Alles oder nichts


Vater und Albert sind sich einig: mit den neuen Kuh-Namen im „Schweizer Bauer“ können sie sich nicht anfreunden:
Lourdes, Gilette, Carmen, Daiana, Lolita, Caroline, Jackie, Vanille, Fly-Away, Uriella…
Ist hier wirklich von Kühen die Rede?
Früher nannte man solches Grossvieh Vreni, Rösi, Käthi, Waldi, Figi, Venner, Prinz, Adler, Kaiser, Fion, Hirz und Wolga. „Schöne und passende Namen“, finden die beiden alten Bauern bei Milchkaffee und Apfelkuchen.
Unvergesslich bleibt Albert „Die Böse“, welche manch erfahrenen Bauern mit ihren Hörnern in die Flucht trieb, aber viel Milch gab.
Vater erzählt von der „Grauen“, die erst frass, wenn man sie am Halfter von Grasbüschel zu Grasbüschel führte und die auch viel Milch gab.
Dagegen sind, zugegeben, Lourdes & Co. richtige Milchfabriken.

Lange Abteilungssitzung. Auf dem Tisch ein Teller mit belegten Broten. Ein älterer Herr in Krawatte und dunklem Anzug betritt das Büro, schnappt sich ein Schinkenbrot und verlässt den Raum wieder.
„Wenns etwas zu Essen gibt, kommt er immer“, erklären die alten Hasen den staunenden Neuen, „der Professor kommt eben aus Schottland.“

Jetzt ist die Welt wieder in Ordung. Und alle Italiener, Portugiesen und Spanier können wieder ungehemmt mit ihrer Mannschaft fiebern. Sie können die Nächte zu Gunsten der Nationalmannschaften ihrer Väter Grossväter verhupen, ohne sich mühsam Gedanken darüber machen zu müssen, ob sie es sich doch in der hintersten Ecke ihres Herzens – ganz leise und wenig nur – vorstellen könnten, der Schweiz den Sieg zu wünschen.

Im Gegensatz zu 1994, als wir im Achtelfinale Spanien unterlagen, bringt die Niederlage gegen die Ukrainer keinen Zwist im Quartier. Denn die Ukrainer unterstützt kainer.

Vor jedem Umzug sagte meine Mutter niedergeschlagen:
„Drei Mal zügeln ist ein Mal verbrannt.“
Ich erinnere mich, dass sie eine Büchse Farbe zur Hand nahm, und die zum vierten Mal zu zügelnden Möbelstücke anstrich, bis keine Farbe mehr vorhanden war. Vom sonnigen Hang über dem Gürbetal auf den windigen Hügel am Längenberg zogen wir in Türkis: türkis Schuhschrank, türkis Fliegenschrank, türkis Küchenstühle. Auf der Fahrt mit dem Fuhrwerk über die Landstrassen konnte jeder unsere sonderbare Habe sehen. Gleich galten wir im kleinen Bauerndorf als extravagant und hochnäsig.
Man erzählte herum, wir Zugezogenen bildeten uns ein, auf zwei Beinen gegangen zu sein, als die Leute hier im Chrachen noch lange auf allen Vieren tatzelten.
Der Start am neuen Ort war nicht einfach, und wir blieben fast fünfzig Jahre die „Neuen“. Die Eltern taten ihr Möglichstes für die Integration, halfen den Nachbarn beim Grasen, Ernten, Holzen, liessen keinen hungrig von Hof und bezahlten die höchsten Preise für die mickrigsten Ferkel. Dass Mutter den besten Kirschenkuchen mit dem dicksten Eierguss backte, mussten selbst ihre Feinde zugeben.
Seitdem bin ich schon viele Male umgezogen und möchte es am liebsten nie mehr tun.
Meine Mutter lebt nicht mehr, aber letzte Woche nahm ich einen Topf Farbe zur Hand und bemalte eine schon fünf Mal „verbrannte“ Kommode neu – in Türkis.
Meine Tochter zieht um, braucht weder Schuh- noch Fliegenschrank, aber eine „extravagante“ Wickelkommode.

