Alles oder nichts


…im Frühling? In der vorweihnächtlichen Zeit gekauft, blüht er wie verrückt, macht neue Blätter und wächst unaufhaltsam in Höhe und Breite. 1st sagt, Kleinesmädchen sei mein Weihnachtsstern, ich solle den anderen entsorgen, er sei giftig. Nächsten Dezember könne ich mir ja einen neuen kaufen. Entsorgen? Den wunderschönen Stern, dem ich soviel Liebe und Zuwendung geschenkt habe? Kann ich so hartherzig sein? Ob ich ihn in die freie Wildbahn aussetzen soll, damit er hier nicht doch noch Überhand nimmt und im Büro und Treppenhaus jeglichen Platz versperrt? Ich hätte ihn gerade mit dem Weihnachtsbaum entsorgen sollen, bevor ich ihn so lieb gewinnen konnte. So sagt mir doch, was macht frau mit dieser Pflanze im Sommer?

Obwohl noch viel „Schnee in der Luft ist“ und Vater eigentlich am liebsten zu Hause bleibt, freut er sich seit Tagen auf den Besuch im grössten Stall des Dorfes. Der junge Bauer hatte ihn eingeladen, seine Rinder und Kälber, ohne Ausnahme von schweizerischen Spitzenstieren abstammend, zu besichtigen.
Ein ganz besonderes Angebot, da die Züchter sonst keine fremden Leute die Ställe betreten lassen.
Seit Jahren hatte Vater es akzeptiert, dass er selbst im Stall seines Schwiegersohnes und Nachfolgers auf dem Hof nicht mehr ein und aus gehen konnte. Er lasse die Jungen machen, welche sich der neuen Zeit anpassen müssten. Trotzdem tat es ihm weh, dass er nie mehr gefragt und die Landwirtschaft mehr und mehr zum reinen Geschäft wurde.
Auf seinen Rollator gestützt steht er nun im grossen Stall, wo sich gegen hundert Rinder frei bewegen können, stellt Fragen und folgt interessiert den Erklärungen des Fachmannes.
Dass die Tiere bei unserem Erscheinen unruhig werden, findet der Bauer nicht schlimm, im Gegenteil, eine Abwechslung tue ihnen gut. Kleinesmädchen strampelt mit den Beinen und fuchtelt mit den Händchen, fängt an zu „muhen“ und erschreckt damit die schwarzen Kälber.
Gegen hundert Rinder recken ihre Köpfe dem Meister zu, wollen gestreichelt werden. Er macht uns auf seine besonderen Lieblinge aufmerksam. Z.B. auf ein kleines Rind, welches neben den Grossen den vordersten Platz halten kann. Bei Nr. 583, einem dunkelbraunen Tier mit schwarz umrandeten Augen und einer tulpenförmigen weissen Blesse auf der Stirn konsultiert der Bauer eine Liste, die er immer in Brusttasche trägt. Das Rind heisst „Datscha“.
Wie er denn bei so vielen Häuptern den Überblick behalte, wenn sie „stierig“ (brünstig) würden, will Vater wissen. Die passenden Bullen ermittle man per Computer. „Natursprünge“ seien nur noch selten, immer dann, wenn eine künstliche Besamung nicht klappe. Wichtig sei es, dass sich die Tiere wohl fühlten, dann sei die Nachzucht kein Problem.
Das Futter produziert Bauer Stefan auf dem Hof und ergänzt es, besonders bei trächtigen Tieren, mit einer „Müsli“-Mischung u.a. aus Hafer, Mais und Affenbrot, ein Schweizer Produkt, obwohl man heute nicht sicher sein könne, ob wirklich alle Zutaten im Innland angebaut würden.
Bevor er seinem Liebling, einem Rind mit glänzend schwarzem Fell, eine Handvoll hinhält, knabbert er selber einige Flocken und Körner.
Nach dem Besuch im Stall machen wir mit Vater noch eine gemächlige Besichtigungsfahrt durch die Felder, zum Teil steile, aber sonnseitige Äcker. Versiert steuert 2nd2nd, male den schweren Chrysler (ausgeliehen von 2nd, male, der im Moment mit der Familie in der Mojave Wüste unterwegs ist) über die steinigen Wege. Vater ist ganz aufgeräumt, kennt alle Häuser, die an den Hängen kleben, jede kleinste Abzweigung in einen abgelegenen „Chrachen“, er weiss, wem Land und Holz gehören und erzählt von früher, als Mutter noch lebte, die auch alle Leute kannte.

