Alles oder nichts


Unser Quartier kann manches nicht mehr bieten, was in meiner Kindheit noch selbstverständlich war: Deutschkenntnisse, Studienabschlüsse, Sauberkeit, Seifenkistenrennen, Kasperlitheater. Doch seit Gründerzeiten ungebrochen ist ein Talent, welches man eher in der Häuschensiedlung erwarten würde als im Block: das Handwerkeln. Ich glaube fast, wir gehören zu den letzten Winkeln Berns, wo Löcher eigenhändig zubetoniert werden, wo einfach einmal einer die Scheibe glast, wo an Bushaltestellen gestrickt und vor der Hochzeit die halbe Aussteuer gehäkelt wird.

Besonders auffällig ist die Handarbeit für die Solidaritätsbekundungen. Heute begegneten mir auf dem Bus zwei Mädchen, die kaum unter ihren viel zu grossen Baseballcaps hervorgucken konnten. Erst aus der Nähe erkannte ich, dass die schwazen Kopfbedeckungen mit knallrotem Schirm aus dem Warenpostenladen mit tibetischen Drachen und „Tibet“ bestickt waren.

Oder am Tag nach dem Unabhängigikeitstag… Ich konnte es nicht lassen, zum orangen Riesen des Quartiers ins Restaurant zu sitzen. Klein Kosovo hatte frei genommen jedem sah man an, weshalb: Frauen hatten rote Schleier mit schwarzen Adlern bestickt, kosovarische Kinder waren damit beschäftigt, das UCK-Wappen auf ein Etui, einen Rucksack, eine Jacke, ein Hosenbein zu malen. Der Renner jedoch waren die roten T-Shirts! Dass sie überhaupt in dieser Menge erworben werden konnte, liegt bestimmt an vorausschauender Einkaufpolitik kosovarischer C & A-Mitarbeiterinnen.

Manche der roten Liibli waren mit ausgefransten Filzstiftworten beschrieben, aber die Vornehmeren waren benäht. Am allerbesten hat mir mein echt debiler Nachbar gefallen, über dessen grossen Bauch sich ein riesiger schwarzer Filzadler spannte.

Auch traurige Anlässe lassen in unserem Quartier die Emsigen erwachen. Ich erinnere mich gut an den Märztag vor vier Jahren, als in Madrid die Züge und Menschen gesprengt wurden. Noch am gleichen Tag waren hier rot-gelben Solidaritätsschleifen an Kleidern und Kinderwagen aus Papier und Stoff zu sehen und Fahnen pro Zapatero und contra Aznar flatterten aus den Fenstern. Längst vergessene spanische Zierkissen, von Grossmüttern geschaffen, wurden aus dem Keller geholt, auf Sofas drappiert oder unter die Heckscheibe der Autos gelegt.

Mängisch bini so toube über mini obere Genosse u Genossinne, das i am liebschte dr Partei würd dr Ustritt gä. Aber de dänkeni wider a alli, wo sech isetze für d’Allgemeinheit, nid nume für d’Lüt vo mire Partei, so dases allne es Bitzli besser geit – u de blibeni.

So, nach dieser berndeutschen, auf den ersten Blick nicht dazu passenden Einleitung, folgt hier mein verspäteter Beitrag zum Internationalen Tag des Wassers am 22. März.

Als ich Mitte der Neuzigerjahre einen neuen Schüler fragte, weshalb seine Familie in die Schweiz gekommen sei, sagte dieser: „Kommt viel Wasser in meine Haus“. Diese Antwort erstaunte mich, da ich wusste, dass die Familie aus dem Süd-Osten der Türkei stammte, einer Gegend, die ich mir eher trocken vorstellte.
Erst viel später verstand ich, was mir das Kind mitteilen wollte: Es sprach vom Ilisu-Staudamm. Neben der einzigartigen Felsenfestung Hasankeyf und weiteren archäologischen Fundstätten soll auch das Land über eine Fläche von mindestens
313 km2 überflutet werden. Mehr als 60 000 Menschen werden dann, abgespeist mit einem mickrigen Entgeld, ihre Lebensgrundlage verloren haben.
Für dieses grössenwahnsinnige und in jeder Hinsicht gefährliche Projekt bewilligte der Schweizer Bundesrat 2007 eine Exportrisikogarantie von 225 Millionen Franken! Wer nun meint, die daran geknüpften ca. 150 Auflagen im Zusammenhang mit Umsiedlung, Umwelt- und Kulturgüterschutz würden von der türkischen Regierung eingehalten, glaubt an den Fährimann.

