hausbesitzer, Rechtsanwälte seit Generationen, weder Ausländer noch Kinder. Aber bei der siebenköpfigen Familie aus dem Kosovo machten sie eine Ausnahme, denn auch in Wien sind versierte Hausbesorgerinnen rar.

Seit Tagen liegt in der Unterführung eine Plastiktasche mit Arbeitskleidern, einem Paar Schuhen und einem Ledergürtel.
Meine Nachbarin und ich fragen uns, was wohl mit dem dazugehörenden Maler geschehen ist.

Wochenende

Nach den letzten beiden ländlichen Beiträgen wieder zurück auf den städtischen Boden von heute. Durch ihn wühlt sich der Baggerzahn wie nie zuvor in der Geschichte. Tiefe Gräben reisst er auf, manchmal auch Wasserohre und elektrische Leitungen, stösst Erdhügel in Form einer Vor-Voralpenkette zusammen, frisst sich in Mauern und Dächer und reisst sie nieder.
Wie Schiffe auf dem ausgetrockneten Aralsee ragen die drei Wohnblöcke des Quartiers aus der Bauwüste. Überall trifft das Auge auf schmerzende Hässlichkeit. Blumen und Sträucher werden abrasiert. Ihre Wurzeln ragen aus der nackten Erde. Wer das Haus täglich zu Fuss verlassen muss, hat sich mit den unsinnigsten Umleitungen abzufinden, wie Wege über glitschige Bretter, durch Autotunnel und über Treppen. Zum Bus kommt man über einen steilen, notdürftig geteerten Erdwall – oder eben nicht.
Nun sind auch die Bäume auf der Ostseite meines Blocks abgeholzt – es soll in den nächsten Jahren ein „übersichtlicher Platz“ entstehen.
In ganz Bern scheint eine Bauwut ausgebrochen zu sein, denn auch im Innern von Waren- und Bürohäusern, Schulen und Spitälern wird umgebaut – immer bei vollem Betrieb und auf Kosten der Gesundheit von Angestellten und PatienInnen.
Der neue Stadtteil „Westside“ wird sicher einmal eine Seite in einem prächtigen Bildband zur Architektur von Daniel Libeskind einnehmen.
Aber bis dahin hat mich der Baggerzahn längst aufgefressen.

Die Hausverwaltung hat mir in diesem Jahr eine neue Dusche und einen neuen Schlafzimmerboden zugesprochen. Ein Anruf von mir genügt und ein kleines Handbäggerchen kommt, um mit seinen kleinen scharfen Zähnchen den Boden in meiner Wohnung aufzureissen.

Wenn das Wetter nur aufhelle für die Hochzeitsfotos, dann sei alles gut, meinte Frau Zahnd, welche für das Abräumen des kirchlichen Blumenschmucks nach der Trauung zuständig ist, und auch für die rasche Überführung desselben ins Festzelt. Die ersten Gäste fahren vor. Motorhauben und Autodächer sind geschmückt mit Spielzeuglastwagen, einer Hochzeitstorte aus Karton, Blasinstrumenten, ja, sogar ein Hornschlitten mit Heuballe und Sennenpuppe hatte jemand aufmontiert. Der Brautführer trägt ein rotes Herzkissen mit den Ringen, ein kleiner Kaminfeger wartet auf seinen Einsatz als Glücksbringer. Seine Mutter wischt ein Stäubchen vom Zylinder, prüft die Hufeisen an der Leiter.
Die Kirchenglocken beginnen zu läuten. Zügigen Schritts eilt das Brautpaar herbei, begleitet vom Fotografen mit schwerer Kamera.
Während die Zeremonie im Innern der Kirche ihren Lauf nimmt, fahren zahlreiche Traktoren und Lastwagen auf den Viehschauplatz – der Überraschungskonvoi für das Brautpaar. Die Tochter des Käsers, Bäckerin und Büchelbläserin, heiratet einen Bauern und Bauarbeiter aus den Voralpen, ein Event für die ganze Region!
Nach einer Stunde ziehen Jodel- und Naturhorntöne durchs Dorf. Arbeitskolleginnen der Braut stehen Spalier mit blumengeschmückten Riesenbaguetten. Nun folgt das unvermeidliche Fotografieren in der nahen Klosterruine, der dorfeigenen Akropolis.
(In der ganzen Gemeinde gibt es sicher kein Fotoalbum ohne diese Kulisse, seis bei Konfirmation, Hochzeit, Taufe oder Begräbnis.)
Nach einem ohrenbetäubenden Hupkonzert formieren sich die schweren Maschinen zu einem langen Zug. Vorneweg ein Traktor mit bekränztem Güllenfass. Darin sitzen das Braut- und das Brautführerpaar. Dann folgen weitere Traktoren jeden Alters und die schweren Lastwagen der Baufirma, bei welcher der Bräutigam angestellt ist.