Quarzsand...
Fotos: 1st

Es gibt keinen Zweifel: die BernerInnen sind übergeschnappt. Ihnen ist im Moment nicht zu helfen. Es fällt mir schwer, da nicht mitgerissen zu werden, glaubt mir!
Eine schreckliche Sache ist mir zu Ohren gekommen: Jemand aus Bushs Entourage habe das Bundeshaus gekauft. Die Plastikvermummung diene nur dazu, um unser Parlamentsgebäude dahinter in Ruhe Stein um Stein abtragen zu können. In Las Vegas werde es dann als tolle Goldgrube wieder aufgebaut und von echten weissen Königstigern bewacht.
Verzweifelt versuchte ich heute Abend, diese Katastrophe zu verhindern, wurde aber von den Securitas-Wächtern, den Polizisten und den Soldaten an der „Baustelle“ nur ausgelacht. Einige von ihnen „bewachten“ die Gratis-Bar, andere hatten sich eine Italien-Fahne umgehängt und schauten den Strandfussballern auf dem Bundesplatz zu. Kein Wunder merkt niemand, was da klammheimlich vorgeht, hat man doch allen im wahrsten Sinn des Wortes den besten Sand Europas in die Augen gestreut. Aus einem Hunderte von Kilometern entfernten deutschen Baggerssee wurden 300 Tonnen feinster Quarzsand

herbei gekarrt (siehe „Bund“ vom 21.06.06). Nun haben wir mitten in der Stadt einen Strand bester Qualität zum Fussball spielen, während ein anderer Fussball das Regieren übernimmt.
Mir graut ja davor, wenn die Leute nach den Sommerferien den leer geräumten Sandsteinfelsen entdecken. Ich hatte sie gewarnt – vergeblich. Auf jeden Fall werden wir eine Grube für den deutschen Sand haben und vielleicht daraus einen Baggersee …
(Falls ihr, liebe FreundInnen aus Deutschland, euren Quarzsand in action sehen wollt: 30. Juni bis 9. Juli am Internationalen Beach-Soccer-Turnier in der Lenk!)

Bei den meisten Bewohnerinnen und Bewohnern unseres Quartiers rangiert die Ökologie ganz unten; es ist sonnenklar, dass jeder Auto fährt, um die Ozonwerte schert sich nun wirklich keiner. Dass die Tour de Suisse bei uns vorbeikommt, ist auch normal, das schränkt den Verkehr höchstens eine Stunde ein.

Nicht so gestern. Gestern waren den ganzen Tag alle Zufahrtsstrassen zum Quartier gesperrt, weil nämlich Zeitfahren war und wegen der Riesenbaustelle ohnehin extra für die Tour hat geteert werden müssen. Ich habe mich belehren lassen, dass Zeitfahren bedeutet, dass die Fahrer in Fribourg mit einer Minute Abstand starten und einander nicht überholen müssen.

Die Folge waren aus zwei Gründen amüsant:

Erstens blieb mehr Zeit als sonst, den Tour-de-Suisse-Fans zuzusehen. Die gehen nämlich von ehemaligen Rennfahrern, die in Erinnnerungen schwelgen, bis zu geistig Behinderten, die einfach nur tanzen und johlen.

Zweitens musste sich das ganze Quartier zu Fuss bewegen. Mit den Badesachen zum Freibad, mit dem Bier zum gemeinsamen WM-Viewing, mit den Bébés zum Sippenbesuch, noch schnell zum Zigarettenkauf an die Tankstelle und sogar dir Räder mussten geschoben und die Fussbälle getragen werden, damit Jan Ullrich nicht ausgerechnet hier noch etwas in die Quere käme.