Äs git Lüt, di säge, alles sig vil komplexer, als wieni das gsäch. Äs gäb de Schtrom für alli ds Anatolie, e höchere Läbensstandard u meh Arbeitsplätz.
I bi dr Meinig, dases Sache git, wo d’Schwyz nid darf mitmache, komplex hin oder här!

Auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten 2007 stehen 16 306 Tiere und Pflanzen! Es ist zu befürchten, dass sie im vergangenen halben Jahr länger geworden ist.
Nicht so ernst, aber trotzdem bedauerlich ist das Verschwinden der Ostergluggere, der Henne aus Milchschokolade, die auf ihrem Schokoladennest sitzt und Ostereier legt. Ich suche sie überall, bin sogar bereit, einen Confiserie-Preis zu bezahlen, aber abgesehen von Marzipanentenküken mit roten Hütchen finde ich nichts Federviehähnliches. Gibt es mehr zu tun, eine Henne zu giessen als einen Osterhasen mit Überbiss?
Mit Bedauern stelle ich fest: Aus Bern ist die Gluggere verschwunden. Ob es sie in anderen Städten noch gibt?

Begegnung.

Auch ich koche mit Wasser Gas.

… ändert das Wetter – oder bleibt, wie es ist. Einige von uns brauchen weder Hahn noch Wetterfrosch oder -fröschin. Sie haben ihre Gebresten, welche zuverlässig auf Wetterumschläge hinschmerzen.
In diesen Jahren hätte mich mein rechtes Sprunggelenk nach der „Adelbodner Bergrechnungs-Chronik“ arg geplagt:
1628 Später Frühling, kühler Sommer. Das Frutigdorf wurde jeden Monat überschneit.
1698 Grosser Heumangel, später Frühling.
1708/09 Unerhörte Winterkälte. Früher Frühling und unfruchtbarer Sommer.
1808 Später Frühling, nasser Sommer. Am 11. September ein Meter Neuschnee im Tal. Im November konnte man dann emden und Erdäpfel graben.
1816/17 Teuerung und Hungerjahre.
1837 Später Frühling. Die Heunot zwingt viele zur Auswanderung mit dem Vieh nach Aeschi und Reichenbach.
1883 Am 4. Juli verheerendes Hagelwetter über Schwandbäuert.
1897/98 Leichter Winter, Blumen im Januar.
1908 Am 23. und 24. Mai gewaltiger Schneefall.
1930 Am 4. Juli und 6. Juli Hochwasser.

Nach einem Artikel von Hans Bircher (aus Mutters Sammlung) vom 31.07.1987

Sonne im leeren Haus

Das alte Haus wird leerer. Immer wieder ruft jemand an
und möchte einen letzten Blick hinein werfen. Heute ist
es hier auf der „Laube“ besonders sonnig und warm.

Auf und zu

Einmal im Monat treffe ich mich mit früheren Arbeitskolleginnen in der Quartierbeiz. Wir bestellen dann Rotwein und Schinkenbrote mit Salat. Heute sitzen fünf Männer am Tisch hinter uns und hören aus drei Handys laute Musik. Ich drehe mich zu ihnen um und bitte sie, diese abzustellen. Sie werden unterschiedlich zornig und beschweren sich über mich bei der Kellnerin, als diese ihnen das Bier bringt. Die Frau kommt zu mir und erklärt, dass es mit diesen Männern hier im Restaurant immer Probleme gebe. Von Frauen liessen sie sich nichts sagen. Wir sollten sie einfach nicht beachten und uns nicht aufregen. Hoppla. Meine Kolleginnen sind auch dieser Meinung und bitten mich inständig, mich ruhig zu verhalten. „Ja, Gottfriedli, muss ich mir das gefallen lassen? Auch ich bin hier zu Hause.“ Ja, aber ich wisse doch, was passieren könne, wenn man solche Leute provoziere. Ich solle mich bitte, bitte zurück nehmen, denn ich hätte doch noch etwas anderes vor als mit einem Messer …
Später ziehen die Männer dann ab, immer noch wütend. Einer sagt mir: „Du nicht meine Chef, du nicht in dein Haus, hier Restorant, alle kann machen was gefällt, du ganz frech Frau, du kein Respekt vor Auslander!“ Dazu sage ich nichts. Innerlich muss ich ein bisschen lachen. Die Kellnerin, überraschend mutiger geworden, kommt und bittet die „Herren“, die „Damen“ in Ruhe zu lassen.
Widerstrebend zieht auch der ab, welcher mich nicht als Chef will. Unter der Tür wirft er mir einen bösen Blick zu und droht:
„Ich scheiss auf deine Kopf.“
Die Kellnerin spendiert uns auch heute einen Kaffee. Bei jedem Besuch dankt sie uns dafür, dass wir ihren Söhnen Deutsch und Mathematik und ein bisschen Gümmäng* beigebracht haben. Der Ältere konnte heute seinen Lehrvertrag unterschreiben.
(Berndeutsch für „Benehmen“, abgeleitet von „comment“, französich „wie“)