Es gibt Leute, die einem „Es guets Tägli“ wünschen. Was soll das? Haben sie Angst vor einem richtigen Tag?
Auf die Frage „Wie geht es dir?“ erhalte ich oft die Antwort „Danke, u sälber?“
„Tschüss, Schöne!“ ist kein Kompliment, sondern die Abküzung für schönen Abend oder schönen Tag.
Mit der Anrede „Liebe Alle“ werden an meinem Arbeitsplatz immer öfters interne Mails verschickt.
So etwas von läppisch!

Überspringen Sie beim Lesen eines Buches die Widmung? Ich tue es nicht mehr, denn oft ist diese Phantasie anregender als der Inhalt.
In „Pharmaceutical statistics“ (646 S.!) habe ich folgende Widmung gefunden:
To my wife Phyllis
always present
always sensitive
always inspirational

… und in „Animal models on toxicology“ (884 S.!) :
To my beloved babies Samantha, Katina, and Jake
for ever in Daddy’s heart
and to Suzann, whom I’ll always love.
To my wife Mary Anne

Interessant wäre es zu wissen, wie Phyllis und Mary Anne die Widmung aufnahmen. Suzann hat das Erscheinen des Buches wahrscheinlich nicht mehr erlebt, und was die Babies von allem halten, nähme mich auch wunder.

Brot mit Kropf
Mein Sonntagsbrot, abgezeichnet vor dem Anschneiden,
da ich meine Kamera im Dorf vergessen habe;-)

Die alte Bäckersfrau hatte einen Kropf, der ihr schwer aus dem Blusenkragen quoll. Auch die Brote, Vierpfünder ruch, hatten alle einen Kropf, und meine kleine Schwester Rosy war überzeugt, dass Frau Krähenbühls Brote so aussehen müssen. Auf dem Heimweg rissen wir Kinder Krumen aus der mit zarter Kruste bedeckten Wucherung und lieferten die Brote oft mit grossen Löchern zu Hause ab. Ich erinnere mich nicht daran, dass die Mutter darüber böse war.
In unserer Gegend sind Kröpfe bei Menschen zum Glück seltener geworden, da durch entsprechend angereichertes Speisesalz kein Jodmangel mehr besteht.
Auch die meist industriell hergestellten Brote weisen kaum mehr Kröpfe auf, und es gibt kaum mehr Kinder, die das Brote-von-der-Kropfseite-her-aushöhlen etwas vom Feinsten finden.
Im Dorf meines Vaters wird pro Woche nach langen Jahren wieder 1 rucher Vierpfünder auf Bestellung gebacken.

Dieser frühe Frühling bringt alles durcheinander. So findet mein erstes Saisongespräch mit meinem Nachbarn nicht wie all die vergangenen Jahre in luftiger Höhe, sondern im Bus statt. Er habe sich früher pensionieren lassen, da es in seiner „Bude“ gerade ein Sonderangebot für Pensionierungswillige gegeben habe. Nun sei er oft im Luzernischen, helfe seinem Bruder mit den Kühen und dem Holz. Das „Heimet“ sei stotzig und die Nichten und Neffen am Studieren. Auch wolle er sich mehr Zeit zum Lesen nehmen. Einmal habe er im „Das Beste“ die gekürzte Version einer Geschichte gelesen. Seit Jahren suche er das Original, sei deshalb schon in einer Buchhandlung gewesen, wo man ihm aber nicht habe helfen können. Er wisse nur, dass die Geschichte „Das Vermächtnis“ heisse.