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Obwohl die Kräutersuche in diesem Jahr mühsam war, die guten Plätzchen um- und abgegraben, gelang es doch mit einiger Anstrengung, eine Handvoll hundekotfreie Pflänzchen zu finden. „Ich spring nur über Gräbelein und find‘ kein einziges Blättlein“, jammerte meine Tochter frei nach Grimm und schwenkte verzweifelt ihre leere Plastiktasche. Hätte ich das Färben nicht besser der Firma EiCo überlassen?
Aber schliesslich sassen wir dann doch mit einigen Zuhausegebliebenen um den grossen Tisch und drapierten Blättchen, Blüten und Halme auf die Eier.
Natürlich füllten wir auch die den Eierschachtel beigelegten Wettbewerbstalons aus. Erstaunlicherweise konnte sich niemand für den ersten Preis, einen Chevrolet Matiz, erwärmen. Alle waren für den dritten: einem Brunch für zehn Personen auf einem Bauernhof in der Region. Der Gewinner würde selbstverständlich die Tischrunde einladen.
Da die Talons schon seit dem 26. Februar im Umlauf sind, haben wir kaum Chancen, auf diesem Wege zu Hamme, Züpfe, Niidle, Chäs u Anke zu kommen.

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… vo Züri habe sie avisiert. Er sei auf dem Weg nach Bern. Er werde nicht locker lassen, bis der Lift (Aufzug) wieder funktioniere. Man könne halt nicht einfach aufs Dach steigen und einen neuen Lift einbauen. Die Steuerung sei bereits ersetzt worden. Ausserdem seis mit den Liften wie mit den Autos, da gebe es halt Sachen, die man nicht so „auf einen Chutt“ herausfinde. Das brauche Zeit. Man sei immer dran. Ich solle nicht meinen, dass man dem Problem nicht auf den Grund gehen wolle. Der Hauswart sei auch gerade zu einer Besprechung gekommen. Mit der zuständigen Firma sei man sehr zufrieden. Ich müsse halt Geduld haben.
Die Liegenschaftsverwalterin, nicht Auto-, sondern angefressene Töff-Fahrerin, wünscht mir noch schöne Ostern.
Seit zwei Wochen fahre ich mit dem Lift im Nebeneingang bis in den 9.Stock, steige eine Treppe hinunter, gehe über den engen Balkon an der östlichen Hauswand Richtung Norden und steige in meinem Treppenhaus wieder ein. Noch vier Stockwerke und ich stehe vor meiner Wohnungstür.

„Äxtra Eine vo Züri“ ist eben eingetroffen, ein verbittert aussehender Mann mit schütterem Haar und tiefen Sorgenfalten um Mund und Stirne.

Seit Tagen liegt in der Unterführung eine Plastiktasche mit Arbeitskleidern, einem Paar Schuhen und einem Ledergürtel.
Meine Nachbarin und ich fragen uns, was wohl mit dem dazugehörenden Maler geschehen ist.

Wochenende

Nach den letzten beiden ländlichen Beiträgen wieder zurück auf den städtischen Boden von heute. Durch ihn wühlt sich der Baggerzahn wie nie zuvor in der Geschichte. Tiefe Gräben reisst er auf, manchmal auch Wasserohre und elektrische Leitungen, stösst Erdhügel in Form einer Vor-Voralpenkette zusammen, frisst sich in Mauern und Dächer und reisst sie nieder.
Wie Schiffe auf dem ausgetrockneten Aralsee ragen die drei Wohnblöcke des Quartiers aus der Bauwüste. Überall trifft das Auge auf schmerzende Hässlichkeit. Blumen und Sträucher werden abrasiert. Ihre Wurzeln ragen aus der nackten Erde. Wer das Haus täglich zu Fuss verlassen muss, hat sich mit den unsinnigsten Umleitungen abzufinden, wie Wege über glitschige Bretter, durch Autotunnel und über Treppen. Zum Bus kommt man über einen steilen, notdürftig geteerten Erdwall – oder eben nicht.
Nun sind auch die Bäume auf der Ostseite meines Blocks abgeholzt – es soll in den nächsten Jahren ein „übersichtlicher Platz“ entstehen.
In ganz Bern scheint eine Bauwut ausgebrochen zu sein, denn auch im Innern von Waren- und Bürohäusern, Schulen und Spitälern wird umgebaut – immer bei vollem Betrieb und auf Kosten der Gesundheit von Angestellten und PatienInnen.
Der neue Stadtteil „Westside“ wird sicher einmal eine Seite in einem prächtigen Bildband zur Architektur von Daniel Libeskind einnehmen.
Aber bis dahin hat mich der Baggerzahn längst aufgefressen.

