2005


Neben dem stattlichen Vorrat an Holzscheiten aus Tanne, Buche und Esche bestellt mein Vater jeden Herbst in der nahen Sägerei vier Tonnen Kugeln aus gepresstem Sägemehl. Meist braucht es im November, kurz vor dem ersten Schnee, noch einen zweiten ärgerlichen Anruf mit der Drohung, die Ware bei der Konkurrenz zu bestellen, bis die Ladung dann endlich eintrifft. Liefert der Chef persönlich, bezahlt mein Vater bar. Sonst wird das Geld in den nächsten Tagen per Post angewiesen. Auf keinen Fall wird mit unbezahlten Kugeln geheizt.
Auch der Kunstmaler im Dorf hält sein altes Bauernhaus mit solchen Kugeln warm. Er bezahlt mit Bildern. Die Kunstwerke werden im Haus des Sagermeisters ihrer Grösse wegen an an die Wände gelehnt und von der genervten Putzfrau ab und zu ein wenig verschoben. Sie passen auch sonst nicht zur Einrichtung im Heimatstil.
Vater ist der Meinung, man sollte aus den Bildern wieder Sägemehlkugeln herstellen …

Die Wochenteilung gestern war eine einsame Sache. Weit und breit kein Herr Hirsiger, der mir im Vorbeigehen schnell die neuesten Quartiernachrichten zurief, bekränzt mit guten Wünschen und der Frage, ob ich nichts vergessen hätte. Wie viele Nuss-Schokoladetafeln er im Laufe der Jahre für mich aus der Chuttebuese gezogen hatte, weiss ich nicht. Wie ein König thronte er sonst schon vor acht Uhr morgens auf einem Plastikstuhl vor dem „Denner“, streckte seine nackten Füsse in Turnschuhen wie kleine Schiffe von sich, umgeben von anderen Alten aus dem Quartier.
Diese Leere beunruhigte mich.
Heute traf ich eine der Frauen aus diesem Rentner-Kränzchen. Herr Hirsiger sei im Spital, er hätte eine Lungenentzündug. „Kein Wunder, wenn er sommers wie winters keine Socken trägt in diesem Durchzug. Selber schuld!“, sagt sie böse-besorgt.
Eben habe ich im Spital angerufen. Ich wurde mit der Schwester auf der Intensivstation verbunden. Da ich nur die Nachbarin sei, dürfe sie mir nicht sagen, wie es dem Mann gehe. Da müsse ich schon den Sohn fragen. Aber den Gruss richte sie ihm aus.
Den Christbaumschmuck seiner verstorbenen Frau hat Herr Hirsiger uns schon vor Jahren gegeben – damit er nicht verloren gehe.

Sie sei vorgestern Abend zusammengebrochen, erzählt mir mein Vater am Telefon, als ich mich nach Mutter erkundige. Mutter mag nichts mehr essen, auch kaum mehr trinken. Vater, der im 95sten geht, hat weder die Nachbarn alarmiert, noch den roten Alarmknopf auf seiner Spezialuhr gedrückt. Um seine Frau nicht zu verletzen, schlang er ihr ein weiches Tuch um die Brust und richtete sie damit nach und nach auf, ihr immer Zeit lassend, sich in jeder Stellung zu erholen, eben „süüferli“, sanft, wie er mir erklärte. So konnte er sie ganz allein zu Bett bringen.
Vater hält jeden Tag das über hundert Jahre alte Holzhaus warm, damit Mutter nicht friert, denn sie mag keine Strümpfe mehr anziehen und Jacken schon gar nicht. Heute hat Vater Blut- und Leberwürste mit Rotkraut gekocht, auch süüferli, wies Kraut und Wurst gern haben. Wer weiss, vielleicht mag Müeti auch ein bisschen davon „meisele“ (sehr wenig essen, wie eine Meise)?
Sonst versuche er es zum Zvieri noch einmal.

Heute Morgen im überfüllten Bus:
Mann mit Baskenmütze: „Wie gehts deiner Ex-Ex-Ex?“
Mann mit Cowboyhut: „Zum Glück höre ich nichts von ihr.“
Baskenmütze: „Hast du nun wenigstens deine Sachen bekommen?“
Cowboyhut: „Am 31. Januar wird alles auseinander gefädelt, das dauert halt.“
Baske: „Ja, Zeit zum Sterben hätte man bis dahin.“
Cowboy: „Recht hastdu.“
Baske: „Und die Aquarien, hast die noch?“
Cowboy: „Nur noch eines, das andere hat sie mitgenommen, die Täsche.“
Baske: „Ist so eine überhaupt fähig, zu den Tierli zu schauen?“
Coboy: „Sie hat das Aquarium mit den Dummen mitgenommen.“

Adventsvorhang

Ich teste meinen Trost. (Ein Vorweihnachtsgeschenk meiner lieben Kinder – eine Kamera.)