Beim Kauf eines Waffenschrankes der Marke „Ranger A5“, inkl. Doppelbartschloss mit 2 Schlüsseln erhalte ich bis zum 31. März einen Cumulus-Vorteil von 160.-.
Das Möbel mit Sicherheitsstufe A und Spezialfach für Munition kostet statt 429.- nur noch 269.-.
Natürlich erhalte ich auch auf alle Asco-Nassfutter einen Rabatt von 6.50 bei einem Mindesteinkauf von 13.-.
Schade, dass ich keinen Rasen besitze, denn beim Benzin-Rasenmäher „High Wheel“ könnte man 400.- sparen! Ich gebe den Bon gerne ab, und auch den für den Hochdruckreiniger „K 3.900 M plus“ (Rabatt 300.-).

Seit seinem Hirnschlag vor sechzehn Jahren ist mein Pflegebruder gelähmt. Viele Leute meinten damals, es wäre besser, wenn er sterben dürfte. Seine Frau nahm ihn nach Hause auf den abgelegenen Bauernhof im Jura, liess eine Rampe ins Haus zimmern, stellte ihn bei schönem Wetter im Rollstuhl unter einen Baum, damit er die Arbeiten auf dem Hof mitbekam. Die Familie lernte die Laute des Vaters verstehen und er sah die Kinder aufwachsen.
Nur mit dem Daumen seiner linken Hand gelingt ihm eine leichte Bewegung. Will er etwas schreiben, wählt er aus dem vorbeiziehenden Alphabeth auf dem Bildschirm des Computers den passenden Buchstaben aus, indem er damit ein Metallplättchen an seinem linken Zeigefinger berührt.
Letzte Woche hat er seinem Pflegevater folgenden Brief geschrieben:

Lieber Vater

bevor es ganz Frühling wird, möchte ich dich doch mal fragen, wie es dir geht.
Ich habe vernommen, du seist in der Zwischenzeit im Spital gewesen. Aber es ginge dir jetzt wieder viel besser. Das ist doch normal, wenn der Frühling kommt, dann erwachen die alten Menschen und sie fangen an zu hüpfen wie Kälber, die zum ersten mal nach draussen gehen.
Bei uns da oben hat es schon Schneeglöckchen und das ist hier sehr früh. Ob sie sich am Datum verschaut haben, ich weiss es nicht.
Schnee haben wir nicht viel, aber für mich ist es super, denn mit dem Rollstuhl im Schnee, das geht nicht gut.
Nadine und ich sind nun mit Isabelle allein zuhause. Beatrice ist fertig mit der Lehre als Krankenschwester. Sie arbeitet in Neuenburg und ist damit ausgezogen nach Neuenburg.
Nun wünsche ich dir noch einen milden Winter und gute Gesundheit

Heinz und Familie

Endlich habe ich mich getraut, meine ehemalige Schülerin nach ihren beiden Kindern zu fragen. Warum ich mich Jahre zurück gehalten und von weitem so getan habe, als ob alles normal und in Ordnung wäre, weiss ich nicht.
Nun habe ich Aliva einmal ohne ihren Mann getroffen und die seltene Gelegenheit benutzt, um mich nach ihren Söhnen zu erkundigen, die vor acht Jahren von ihrem Vater entführt wurden. Auch wollte ich wissen, wie es eine Mutter aushält, so lange von den Kindern getrennt zu sein?
Es gehe den beiden gut im Nahen Osten. Sie besuchten in der Hauptstadt des Landes eine katholisch-französische Schule zusammen mit Diplomatenkindern. Das koste im Vergleich zu schweizerischen Privatschulen fast nichts. Sie habe hart gearbeitet, um ein Haus in einem besseren Quartier zu kaufen, damit die Buben zusammen mit Tanten und Grosseltern aus der Zweizimmerwohnung ausziehnen konnten. Im vergangenen Oktober habe sie einen Besuch gemacht, Kleider und Schulmaterial gebracht. Ihr Arabisch sei inzwischen viel besser geworden. Im Gegensatz zum Jüngeren verstehe der Ältere noch Schweizerdeutsch und vermisse die Mutter sehr. Der Kleine leide weniger. Er sei mit Markenartikeln aus der Schweiz zu trösten, gebe damit in der Schule an und lasse sich von der ganzen Verwandtschaft verwöhnen. Sie, Aliva, versuche, das Beste aus der Sache zu machen, beginne bald mit einer Zusatzausbildung. Lernen und Arbeiten sei das, was sie durch die Tage bringe.
Heute lebe sie wieder mit dem Mann zusammen, der vor acht Jahren ihre Kinder entführte. Er besitze nun die nötigen Papiere, um in der Schweiz zu bleiben und sie habe alles einigermassen unter Kontrolle.