Die Hausverwaltung hat mir in diesem Jahr eine neue Dusche und einen neuen Schlafzimmerboden zugesprochen. Ein Anruf von mir genügt und ein kleines Handbäggerchen kommt, um mit seinen kleinen scharfen Zähnchen den Boden in meiner Wohnung aufzureissen.

Wenn das Wetter nur aufhelle für die Hochzeitsfotos, dann sei alles gut, meinte Frau Zahnd, welche für das Abräumen des kirchlichen Blumenschmucks nach der Trauung zuständig ist, und auch für die rasche Überführung desselben ins Festzelt. Die ersten Gäste fahren vor. Motorhauben und Autodächer sind geschmückt mit Spielzeuglastwagen, einer Hochzeitstorte aus Karton, Blasinstrumenten, ja, sogar ein Hornschlitten mit Heuballe und Sennenpuppe hatte jemand aufmontiert. Der Brautführer trägt ein rotes Herzkissen mit den Ringen, ein kleiner Kaminfeger wartet auf seinen Einsatz als Glücksbringer. Seine Mutter wischt ein Stäubchen vom Zylinder, prüft die Hufeisen an der Leiter.
Die Kirchenglocken beginnen zu läuten. Zügigen Schritts eilt das Brautpaar herbei, begleitet vom Fotografen mit schwerer Kamera.
Während die Zeremonie im Innern der Kirche ihren Lauf nimmt, fahren zahlreiche Traktoren und Lastwagen auf den Viehschauplatz – der Überraschungskonvoi für das Brautpaar. Die Tochter des Käsers, Bäckerin und Büchelbläserin, heiratet einen Bauern und Bauarbeiter aus den Voralpen, ein Event für die ganze Region!
Nach einer Stunde ziehen Jodel- und Naturhorntöne durchs Dorf. Arbeitskolleginnen der Braut stehen Spalier mit blumengeschmückten Riesenbaguetten. Nun folgt das unvermeidliche Fotografieren in der nahen Klosterruine, der dorfeigenen Akropolis.
(In der ganzen Gemeinde gibt es sicher kein Fotoalbum ohne diese Kulisse, seis bei Konfirmation, Hochzeit, Taufe oder Begräbnis.)
Nach einem ohrenbetäubenden Hupkonzert formieren sich die schweren Maschinen zu einem langen Zug. Vorneweg ein Traktor mit bekränztem Güllenfass. Darin sitzen das Braut- und das Brautführerpaar. Dann folgen weitere Traktoren jeden Alters und die schweren Lastwagen der Baufirma, bei welcher der Bräutigam angestellt ist.

Es gibt Leute, die einem „Es guets Tägli“ wünschen. Was soll das? Haben sie Angst vor einem richtigen Tag?
Auf die Frage „Wie geht es dir?“ erhalte ich oft die Antwort „Danke, u sälber?“
„Tschüss, Schöne!“ ist kein Kompliment, sondern die Abküzung für schönen Abend oder schönen Tag.
Mit der Anrede „Liebe Alle“ werden an meinem Arbeitsplatz immer öfters interne Mails verschickt.
So etwas von läppisch!

Überspringen Sie beim Lesen eines Buches die Widmung? Ich tue es nicht mehr, denn oft ist diese Phantasie anregender als der Inhalt.
In „Pharmaceutical statistics“ (646 S.!) habe ich folgende Widmung gefunden:
To my wife Phyllis
always present
always sensitive
always inspirational

… und in „Animal models on toxicology“ (884 S.!) :
To my beloved babies Samantha, Katina, and Jake
for ever in Daddy’s heart
and to Suzann, whom I’ll always love.
To my wife Mary Anne

Interessant wäre es zu wissen, wie Phyllis und Mary Anne die Widmung aufnahmen. Suzann hat das Erscheinen des Buches wahrscheinlich nicht mehr erlebt, und was die Babies von allem halten, nähme mich auch wunder.