(Wir wissen ja, dass wir manche Artikel über unsere Quartiere zuerst überschlafen müssen, um sie zu verstehen. Aber immer öfter werden wir unsere widerspenstigen Gefühle auch Tags darauf nicht los.)

Überraschend ist die Erkenntnis, dass es in Hochhäusern weniger Konflikte gibt. Diese Bauten sind für viele ein Schreckgespenst. Sie gelten als Hochburgen der Anonymität. Genau dies verhindere Konflikte, sagt Professor Nett. (…) Je weniger tägliche Kontakte es gebe, je weniger die soziale Kontrolle ausgeprägt sei, desto weniger Reibungsflächen gebe es.

Warum haben wir das nicht längst gemerkt? Es erklärt so vieles!

Dass die Kassen in den Quartiervereinen von Bernwest im Vergleich zur übrigen Stadt immer gut gefüllt sind, hat nicht etwa mit dem Weitblick der Erstbewohner und der Effizienz der Freiwilligen zu tun, nein, es liegt auf der Hand: Die Schatullen sind in der Anonymität vergessen gegangen und haben keinen anderen Zweck mehr als Zinsen zu generieren.

Dass unsere quartiereigenen Kindergärten die Integration von 80% ausländischen Kindern weitaus besser schaffen, als andere Quartiere ihren viel kleineren Anteil, liegt nicht daran, dass sich die Kindergärtnerinnen und die Quartierarbeiter dafür ein Bein ausreissen, nein, es liegt an den höchst seltenen Kontakten und der eingeschränkten sozialen Kontrolle – erst so entsteht der nötige Freiraum für Selbstintegration.

Im Verzug bin ich – oh Schreck – unter anderem auch mit dem Internationalen Tag der Frau. Den habe ich doch jahrelang nie „vergessen“. (Zum Glück gings nicht allen Frauen so).
Heuer ist er mir völlig entgangen. Trotzdem hatte ich am letzten Samstag einen Frauentag, befasste ich mich doch mit dem schriftlichen Nachlass meiner Mutter.
Es überraschte mich zu sehen, wofür sie sich neben Haushalt, Familie, Feder-, Klein- und Milchvieh, Garten, Vorratshaltung sonst noch interessierte.
Als ehemaliges Verdingkind, bei dem die Schule zum Luxus gehörte, war ihr Bildungshunger unglaublich. Aber immer gab es Dringenderes, als diesen einmal annähernd stillen zu können. Mutter war Zweit- und Drittleserin der unterschiedlichsten Blätter.
Beim Durchsehen der von ihr gesammelten Zeitungsartikel, bleibt man „hängen“ und vergisst die Zeit.
Hier ein Beispiel aus „Jedioth Chadashot“ vom 12. April 1968. Es geht um ein Treffen zwischen UNO-Botschafter Jarring und Aussenminister Eban zum Frieden îm nahen Osten. Verteidigunsminister Moshe Dajan neigt dazu, die besetzten Gebiete zu räumen, aber nur mit Regelung neuer gesicherter Grenzen und Friedensgarantie. Arbeitsminister Jgal Alon tritt für die Besiedlung ein, während Aba Eban nach Kompromissen suchen möchte.
Lesenswert ist auch der Artikel aus den „Tages-Nachrichten“ vom 6. Februar 1971 „Woodstock – Das Geschäft mit der Nächstenliebe“, eine kritische Betrachtung des „Free concerts“ mit 400 000 Besuchern, bei welchem durch Merchandising Millionen gemacht wurden.
Mutter bewahrte auch den „Blick“-Artikel vom 8. September 1997 über die Internationale Funkausstellung IFA in Berlin auf, bei welcher die Schweizer Firma Logitech ihre „Maus“ vorstellte.
Wer weiss schon, dass Felix Menselssohn-Bartholdy im Berner Oberland sein letztes Konzert gab? An einem regnerischen Sommertag 1847 spielte er auf der Orgel in der Kirche Ringgenberg, während ihm ein Hirtenjunge den Blasebalg trat.
Mutter wusste es aus dem „Berner Oberländer“ vom 20. Juli 1987.