Natürlich haben wir mit diesem verkehrsberuhigenden Anlass kein einziges Körnchen Feinstaub eingespart, dafür hat der motorisierte Tross jedes einzelnen Rennfahrers gesorgt:

Tour de Suisse 1

Tour de Suisse 2

Tour de Suisse 3

Vater fühlt sich gut betreut im Regionalspital, obwohl er die PflegerInnen und ÄrztInnen, hauptsächlich aus Deutschland, meist nicht versteht. Wir Angehörigen versuchen zu übersetzten, erklären, dass es nichts bringt, Vater mit immer lauter werdender Stimme anzusprechen. Wahrscheinlich gibt auch sein Landberndeutsch einige Probleme. Aber irgendwie scheints zu klappen. Man ist froh um jeden Patienten, jede Patientin, denn die Tage der kleinen Spitäler sind aus Spargründen gezählt.
Am Sonntag steht Kalbfleisch auf dem Speisezettel. Ohne Vater! Bewusst hat er noch nie Kalb gegessen. Er weiss, wie gemästet wird, will kein Plätzli vom Kalb. Er wird eine Blätterteigpastete mit Sauce bekommen. Dagegen gibts keine Einwände.
Nachts sitzt er oft auf dem fremden Bett, schaut zum Fenster hinaus auf die bekannte Voralpenkette, deren markanteste Gipfel beleuchtet sind. Letzte Nacht wurde die nahe Grube mit Kies aufgefüllt. Vater hat den Lastwagen zugeschaut, bis er gegen fünf Uhr morgens ein bisschen schlafen konnte. Obwohl sein Sehvermögen abgenommen hat, entgeht ihm nicht, dass die Kühe auf dem „Schnarz“ das Gras abgeweidet haben und nun zu Tal gebracht werden.
Ausser frischer Wäsche brauche er nichts, nur eventuell bei Gelegenheit, es pressiere aber gar nicht und nur, wenns keine grossen Umstände mache, ein Schälchen Erdbeeren mit etwas Zucker und flüssigem Rahm. Die Enkelin und ihr Ehemann waren gerade auf dem Erdbeerfeld und bringen das Gewünschte gleich vorbei. Alle schauen zu, wie Vater, noch ein bisschen zittrig, mit grossem Genuss die Erdbeeren verspeist. Ist das ein gutes Zeichen? Wir erzählen, wie die Kartoffeln und Bohnen in seinem Garten wachsen und wie leer das Haus ohne ihn sei.
„Es kann sich jetzt ein bisschen von mir erholen“, meint er, so, als ob das Haus durch seinen Schmerz auch gelitten hätte.

An mir erledigen in letzter Zeit viele Leute ihre obligate gute Tat. Nimmt der Billetautomat mein Kleingeld nicht entgegen, streckt mir eine fremde Frau ihr Fränkli vor die Nase. Mag ich im Laden etwas nicht erreichten, hilft mir schon ein aufmerksamer Kunde. Will ich meinen Grossvater im Rollstuhl in ein Büro schieben, kommt mir die Sekretärin mit einem schrecklichen Dialekt dazwischen: „dass ihrem Bäuchlein nichts passiert.“ Als Unschwangere wurden mir nie so viele spontane gratis Hilfestellungen angeboten.

Ich erzählte das meiner Schwester, die sogleich erklärte:
Ich sage meinem Kind stets, wenn du unterwegs bist und jemanden um Hilfe bitten musst, dann frage
1. eine Schwangere,
2. eine Frau mit Kind(-ern),
3. eine Frau,
4. ein Mann mit Kind(-ern),
5. einen Mann.

Anscheinend gibt es nicht genug ZuschauerInnen für alle Grossleinwände …

Manchmal reichen Kraft und Zeit einfach nicht, meinen Grossvater mit dem ÖV zu besuchen; weil wir etwas zu trasportieren haben oder weil es schnell gehen muss. Heute war ich mit dem Auto dort. Ich war diese Strecke schon lange nicht mehr an einem Werktag gefahren, hatte offensichtlich das Puppenstubenleben schon etwas verdrängt und wurde vom ländlichen Perfektionismus fast etwas überrascht.