Dieser frühe Frühling bringt alles durcheinander. So findet mein erstes Saisongespräch mit meinem Nachbarn nicht wie all die vergangenen Jahre in luftiger Höhe, sondern im Bus statt. Er habe sich früher pensionieren lassen, da es in seiner „Bude“ gerade ein Sonderangebot für Pensionierungswillige gegeben habe. Nun sei er oft im Luzernischen, helfe seinem Bruder mit den Kühen und dem Holz. Das „Heimet“ sei stotzig und die Nichten und Neffen am Studieren. Auch wolle er sich mehr Zeit zum Lesen nehmen. Einmal habe er im „Das Beste“ die gekürzte Version einer Geschichte gelesen. Seit Jahren suche er das Original, sei deshalb schon in einer Buchhandlung gewesen, wo man ihm aber nicht habe helfen können. Er wisse nur, dass die Geschichte „Das Vermächtnis“ heisse.

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Letzte Woche ist eine neue Mieterin eingezogen. Eine streng gläubige Muslima aus Sri Lanka. Sie wollte wissen, welche Nationalität ich hätte. Ich antwortete, ich sei Schweizer mit kosovarischen Wurzeln und auch Moslem. Uh, wie sie sich freute: „Allah ist gross! Er hat mich zu dir gebracht. Siehst du, wenn man an ihn glaubt, tut er dir nur Gutes!“

Sie begann, mir ihre Geschichte zu erzählen. Sie habe sich von ihrem Mann getrennt und lebe jetzt alleine. Er habe ihre extreme Religiosität nicht mehr ausgehalten und wollte eine „modernere“ Frau. Sie hingegen kauft ihr Fleisch nur beim Türken. Alles andere sei „haram„. Wenn sie dann doch einmal in die Migros müsse, nähme sie die Liste mit den E-Angaben (den Haram-Produkten) mit, denn Schweinepartikel seien in vielem enthalten. Sie schaue keinen TV und höre nur Koranverse ab CD.

Als ich sie um ihren genauen Namen bat, damit ich ihre Klingelschilder in Auftrag geben kann, musste sie in ihrem Handy nachschauen. Sie sei in einem Frauenschutzprogramm und hätte eine neue Identität erhalten.
Nun heisse sie Frau Imnamengottes.

Als ich heute mit 3rd, male, Geschichte lernte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Der Stadt-Land-Graben zum Beispiel ist keine Neuerrungenschaft, sondern mindestens 526 Jahre alt. Die Eidgenossen hatten da gerade eine Glücksträhne und einige Schlachten gewonnen (zuletzt die bei Nancy, bei der Karl der Kühne dran glauben musste) und wurden darob eingebildet. Die Städter gingen Bündnisse mit anderen Städten – sogar im Elsass und Deutschland – ein, was die vom Land auf und zur Randale brachte. Der bestehende Bund der Eidgenossen war gefährdet und die Kriterien für die Aufnahme von Neuen streitig. Im letzten Augenblick gelang es dem einig Volk von Brüdern Verhandlungen anzuberaumen, die als Stanser Tagsatzung doch noch zum friedenssichernden Resultat führten. Allen Mitgliedern war es fortan verboten, untereinander und mit Auswärtigen Sonderbündnisse einzugehen (EU nein danke) oder weiterhin aufrechtzuerhalten, die Aussenpolitik musste im gemeinsamen Dialog (obligatorisches Referendum) gestaltet werden. Alle Sonderabkommen nach aussen mussten gemeinsam getragen werden (UNO-Beitritt der Schweiz bereits 2002).

Bei der Gelegenheit wurde auch der lesenswerte Sempacherbrief bestätigt und der Wille zur Einhaltung bekräftigt. Und weil man den nicht so gut online findet und wir ja heutzutage alle lebenslang lernen müssen, tippe ich ihn mal aus 3rds Schulheft ab:

1. Diese Abmachung gilt für Zürich, Luzern, Bern, Solothurn, Zug, Uri, Schwyz, Unterwalden und Glarus.
2. Im Krieg, bei Waffenstillstand oder in Friedenszeiten darf kein Eidgenosse einem anderen etwas stehlen.
3. Wenn wir gemeinsam in den Krieg ziehen, so soll keiner im Gefecht davonlaufen.
4. Wer stiehlt, soll bestraft werden, wenn zwei Zeugen ihn ertappt haben.
5. Ein verwundeter Krieger darf nicht bestohlen werden.
6. Es ist verboten zu plündern, bevor die Schlacht zu Ende ist. Erst wenn die Hauptleute es erlauben, darf geplündert werden. Das geraubte Gut muss verteilt werden. Jeder erhält ungefähr gleich viel.
7. Kapellen und Kirchen dürfen nicht geplündert oder angezündet werden. Nur wenn der Feind sich in einem Gotteshaus versteckt oder dorthin sein Gut geflüchtet hat, darf eine Kriche oder Kapelle angegriffen werden.
8. Frauen dürfen nicht geschlagen, gestochen oder „ungewöhnlich behandelt“ werden, es sei denn, sie verraten einen durch ihr Geschrei vor dem Feind, wehren sich oder fallen einen an.
9. Kein in Punkt 1 genannter Ort darf von sich aus Krieg anfangen. Kriege werden gemeinsam beschlossen.

Drita lebt in einem konservativen Dorf in Kosovo, dem Geburtsort meines Mannes. Sie ist seine jüngste Cousine väterlicherseits und als einzige noch ledig. Letztes Wochenende wurde sie verlobt. Sie wird im Laufe dieses Jahres heiraten und ab diesem Moment bei ihrem Ehemann wohnen. Sie ist dann verpflichtet, ihre Schwiegereltern und deren Haus bis in den Tod zu pflegen und mindestens einen Sohn zu gebären.

Ich hatte das Glück, Drita letzten Winter kennen zu lernen. In Kosovo lag sehr viel Schnee und wir sassen in den Ferien hauptsächlich um den Ofen herum. Auch im eingeschneiten Haus ist uns die Decke nicht auf den Kopf gefallen. Drita unterhielt uns mit ihren unzähligen Geschichten, Gedichten und Liedern. Drita bedeutet in Albanisch Licht. Ein passender Name, denn sie hat auch während dem täglichen Stromausfall stets Licht in die Stube gebracht. Sie hackte Holz, sprang übers Feuer, sammelte die letzten Kastanien, briet sie auf dem Ofen, führte uns ihre akrobatischen Kunststücke vor, machte den Handstand und konnte sogar den Spagat. Sie wusch ihrer alten Mutter die Füsse und massierte ihrem kranken Vater den Rücken. Sie wäre die perfekte Schauspielerin, in so viele Rollen konnte sie schlüpfen. Ihre Stimme war zum Verlieben. Besonders wenn sie ihren Neffen tröstete oder ihm Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte. Seine Kindergärtnerin wollte ihn direkt in die zweite Klasse bringen, aber Drita fand ihn als Fünfjährigen dann doch zu klein dafür.

Mein Mann und seine älteste Cousine sind sehr traurig, dass Drita nun „zur Frau wird“. Was hätte es nun für einen Sinn, in ihrem Heimatdorf Ferien zu machen, wenn sie nicht mehr da sei? Das Licht ist aus.

Endlich habe ich mich getraut, meine ehemalige Schülerin nach ihren beiden Kindern zu fragen. Warum ich mich Jahre zurück gehalten und von weitem so getan habe, als ob alles normal und in Ordnung wäre, weiss ich nicht.
Nun habe ich Aliva einmal ohne ihren Mann getroffen und die seltene Gelegenheit benutzt, um mich nach ihren Söhnen zu erkundigen, die vor acht Jahren von ihrem Vater entführt wurden. Auch wollte ich wissen, wie es eine Mutter aushält, so lange von den Kindern getrennt zu sein?
Es gehe den beiden gut im Nahen Osten. Sie besuchten in der Hauptstadt des Landes eine katholisch-französische Schule zusammen mit Diplomatenkindern. Das koste im Vergleich zu schweizerischen Privatschulen fast nichts. Sie habe hart gearbeitet, um ein Haus in einem besseren Quartier zu kaufen, damit die Buben zusammen mit Tanten und Grosseltern aus der Zweizimmerwohnung ausziehnen konnten. Im vergangenen Oktober habe sie einen Besuch gemacht, Kleider und Schulmaterial gebracht. Ihr Arabisch sei inzwischen viel besser geworden. Im Gegensatz zum Jüngeren verstehe der Ältere noch Schweizerdeutsch und vermisse die Mutter sehr. Der Kleine leide weniger. Er sei mit Markenartikeln aus der Schweiz zu trösten, gebe damit in der Schule an und lasse sich von der ganzen Verwandtschaft verwöhnen. Sie, Aliva, versuche, das Beste aus der Sache zu machen, beginne bald mit einer Zusatzausbildung. Lernen und Arbeiten sei das, was sie durch die Tage bringe.
Heute lebe sie wieder mit dem Mann zusammen, der vor acht Jahren ihre Kinder entführte. Er besitze nun die nötigen Papiere, um in der Schweiz zu bleiben und sie habe alles einigermassen unter Kontrolle.