Kurz stehen gelassen und zapzarap schon weg. Wer steckt hinter den unspektakulären und misteriösen Diebstählen im Block? Unsere eigenen NachbarInnen, Handwerker, jugendliche BesucherInnen, die im Treppenhaus rauchen und trinken, ZeugInnen Jehovas, Swisscom-, Sunrise- oder CablecomvertreterInnen, organisierte VerbrecherInnen aus dem Ausland, der Bauer oder gar die Kirche Christi? Die Fälle von geklauten Flamencoplakaten, neuen Bettgarnituren, Marken-Blusen, Bohrmaschinen und Fahrrädern bleiben ungelöst. Es wäre ein Highlight in meiner Karriere, würde ich eine/n auf frischer Tat ertappen.

Im Schulbuch nennt man sie „Schildbürger“. In meiner Gegend heissen sie „Hinterfultiger“, „Freiburger“ oder „Appenzeller“, diejenigen, welche das Pulver nicht erfunden und Mehl am Ärmel haben. Sie „merligen“, wie die Merliger von Merligen. Beim Bau des Gemeindehauses vergassen diese die Fenster und fuhren des nachts mit Boot und Netz auf den See hinaus, um den Mond als Lampe einzuholen.
Auf dem Balkan, lasse ich mir erzählen, stünden die Kroaten zuoberst auf der Bildungsleiter und ganz unten, sozusagen unter dem ersten Seigel, finde man ihre „Merliger“, die Albaner.
Meine Freundin Marwa, Bücherfrau durch und durch, ist einer ganz besonderen Publikation begegnet.
Es handelt sich um die Festschrift zum 60jährigen Bestehen der „Biblioteka Kombëtare dhe Universitare e Kosovës“ – „National and University Library of Kosova“.
Die Bibliothek wurde 1944 in Prizren als „Provincial Library“ gegründet und 1946 nach Prishtina verlegt. Dort musste sie fünfmal umziehen, bis sie 1982 ein eigenes, eigenwilliges Gebäude bekam. In den Jahren 1980-1999 vertrieben die Serben alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und in der „Biblioteka“ wurden serbische Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien untergebracht. Während des NATO-Angriffs im Jahr 1999 diente der Kuppelbau der serbischen Armee als sicheres Hauptquartier. Endlich, nach vielen Jahren Krieg, konnte das Team wieder in die Bibliothek, einem Ort der Zerstörung, einziehen. Zusammen mit Kenneth J. Oberembt, einem amerikanischen Bibliotheksexperten, wurde die „Biblioteka Kombëtare dhe Universitare e Kosovës“ wieder aufgebaut und auf den neusten Stand gebracht. 2003 übernahm Dr. Sali Bashota die Leitung.
Täglich wird die Bibliothek von 2000 Menschen genutzt. Jährlich schreiben sich 4000 Benutzerinnen und Benutzer neu ein. Der Bestand an Büchern, Manuskripten, Karten, Sammlungen und Nonbooks beträgt 2 Mio.
Wie in Bern, Zürich, Basel und vielen anderen Universitätsbibliotheken im In- und Ausland, wird in Prishtina mit dem israelischen
Bibliotheksverwaltungssystem Aleph 500 gearbeitet.

99 Kuppeln

Die Kuppeln sind die Fenster! Und wenn der Mond will, kann er hindurch scheinen.