Der Start in der Stadt mit den torkelnden Junkies, den Baustellen und den Flanierzonen, wo Senioren und Lastwagen einander unendlich den Vortritt geben, war noch ganz normal. Doch schon am Stadtrand holte ich einen putziger Konvoi aus Briefträgern mit Töffli und gelben Helmen ein, die einer nach dem anderen choreografisch abzweigten, um über saubere Strässchen auf gerade gemähten Hügeln vor aufgeräumten Häusern weisse Briefe abzugeben. Das beliebte Heiratskrichlein Schlatt war zwar eingerüstet, aber die Baufirma verriet mir ihren Namen und ihr Vorhaben auf dezent beigen Planen. Eine glänzend schwarze Katze hatte ihrer glänzend grauen Maus das Genick so sauber gebrochen, dass sie absolut ungestört vor vor mir die Strasse überqueren konnte. Der Traktorfahrer mit den vier Guschti im Anhänger winkte mir nett in der Kurve mit durchzogener Sicherheitslinie, ich dürfe gerne überholen. Die Gärten, die Hecken, die Wäsche, die Miststöcke, die Stallungen, die Grossmütter mit den Körbchen, die Enkelinnen mit den Hütchen, die Beflaggung – einfach perfekt.

Da plötzlich in der Scherli-Au der Bruch. Ein Kehrichtsack am Strassenrand war kaputt gegangen, der ganze Inhalt lag verstreut auf der Hauptstrasse, die Leute standen am Rand und schüttelten besorgt ihre Köpfe. Sollten Sie den gewichtigen Verkehr mit Heu und Veh behindern und aufräumen oder doch lieber warten? Ich bremste auf Schritttempo ab und besah mir den Schaden an der Landschaft durch die Frontscheibe. Und ich sah ungefähr ein Dutzend gebrauchte aber akkurat zusammengeklebte Windeln, vier sauber ineinandergesteckte Plastiktöpfchen wie man sie beim Pflanzenerwerb bekommt, sowie eine komplett ausgedrückte Tube Tomatenpüree und eine bunte Verpackung – vermutlich von einer Kochzeitschrift – dort liegen. Diese Hausfrau bestünde jeden Abfalltrenn-Doppelblindtest. Perfekt.

Über Pfingsten habe ich meinen Kühlschrank abgetaut, denn ich brauche Platz für die M-Toto-06-Snacks und die Hopp- Schwiiz-Pizzakreation. Das ist eine „Familypizza, welche vierteilig daher kommt mit vier Kreuzen aus Tomatenscheiben und Stäbli aus Schweizer Gruyère-Käse…“. Die „WM-Verpackung“ einfach aufreissen und hopp, in den vorgewärmten Schwiiz-Ofen damit.
Ich fürchte, dass wir alle in einem Monat aussehen werden wie Fussbälle, rund und blass mit schwarz unterlaufenen Augen – Fussballengerlinge 06!

Mit meinem Panini-Album bin ich leider noch nicht voll, denn seit einigen Tagen tausche ich nicht mehr nur Bildchen gegen Bildchen. Meine Coiffeuse suchte für ihren Sohn wochenlang erfolglos die Nr. 24. Ich hatte diesen rastalockigen, nicht nominierten Patrick Owomoyela doppelt und schenkte ihn der armen Seele. Dafür bekam ich meinen asymmetrischen Haarschnitt für Fr. 50.-, statt für Fr. 68.-.
Nun versuche ich, mit den doppelten Holländern beim Spengler ein Anschlussrohr für die Waschmaschine einzutauschen. Die Halterung für den Gartenschlauch kostet mich voraussichtlich 1 Hakan. Wie ich allerdings zu Nr. 510 Chung Kyung-Ho komme, ist mir schleierhaft, denn er ist in meinem Tauschrevier rar.
(Den vom „Zauberer zum Experten“ mutierten Alain Sutter werde ich voraussichtlich nicht los.)