Sonnseite

Im Dorf, in dem mein Vater lebt, bin ich heimatberechtigt. Nur durch Zufall, weil durch Heirat. Der Ort mit den Bauernhäusern, der Kirche, dem Friedhof, der Schmiede, der Post, der Landwirtschaftlichen Genossenschaft, dem Lebensmittelladen, dem alten und dem neuen Schulhaus, dem Viehschauplatz, dem Feuerweiher, der Webstube und der umwerfenden Aussicht auf Berge und See mit Rundblick vom Luzernischen übers Bernische zum Freiburgischen steht mir verbrieft als Heimat zu. Wie eine Klette hakt diese sich an mir fest, obwohl ich immer wieder versuche, sie los zu werden.
Keine Chance! In Gedanken kümmere ich mich um alles, was mich nichts angeht: um den gebrochenen Ast der Trauerweide, welcher herunter zu fallen droht, den nicht vorhandenen Fussgängerstreifen über die viel zu schnell befahrene Strasse nach Helgisried, das schräg hängende Christusbild in und das marode, kaum mehr begehbare Kopfsteinpflaster vor der Kirche, den dreckigen Dorfbrunnen, das verstaubte kleine Museum bei der Ruine, wo man das Gästebuch erneuern sollte usw.
Manchmal schreibe ich dem Gemeindepräsidenten ein Mail. So auch in der vergangenen Nacht, wo ich mich darüber beklagte, dass die Verkaufsstände vom Adventsmärit 2006 noch in der Gegend herum stehen.
(Er hat mir gleich geantwortet, hat veranlasst, dass subito weggeräumt wird.)
So lastet Heimat auf meinen Schultern und raubt mir manchmal den Schlaf.
Vergeht einmal ein Samstag, ohne dass ich im Dorfladen etwas einkaufe, fragt die
Inhaberin, ob alles in Ordnung sei, ob sie zu früh geschlossen hätte? Sie wolle sich nicht aufdrängen, hätte beinahe telefoniert. Sie öffne jederzeit, wenn wir etwas brauchten.

Kleinesmädchen haut in die Tasten:

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Die erste Brille bekam ich mit sieben Jahren. Ich sass hinten auf dem Gepäckträger und klammerte mich an die Schürze meiner Grossmutter, welche auf ihrem Rücktrittvelo flott der Stadt Burgdorf entgegen radelte. Das düstere Optikergeschäft mit den Glaskästen voller Brillen und der Doktor im weissen Mantel kamen mir vornehm vor. Zwischen den Wandschränken hingen in Gold gerahmte Fotos einer wunderschönen brillenlosen Frau, von der meine Grossmutter mir zuflüsterte, das sei die Schwester vom Tokter Della Casa. Was ich ihr nicht glaubte.
In Kinderbrillen gabs keine Auswahl, und so bekam ich eine mit runden Gläsern in einer braun gesprenkelten Fassung aus Bakelit. Bereits nach wenigen Tagen riss ich die braune Schicht ab. Darunter kam ein Draht zum Vorschein, eng gewickelt wie eine Sprungfeder.
Auf dem Schulweg musste ich einige Kinder mit dem Schirm verprügeln, weil sie es wagten, mir „Brüllengügger“ nachzurufen.
Ein paar unvergessene Brillen später brachten mich meine Eltern zu einem berühmten Professor. Ich habe keine Ahnung, wie die einfachen Pächtersleute zu diesem Arzt fanden, welcher dann mein Schielauge für ein geringes Honorar richtete.
Prof. Dr. Hans Goldmann verdanke ich zahlreiche brillenlose junge Jahre!
Für aparte Brillen habe ich eine Schwäche und hab mich nur einmal vertan. Da gab ich mein Erspartes aus für eine Brille mit rotgrüner Seide auf pakistanischem Wasserbüffelhorn – eine grauenhafte Création.
Ab gestern trage ich Bellinger – ein bisschen verrückt und doch schlicht.