Quelle:
Biblioteka Kombëtare dhe Universitare e Kosovës, Prishtinë, 2004,
ISBN 9951-13-010-0

Mein Mann ist mit der Sehnsucht nach der Unabhängigkeit zur Welt gekommen. Nun ist diese gestillt. Er ist überglücklich über den heutigen Tag. Wie lange das Kosovo auf die Unabhängigkeit von Serbien gewartet hat, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Antworten liegen lustigerweise zwischen 9 und 500 Jahre. Was allerdings heute alle Menschen mit kosovarischen Wurzeln gleich gemacht haben: gefeiert, getanzt, fein gegessen, mit vielen Verwandten und Bekannten telefoniert und Nachrichten geschaut.

Ich wünsche allen Kosovarinnen und Kosovaren, dass sie ihre Zukunft nun aktiv in die Hand nehmen und das Bildungs-, Gesundheits- und Wirtschaftssystem ihres demokratischen multiethnischen Landes verbessern. Auf dass dafür ein friedlicher Weg ermöglicht wird.

Zum Valentinstag

Ein netter Kollege, der nicht weiss,
dass ich eine totale Valentinsmuffelin bin,
schenkte mir heute diese Rosen. Ich muss zugeben:
auch Rosen machen sich gut vor meinem Bürofenster.
Auf jeden Fall kam ich mir auf dem Nachhauseweg nicht so
ausgestossen vor, denn auch ich trug eine „Blumentüte“
und versuchte diese im voll besetzten Bus heil nach Hause zu bringen.
Ohne eigenen wären mir die anderen Sträusse auf die Nerven gegangen.
Manchmal ist es einfacher (und in diesem Fall schön) mit dem Strom …
oder nid?

Ein Junge im Bus zu seinem Kollegen:
„Wen-i-nid Peacemaker wär, würd i jede Tag zähmal eine verbrätsche. Aber als Peacemaker chasch das vergässe.“

Mein Lieblingswort seit vierundvierzig Jahren teile ich mit dem mir unbekannten Etgar Keret (*1967). Es ist das jiddische und auch im Ivrith benutzte Wort „Balagan“. Steht bei mir alles aufgetürmt in Gängen, Zimmern und auf Tischen, muss ich diesem Zustand nur den liebevollen Namen „Balagan“ geben. Ich sehe dann einen Besen „Balai“ und einen Garten „Gan“ vor mir und das Chaos ist bereits gebändigt. Falsch zu denken, man würde nach drei Stunden etwas von meiner Aufräumerei sehen, denn ich habe für jedes fremde Auge unzugängliche Ecken geputzt. Die Reisetaschen im hintersten Kämmerli sind nun abgestaubt, die Wollknäuel der Farbe nach sortiert und mit einem Sandelholzherz gegen Motten versorgt. Das Putzmittel fürs Bad ist nachgefüllt und die Musikdose von Kleinesmädchen geleimt. Auch der Filter zuoberst im Dampfabzug der Küche ist ausgewechselt. In einer Schuhschachtel treffe ich auf alte Musikkassetten, muss ein bisschen probieren, bis ich einige davon abspielen kann: Mercury/Caballé Barcelona – laut. Dann „Andorra“ als Hörspiel und zwischen Tom Paxton, Nama Hendel und Franz Hohler „Der Unfall von Kehrsatz“ in drei Teilen. Also auch in der Schachtel herrscht ein grosser Balagan.
Zum Verzweifeln, gäbe es mein Lieblingswort nicht.

(Der französische „balai“ und der hebräische „gan“ ist meine persönliche Kombination. Das Wort „Balagan“ komme ursprünglich aus dem Russischen.)

… ohne Lippenstift, man weiss niiii!“ ermahnt mich meine kroatische Kollegin und hält mir ihr schickes Spiegelchen unter die Nase. „Du kannst niiii wissen wem begegnest du heute noch, vielleicht ein ehemalige Freund oder noch schliiimmer eine Freundin und sie wird dich fragen:´Bist du krank?´“
Zwar ist es in der Gasse schon finster und die Beleuchtung im Bus lässt auch die Geschminkten blass aussehen, aber ich krame trotzdem in meiner prallen Tasche nach dem Lippenstift. Man weiss wirklich nie …

Dorfkern Schneebesen Schneebesen2 Pflaumenbaum

Heute müssen wir uns den Weg zum Haus selber bahnen, aber Vater hat ja dazu die geeigneten Besen und Schaufeln hinterlassen. Sogar Kleinesmädchen stochert und kratzt mit dem roten Kinderschäufelchen eifrig im Schnee.
Wir haben uns gegen die Sperrmüllmulde für ein langsames Räumen der elterlichen Wohnung entschieden. Es ist unser letzter Winter im alten Haus.