Seit Generationen wird in meiner Familie immer alles geflickt. „Zu Ehren ziehen“, nannten meine Eltern das und machten aus der Not eine Tugend.
Eine neue Fliegenklatsche würde 1.50 kosten, aber mein 95jähriger Vater hat diese hier mit einem Stück (uraltem) Hundsleder geflickt. Ich finde das übertrieben!

Zugewehte

Der Wind und die Vögel sorgen dafür, dass auf dem Balkon die unterschiedlichsten Pflanzen spriessen.

Wie immer am Samstag, überquere ich die Strasse mit einem voll beladenen Einkaufswagen. Eine Bekannte, am Arm ihres Gatten, bemerkt:
„Es ist ja ungeheuerlich, wie viel Sie einkaufen!“
Und ich blödes Huhn, wieder einmal könnte ich mich kläpfen, fange an, mich zu rechtfertigen. Ich hätte eben für drei Familien eingekauft, dazu für meinen greisen Vater, dann die Festtage und für den Rest der Woche mit Arbeit ohne Gelegenheit für Kommissionen. Als das Paar sich dem Café zu wendet, beschliesse ich, mich nur noch in äusserst speziellen Ausnahmefällen für meine „Taten“ zu rechtfertigen.

Ich war in Bätterkinden an der Emme in der Landschulwoche. Es war mieses Wetter und es war sehr abgelegen, es gab nicht einmal einen Kiosk. Wir mussten viele Spiele machen, die die Lehrerin und der Lehrer erfunden hatten. Am Schluss machten wir aber eine Disco. Und drei Mädchen aus unserer Klasse organisierten einen Theaterwettbewerb. Sie gaben Anweisungen, welche Rollen vorkommen mussten. Das waren: Rapper/Machos, Streber und Tussis.

Die Mädchen haben mich gefragt, was eine Tussi hat. Ich habe gesagt: Ein helles Handy zum Aufklappen (hatten die Mädchen aber nicht), ein bauchfreies Top (hatten sie auch nicht), sehr enge Hüft-Jeans (hatten sie ebenfalls nicht), deshalb kam die eine Tussi dann im Pyjama, die andere hatte immerhin halbenge Jeans.

Ich und J. haben zwei Rapper gespielt, V. und S. haben die Streber gespielt, J2 und M. waren dann eben die „Tussis“. Neben uns gab es noch drei andere Gruppen mit diesen Rollen.

Ich habe als einziger einen eigenen Rap geschrieben, ich hatte nur acht Minuten Zeit:

du chunsch mi cho disse,
aber chasch di grad verpisse,
du meinsch du bisch dr king,
aber i bi dr boss, fucking,
i mache di fertig,
i nimm di usenang,
motherfuck, haut d’frässe, mann!

Unsere Gruppe hat gewonnen!

Frau M. zählt auf, welche Unterziehleibchen und warmen Strümpfe sie heute anhat. Ich trage Halstuch und wärme die Hände an einer Tasse Hagebuttentee. T. lächelt milde und erzählt, wie er jeden Morgen seinen „Schwumm“ tut. 11° – kein Problem. Erst beim Ausstieg aus dem Becken beginne er zu frieren. Mache dann einen kleinen Lauf bevor er zur Arbeit komme. So etwas von schön und viel Platz im Schwimmbad!
Der Bundesplatz ist heute menschenleer. Dafür sieht es im Untergeschoss des nahen PostCenters aus wie in einem Flüchtlingslager. Alle Stühle sind besetzt. Es herrscht ein munters Treiben zwischen den Gestellen mit Papeterie- und Süsswaren. Auch einige TouristInnen finden hier ein hilbes Plätzchen, essen ihre Brote und fragen nach einem WC.
Frühe Schafkälte oder verspätete Kalte Sophie?