„Ist bei Ihnen eine blaue Zahnspange abgegeben worden?“ fragt das Mädchen die Verkäuferin am Salat-Buffet.
„Eine Zahnspange? Hast du sie hier verloren?“
„Nein, dort drüben auf der Treppe. Da hab ich etwas gegessen“ Das Mädchen zeigt hinaus in die Lauben, wo zahlreiche Hungrige ihre Brote verzehren.
Die Verkäuferin fragt ihre Kolleginnen, gibt dem verzweifelten Kind den Rat, doch noch beim Kundendiest zu fragen.
Als ich nach meinem Einkauf auf die Strasse trete, sitzt die Schülerin schluchzend auf der Treppe.
„Soll ich mitkommen zum Kundendienst?“ frage ich sie.
„Nein, meine Mutter hat gesagt, ich soll hier warten.“
„Hat sie wegen der Spange geschimpft?“
„Ja, ganz schrecklich.“
„Aber das ist doch nicht so schlimm. Du hättest ja verunglücken können. Ihr könnt es der Versicherung melden. Sei nicht mehr so traurig!“ versuche ich zu trösten.

Sonnseite

Im Dorf, in dem mein Vater lebt, bin ich heimatberechtigt. Nur durch Zufall, weil durch Heirat. Der Ort mit den Bauernhäusern, der Kirche, dem Friedhof, der Schmiede, der Post, der Landwirtschaftlichen Genossenschaft, dem Lebensmittelladen, dem alten und dem neuen Schulhaus, dem Viehschauplatz, dem Feuerweiher, der Webstube und der umwerfenden Aussicht auf Berge und See mit Rundblick vom Luzernischen übers Bernische zum Freiburgischen steht mir verbrieft als Heimat zu. Wie eine Klette hakt diese sich an mir fest, obwohl ich immer wieder versuche, sie los zu werden.
Keine Chance! In Gedanken kümmere ich mich um alles, was mich nichts angeht: um den gebrochenen Ast der Trauerweide, welcher herunter zu fallen droht, den nicht vorhandenen Fussgängerstreifen über die viel zu schnell befahrene Strasse nach Helgisried, das schräg hängende Christusbild in und das marode, kaum mehr begehbare Kopfsteinpflaster vor der Kirche, den dreckigen Dorfbrunnen, das verstaubte kleine Museum bei der Ruine, wo man das Gästebuch erneuern sollte usw.
Manchmal schreibe ich dem Gemeindepräsidenten ein Mail. So auch in der vergangenen Nacht, wo ich mich darüber beklagte, dass die Verkaufsstände vom Adventsmärit 2006 noch in der Gegend herum stehen.
(Er hat mir gleich geantwortet, hat veranlasst, dass subito weggeräumt wird.)
So lastet Heimat auf meinen Schultern und raubt mir manchmal den Schlaf.
Vergeht einmal ein Samstag, ohne dass ich im Dorfladen etwas einkaufe, fragt die
Inhaberin, ob alles in Ordnung sei, ob sie zu früh geschlossen hätte? Sie wolle sich nicht aufdrängen, hätte beinahe telefoniert. Sie öffne jederzeit, wenn wir etwas brauchten.