Auf dem Heimweg vom Einkaufen begegnet mir Frau Wahlen. Sie zeigt auf meinen ballonartig eingewickelten Blumenstrauss, den ich nur mit Mühe in der Hand halten kann, ohne dass der Wind ihn mir entreisst:
„So, haben Sie sich ein Blüemli gekauft?“
„Heute nicht, ich habe den Strauss geschenkt bekommen.“
„Er wird nicht lange halten, das sag ich Ihnen, und diese Pülverchen fürs Wasser sind für gar nichts.“ Sie nützten ebensowenig wie der Gutsch Öl im Kochwasser der Teigwaren. Nun habe sie doch mehr als fünfzig Jahre lang Öl ins Wasser gegossen, bis sie vor einigen Tagen vom Fernsehkoch eines andern belehrt wurde. Sie möge gar nicht ausrechnen, wie viele Liter da bei fünf Kindern verschwendet worden seien.
„Mein Öl können Sie auch noch dazu zählen.“
Wir beiden Frauen stehen unter den Nachkömmlingen der Eichen Napoleons und lachen gegen den Wind.
„Das hätte einige Wochen Mallorca gegeben,“ meinte Frau Wahlen, die mit 65 zum ersten Mal das Meer sah. Sie teilt die Rente so ein, dass es jeden zweiten Sommer für einen Kurzurlaub auf der Insel reicht.

habe die Morgenstund´ und die Axt im Haus erspare den Zimmermann. Also stehe ich heute früh auf. Ein beissend kalter Wind rüttelt an den Storen. Zuerst erledige ich die monatlichen Zahlungen. Jupii, das Abo 08 für die FRAZ habe ich gewonnen! Die Antwort lautete: Else und Frieda von Richthofen.
Dann bündle ich die Zeitungen, reinige den Filter der Abwaschmaschine und schreibe einen Einkaufszettel. Anschliessend stelle ich fest, dass die Basler Läckerli, denen ich ein Rübli beigelegt hatte, nicht nur weich, sondern auch saftig geworden sind, gruusig. Den Rat, das Gebäck mit einer Kartoffel oder einer Karotte aufzubewahren, habe ich von erfahrenen Hausfrauen erhalten. Das waren die letzten Läckerli in diesem Haus. Sie bleiben einem, ob mit oder ohne Kartoffel gelagert, ohnehin im Hals stecken, wegen der Assoziation.
Es reicht, noch schnell in einem Büchlein mit 500 praktischen Ratschlägen für Haus und Familie zu blättern. Ratschlag Nr. 101 gefällt mir besonders, wahrscheinlich, weil heute Freitag ist:
Fische lebendig versenden.
Man tauche eine Brotkrume in Branntwein, stecke sie dem Fisch in den Mund und umwickle ihn mit frischem, nassen Stroh und Leinwand. Am Bestimmungsort angelangt, muss der Fisch sofort in frisches Wasser gelegt werden.

Aus:
Raaflaub, Elsa: Wo fehlt’s? Praktische Ratschläge für Haus und Familie. Bern, Hallwag, o.J., ca. 1925.

Er habe sich mit der Eisbahn vor dem Bundeshaus einen Bubentraum erfüllt, gestand er letzten Dezember den Medien. Ja, klar, meinten die Meckerer, als Stadtpräsident könne man ein solches Träumli schon verwirklichen, obwohl es sicher noch wichtigere Geschäfte gäbe, als diese „Schlöfbahn“. Ausserdem werde das Eis als Leistungsausweis für eine Wiederwahl im Herbst nicht ausreichen. Zuerst teilte ich diese Bedenken, änderte aber dann nach „einem Augenschein vor Ort“ meine Meinung. Alt und Jung auf den Schlittschuhen vor dem Bundeshaus, alle mit zufriedenen Gesichtern, die Baracke für Tee, Kafi und Nussgipfel daneben voll besetzt und die Verleiherin von Schlittschuhen eifrig am Werk, das ist ein Leistungsausweis, den kein Präsident rund um die Welt aufweisen kann.
Ich wähle ihn wieder;-)
Die Bahn bleibt noch bis und mit Sonntag geöffnet.

(mehr …)

« Vorherige SeiteNächste Seite »