Was hindert meine Mitmenschen daran, die leeren Klorollen aus billigem Karton in den Abfall zu schmeissen? Weshalb stellen sie diese auf den Spülkasten, legen sie auf den Deckel des Abfallkübels, die Spiegelbank, das Lavabo?
Kann es sein, dass solche Wegwerfhemmung mit dem Basteln in der Kindheit zusammenhängt, als aus den Pappröllchen Weihnachts- und Schneemänner, Hexen, Zwerge, Serviettenringe, Muttertagsketten, Pfahlbauten, Eierbecher, Feldstecher, Kaleidoskope „knuzeliert“ wurden?
Der ganze staubfangende Krimskrams ist schon lange weg, aber im Herzen sind wir KloröllchensammlerInnen geblieben –

Ein Dach �¼ber dem Kopf

An der Bushaltestelle unter der Autobahnbrücke steige ich aus und fahre mit dem Lift hinunter zur S-Bahn Station Ausserholligen (SBB/BLS). Die Lifttür ist versprayt, der Boden voller Spucke, das Licht kaputt. Hoffentlich bleibe ich darin nicht stecken, denn noch immer habe ich hier mein Handy-Abo.
Die Haltestelle ist hässlich, mit zwei zwischen Betonstützmauern eingequetschten Geleisen – ein Unort. Kein Mensch weit und breit, dafür eine Infosäule, mit Knopf und einem kleinen Lautsprecher „Hier sprechen“.
Nun rumpelt die Zugskomposition der BLS heran, wie oft an den Samstagen handelt es sich um alte Wagen, deren Besteigung einer mittelschweren Klettertour gleicht. Der Zug kommt in einer Kurve zum Stehen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um per Knopfdruck die Tür zu öffnen. Diese bleibt zu. Als ich mit meinem Gepäck bei der nächsten ankomme, setzt sich der Zug vor meiner Nase in Bewegung. Mit meinem Einkaufswagen, einer Papiertasche und einem Henkelkorb gefüllt mit Sonnenblumen und Kürbisschösslingen mache ich mich fluchend daran, das Postauto ins Dorf auf Umwegen zu erreichen. (Aus Spargründen steht dieses in einer Vorortsgemeinde und fährt seit drei Jahren nicht mehr in die Stadt.)
Um mich ein bisschen zu beruhigen, kaufe ich im Hauptbahnhof einen grossen Becher Kaffee, der nach einer vierten Hand verlangt. Den Korb hänge ich an den Arm, die Papiertasche knüpfe ich an den Einkaufswagen. Wenig unterscheidet mich nun von einer Stadtstreicherin, was die Leute nicht daran hindert, mich mit einem Auskunfstbüro zu verwechseln. (Auch auf mir völlig fremden Bahnhöfen im Ausland werde ich nach Zuganschlüssen, Klos, Postbüros, Gepäckaufbewahrung, usw. gefragt.)
Endlich, wenn auch knapp zur Zeit im Postauto angekommen, belege ich vier Plätze und geniesse den Blick auf die blühenden Bäume unter welchen sich Lamas, Wasserbüffel, schottische Hochlandrinder, Dahmhirsche und einige einheimische Kühe am Wiesenkerbel gütlich tun.
Im Dorf hat man „den Geranium“ vor die Fenster gesetzt und Fahnen und Flaggen gehisst. Auch Vater hat zum grossen Schwingfest das Haus beflaggt. Um Geranien auf den Fensterbänken mag er sich in seinem hohen Alter nicht mehr kümmern. Ich setzte kühn Begonien und Rosenstöcke aus Stoff und Plastik made in China in die Töpfe.
Der alte Mann ist froh, dass sie kein Wasser brauchen. Vor dem einzigen Gasthof des Dorfes übt die Dormusik für ihren grossen Auftritt am Abend.
Ich pflanze die Sonnenblumen und Kürbisse in den Garten, besorge die Wäsche, hole Holz und Späne ins Haus, beziehe Vaters Bett frisch, giesse die Pflanzenrabatte und die echten Blumen vor dem Haus, gebe dabei (natürlich gerne) den vorbeiziehenden Pilgern und Pilgerinnen Auskunft über den Jakobsweg, das Kloster, die Abfahrtszeiten des Postautos, das nächste öffentliche Klo (in der Martinskirche), die Namen der Alpen- und Voralpengipfel, den Wanderweg Richtung Schwarzenburg und das Atelier des bekannten Dorfmalers. Dann kaufe ich ein und bereite das Essen für den Sonntag vor.
Anschliessend steige ich unters Dach auf die Bühne, um die mittlere Fahne, die sich an einem Draht verfangen hatte, zu entwirren.