Die erste Brille bekam ich mit sieben Jahren. Ich sass hinten auf dem Gepäckträger und klammerte mich an die Schürze meiner Grossmutter, welche auf ihrem Rücktrittvelo flott der Stadt Burgdorf entgegen radelte. Das düstere Optikergeschäft mit den Glaskästen voller Brillen und der Doktor im weissen Mantel kamen mir vornehm vor. Zwischen den Wandschränken hingen in Gold gerahmte Fotos einer wunderschönen brillenlosen Frau, von der meine Grossmutter mir zuflüsterte, das sei die Schwester vom Tokter Della Casa. Was ich ihr nicht glaubte.
In Kinderbrillen gabs keine Auswahl, und so bekam ich eine mit runden Gläsern in einer braun gesprenkelten Fassung aus Bakelit. Bereits nach wenigen Tagen riss ich die braune Schicht ab. Darunter kam ein Draht zum Vorschein, eng gewickelt wie eine Sprungfeder.
Auf dem Schulweg musste ich einige Kinder mit dem Schirm verprügeln, weil sie es wagten, mir „Brüllengügger“ nachzurufen.
Ein paar unvergessene Brillen später brachten mich meine Eltern zu einem berühmten Professor. Ich habe keine Ahnung, wie die einfachen Pächtersleute zu diesem Arzt fanden, welcher dann mein Schielauge für ein geringes Honorar richtete.
Prof. Dr. Hans Goldmann verdanke ich zahlreiche brillenlose junge Jahre!
Für aparte Brillen habe ich eine Schwäche und hab mich nur einmal vertan. Da gab ich mein Erspartes aus für eine Brille mit rotgrüner Seide auf pakistanischem Wasserbüffelhorn – eine grauenhafte Création.
Ab gestern trage ich Bellinger – ein bisschen verrückt und doch schlicht.

Brautstrauss

Darf ich Sie beschützen?
da sagtest du: Mein Herr, Sie sind trivial.
Als ich dich fragte:
Kann ich Ihnen nützen?
da sagtest du: Vielleicht ein anderes Mal.
Als ich dich bat:
Ein Kuss, mein Kind, zum Lohne!
da sagtest du: Mein Gott, was ist ein Kuss?
Als ich befahl:
Komm mit mir, wo ich wohne!
da sagtest du: Na, endlich ein Entschluss!

Das Gedicht von Erich Mühsam steht auf der Einladungskarte.

Ein Strauss für die Braut und viel Glück!
(2nd, female und 2nd, male heiraten morgen.)

Ein Regensonntag und Zeit fürs neue NZZ-Folio „Teheran“. Der Iran feiert heute den 27. Jahrestag der islamischen Revolution, lese ich, stöbere dann in meinen Archivschachteln und erinnere mich an den Sommer 1978:

In einer dichten Autoschlange kriechen wir unter die Smogdecke wie in einen grauen schwabbenden See, hinein in die Millionenstadt Teheran. Im Norden Berge auf deren höchsten Gipfeln Schnee liegt.
In der Nähe des Shahyad Towers treffen wir einige junge PerserInnen in chicen Sportwagen und in wochenendlicher Partystimmung. Klar kennen sie ein passendes Hotel für eine Familie. Sie werden uns lotsen – no problem. Und schon geht’s flott hupend und blinkend hinein ins unbeschreibliche Verkehrschaos. Wir durchqueren die elendesten Slums, wo die Menschen halbnackt in Autowracks leben und werden später vor einem kleinen Hotel, umgeben von schattigen Bäumen, verabschiedet. Hier wollen wir einige Tage bleiben, um unser Auto zu überholen und Briefe nach Hause zu schreiben.
Das Wasser des Hotelpools, aus 300 Metern Tiefe heraufgepumpt, erfrischt nicht nur die „ausgetrockneten“ TouristInnen sondern auch die Wohlhabenden aus der Stadt, die ihre Nachmittage hier verbringen. Ein holländischer Geschäftsmann, erzählt mir von seinen engen Verbindungen zum kaiserlichen Palast. Er handle mit Opium. Das könne ich ihm nicht glauben. O doch, meinte er. Noch etwas werde er mir verraten. Der Schah sei in der vergangenen Nacht in seinen privaten Gemächern angeschossen worden. Der Anschlag werde geheim gehalten, aber das sei der Anfang vom Ende des Pfauenthrons, und seine Geschäfte seien wohl bis auf weiteres dahin.
So etwas! In meinen Briefen erzähle ich diese Hiobsbotschaft brühwarm weiter.
Sie kommen alle geöffnet und mit schwarzen Zensurbalken in der Schweiz an.
Es ist Ende August 1978, und zu Hause ahnt noch kaum jemand etwas von einer islamischen Revolution im Iran.