Die Zeitungen, die die West-Quartiere entweder schönschreiben, verteufeln oder sie von Auswärtigen rezensieren lassen, sind unser Lieblingsquell der Ärgernisse. Aber was war heute? Vollstes Verständnis, ein Beitrag – nein, eine Metapher! – zu unserem Stellenwert in der schönen Unesco-Weltkulturerbe-Stadt und bei BernMobil, unserem Lieblings-ÖV:

Weniger Leistung kostet manchmal mehr. Das müssen derzeit die Bern-Mobil-Kunden aus Bern West und Holligen erfahren. Wegen des Umbaus des Berner Bahnhofplatzes ist die Endstation ihrer Buslinien 13 und 14 bis Dezember in die Seilerstrasse vorverlegt worden. «Bahnhof (City West)» heisst das Provisorium offiziell; «HB» druckt der Automat vor Ort vielversprechend auf Mehrfahrtenkarten und Billette. Es ist amüsant zu lernen, welche entlegenen Ecken im kleinen Bern noch zum Gebiet «Bahnhof» zählen. Weniger lustig ist der Stationsname, wird man sich seiner finanziellen Konsequenzen für die Fahrgäste gewahr. Doch der Reihe nach.

Fast schon gerührt (echt!) hat mich der Vergleich am Ende des Artikels. Andere Quartiere, andere Sitten:

Pendlern auf der Linie 17 nach Köniz Weiermatt bleibt das Wandeln in der Grauzone übrigens erspart. Sie haben doppelt Glück gehabt: Ihre provisorische Endstation liegt im bahnhofsnäheren Hirschengraben und kommt ohne den Namen «Bahnhof» aus. Wie schon immer bezahlen die 17er-Kunden für eine Fahrt an den Loryplatz Fr. 1.90.

2nd & 3rd male und ich haben uns neulich gefragt, weshalb man die neue, provisorische Station für unseren Bus vom Hauptbahnhof nach Hause – über dreihundert Meter lang – in regelmässigen Abständen immer wieder anschreibt? Mindestens sieben Tafeln pflastern unseren Weg zur entlegenen Hauptbushaltestelle und auf ihnen eine Masse Marketing-Singsang, der wunderbar an der Realität vorbeigeht und entsprechend wenig beachtet wird. Wir waren uns alle drei – die wir diesen Bus täglich benützen und Jahresabonnemente zu ansehnlichen Preisen besitzen – einig, dass ein Weltplakat im Zentrum ausreichend wäre:

An die Bewohner der westlichen Aussenquartiere: Bis auf weiters ist Ihre Bushaltestelle abgeschafft. Gehen Sie zu Fuss nach Hause. Irgendwo auf dem Heimweg werden Sie auf ein Provisorium treffen. Behalten Sie die Fahrausweise zum vollen Preis sowie Nastücher und Neoangin bereit. Eine Anpassung der Fahrpreise, ein geschützer Fussweg oder eine Überdachung ihrer provisorischen Haltestelle ist nicht vorgesehen. Besten Dank für die Kenntnisnahme.

Und wenn wir zu Hause aussteigen, überqueren wir ebenfalls ein Provisorium von Fussgängerstreifen, schlurfen durch den runtergespülten Baustellenmatsch zu einem Mauseloch Tunnel und können danach zwischen zwei weiteren Provisorien auswählen: Für den einen Block empfiehlt sich ein Abbiegen scharf rechts und der Gang durch einen ellenlangen Autotunnel, von dessen Strasse schmal mit einem Netzlein ein Fussgängerweglein abgetrennt ist. Die anderen gehen bitte scharf links über einen Platz, der mit Baubedarf überstellt ist… zwängen sich also durch und dann wieder rechts, eine angeschlagene Treppe runter und danach haben sie den Heimatblock zumindest im Visier.

Und wenn sie noch nicht gefallen oder überfahren sind, so leben sie noch heute (im Westen).

Brautstrauss

Darf ich Sie beschützen?
da sagtest du: Mein Herr, Sie sind trivial.
Als ich dich fragte:
Kann ich Ihnen nützen?
da sagtest du: Vielleicht ein anderes Mal.
Als ich dich bat:
Ein Kuss, mein Kind, zum Lohne!
da sagtest du: Mein Gott, was ist ein Kuss?
Als ich befahl:
Komm mit mir, wo ich wohne!
da sagtest du: Na, endlich ein Entschluss!

Das Gedicht von Erich Mühsam steht auf der Einladungskarte.

Ein Strauss für die Braut und viel Glück!
(2nd, female und 2nd, male heiraten morgen.)

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