Schwingfest

Etwas nach 17:00 Uhr steige ich wieder ins Postauto Richtung Stadt. Auf dem „grössten privaten Bauplatz der Schweiz“ pflücke ich noch einen Strauss Margeriten, „Zantihansen“, wie meine Grossmutter sie nannte. Eine Nachbarin kommt und sagt mir, dass sie hier schon lange einen Strauss pflücken wollte, es aber noch nie gewagt hätte. Ich nehme meine Kamera und fotografiere sie zusammen mit den Margeriten, die auch Gemeine oder Weisse Wucherblumen heissen.
Mit dem Gedanken, dass es diese Wiese bald nicht mehr geben wird, ziehen wir beiden Frauen etwas wehmütig vom Feld.
Aus meinem Einkaufswagen riecht es nach frischem Brot. Die Nachbarin hatte mir einen „Kornring“ hinein gelegt.

Kr�¤uter und Paprika
Seitdem die Zeitung aus Spargründen so dünn geworden ist, habe ich bei meinen täglichen Fahrten im Bus Zeit, die ausgehängten Werbungen zu lesen. Hier wollte ich eigentlich etwas über die Unterhosen-Werbung von Till Schweiger schreiben. Diese wurde aber von den Passagieren kaum eines Blickes gewürdigt, denn Tills Kopf sei sowieso auf einen fremden Body montiert.
Mehr zu reden gab das Dar-Vida-Plakat. Die junge Frau sehe süchtig aus, magersüchtig. Sie ernähre sich, kleckernd wie ein Kleinkind, nur von diesen hauchdünnen Krackers, welche dann sicher wieder gek … würden. Viele sagen zu dieser Werbung „wähh“ und gehen sogar so weit, das Produkt nicht mehr zu kaufen.
Solch dezidierte Reaktionen aus jeder Altersgruppe wollte ich der Firma Hug nicht vorenthalten und teilte ihr die div. Meinungen mit.

Ich habe nun folgende Antwort erhalten:

„Guten Tag Frau C.
Besten Dank für Ihr E-Mail vom 24. Mai.
Es tut uns leid, dass Ihnen unsere neue DAR-VIDA
Werbekampagne nicht gefällt.

Das Bild ist ein Spiel zwischen einer perfekt geschminkten Dame und einem überspitzt
dargestellten Mund, an dem Kräuter/Paprika haften geblieben sind/ist.
Die Darstellung ist überspitzt dargestellt und wird auch von vielen, v.a. jungen Konsumenten als solche wahrgenommen. Denn: Niemand will nach dem Essen wirklich so aussehen wie die Damen auf dem Plakat! Mit den Kräutern und Paprika auf dem perfekten Damenmund wird die neue Würzigkeit der DAR-VIDA Produkte dramatisiert – ein übliches Vorgehen in der Werbung.
Werbung ist jedoch Geschmackssache und das Gleiche gefällt nicht allen Menschen.

Nichts für ungut….

Freundliche Grüsse

Irene Bühlmann“

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