Mit seinen Müllkontainern hinter verwitterten Kipptoren, der Glas- und Blechsammelstelle, einem ramponierten Fahrradständer und den verdreckten Betonblumenkübeln ist das „Ghüderhüsli“ (Kehrichthaus) in unseren Quartier nicht gerade der Vorzeigeort. Da sich hier auch die Parkplätze befinden, trifft man sich, wird abgeholt, packt den Zügelwagen ein und aus, liefert den Einkauf an, stapelt jede zweite Woche die alten Zeitungen für die Sammlung.
Wegen länger andauernden Umbauarbeiten sind in der vergangenen Woche die Apotheke, der Lebensmittelladen und das griechische Restaurant in Baracken neben das Kehrichthaus gezogen, an dessen Mauer nun auch die öffentliche Telefonkabine und die Briefkästen der Geschäfte zu finden sind.
Keinen scheints zu stören. Anstatt um eine Kirche versammeln wir urbanen Dorfleutchen uns halt zeitgemäss um ein Kehrichthaus.
Natürlich haben wir einem so wichtigen Platz schon lange einen angemessenen, vornehmen Namen gegeben:
„Al Khudhar“ wird er in meiner Familie genannt, nach dem berndeutschen Wort „Ghüder“ – klar?

Die alten Angehörigen zu Hause zu betreuen, ist im Kanton Bern etwas vom finanziell Dümmsten, was man tun kann. Ihnen die vertraute Umgebung zu erhalten und hohe Eigenleistungen zu erbringen, geht ans Guttuch und an die Nerven. Fatal wird es, wenn die Pflegebedürftigen auf Fürsorgeleistungen in Form einer Hilflosenentschädigung angewiesen sind. Das ist u.a. der Fall, wenn die berufstätigen Kinder, meist die Töchter, nicht die gesamte Betreuung übernehmen können und Unterstützung durch Dritte brauchen. In der Abklärungszeit des Gesuchs, die oft mehr als ein Jahr dauert, schrumpft der letzte Rest des mühsam Ersparten hurtig dahin.
Vater befindet sich gerade in einer solchen „Testphase“, die nun schon den 13. Monat andauert. Um „Missbräuchen vorzubeugen“, wird also auch der 96jährige seh-, gehör- und gehbehinderte, Nieren und Herz insufiziente hochgradig blutarme Greis auf die Warteliste gesetzt. Könnten die Beeinträchtigungen in einem Jahr nicht wieder völlig verschwinden? Dann hätte man die Beiträge ja an einen Unwürdigen bezahlt. Werden diese dann einmal gesprochen, ist die Sorge nicht ausgestanden, denn es dauert wieder Monate, bis das Geld angewiesen wird.
Der alte Mann ist mit seinem guten Gedächtnis, der präzisen Ausdrucksweise, dem geraden Scheitel, den geschnittenen Nägeln und der sauberen Kleidung ohnehin ein unglaubwürdiger Aspirant auf diese Entschädigung, Arzt- und Spitalberichte hin oder her.
Vor einer Woche kam ein Beamter ins Haus, um den Fall vor Ort zu prüfen. Dass Vater nicht anwesend, weil im Spital war, tat der Kontolle keinen Abbruch. Er brauche dazu den Patienten nicht, meinte der kontrollierende Kantonsbeauftragte.
Auf der Gemeindeverwaltung, wo die ausgefüllten Gesuchsformulare, Berichte und Zeugnisse abgegeben werden müssen, rät die Beamtin, den Vater doch ins Heim zu geben, da dort die Beiträge zwar um vieles höher, aber ohne Verzögerung und problemlos fliessen würden!
Solches macht zornig und zeigt, dass Altern zu Hause immer mehr zum Luxus wird. Vater selber findet, es wäre jetzt besser, abzutreten, auch wenn er gerne noch ein bisschen die Urenkelkinder aufwachsen sähe.
Es ist bitter und unwürdig, dass sich alte Menschen und ihre betreuenden Angehörigen in der reichen Schweiz vorkommen müssen wie Bettler.

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