Blöd von mir, ich weiss, aber mich faszinieren Informationen, die für mich völlig unnütz sind. So lasse ich mir z.B. haarklein erzählen, wie es in einer Pension im Zillertal zu und her geht, wenn sich dort regelmässig die Stammgäste aus der Schweiz treffen. Ich weiss, wie die Betten beschaffen sind, wer abends die Handorgel spielt, in welchem Bach gefischt werden darf und wie das örtliche Krankenhaus funktioniert. Natürlich war ich nie dort und habe auch nicht im Sinn, mich den Stammgästen anzuschliessen. Möchtet ihr wissen, wie eine Stockwinde gepflegt werden muss, damit sie nicht rostet? (Hier handelt es sich nicht um eine Blume!) Wer mir etwas über die Missionstätigkeit in Papua Neuginea erzählt, hat bestimmt mein ganzes Ohr.
Über die Bissigkeit bei Kaninchen habe ich bis heute nie etwas gehört. Diese Unart erschwere das Füttern sehr und oft lande Langohr deswegen vorzeitig in der Pfanne. Es gebe aber ein garantiert wirksames Mittel dagegen, das jeder Kaninchenzüchter empfehle: Man stecke eine heisse Kartoffel an eine Gabel und halte diese dem hungrigen Küngel hin. Einmal reingebissen, vergingen dem Tier die lästigen Flausen auf der Stelle. Wer weiss, vielleicht kann mir dieses Wissen doch einmal von Nutzen sein, und deshalb danke ich hier C. aus T. 😉

Heute war es soweit, heute war ich mit 1st auf „dem Raff“. Der Gang nach Canossa führte über eisige Strassen, neben Transportfirmen und Lagerhallen in die Hinterwelt eines Industriequartiers. Die erste RAV-Station, die wir erreichten, war die falsche. Eine nette kleine Frau reckte sich über eine massive Theke uns entgegen und erklärte freundlich den Weg noch weiter in die Innereien des eiskalten Sektors. Es roch nach Spital.

Mehr schlitternd denn gehend erreichten wir schliesslich das verhasste Ziel und begaben uns hinter die Glastür in den Empfangsraum. Ausgehängte Stellenbeschreibungen, verschiedene Boxen mit Schlitzen für Formulare und ein Computer mit „SSL“ (Stellensuchleitfaden?) mit einem Ausser-Betrieb-Schild dran, sahen wir dort.

Hinter der kurzen Schlange erwartete uns wieder eine freundliche Dame, hell gekleidet, straff gekämmt und einer Krankenschwester ähnlich. Sie gab 1st lächelnd ein gelbes Blatt ab, das 1st ausfüllen sollte. Wir merkten, dass 1st nicht so viele Kreuze zu setzen hatte. Einerseits positiv, weil all die Fragen nach den Aufenthaltsbewilligungen für sie als Eingeborene wegfallen, andererseits negativ, weil jemand mit Lehrabschluss eines älteren Jahrgangs genau zwei Kreuze von sieben setzen kann. Es erginge mir nicht anders.

Grundschule [ja] / Berufsschule [ja] / Matura [nein] / Diplommittelschule [nein]/ höhere Fach- und Berufsprüfung [nein] / Fachhochschulabschluss [nein] / Universitätsabschluss [nein]

Dafür konnte 1st neben Französisch und Englisch mit Ivrith noch eine dritte Sprache angeben, immerhin etwas. Einem Wohnortswechsel für eine neue Anstellung konnte sie nicht zustimmen, Schichtarbeit und Nachtarbeit wären sträflich für ihre Gesundheit.

Mit dem Formular zurück zur netten namenlosen Dame am Schalter. Sie zeigte eine Auswahl von Arbeitslosenkassen, 1st wählte schnell, die Dame konnte vorwärts machen. Freundlich gab sie 1st einen Termin für eine vierstündige Einführung über die RAV, ebenso freundlich reichte sie einem bellenden Vorgesetzten seine Post.

Wirklich, es war alles ganz genau wie beim Arzt. Professionell, nett, wertfrei und die Nächste bitte. Ich fragte nach dem Namen der Schwester der Sachbearbeiterin und sie zögerte nur eine Sekunde und gab ihn mir. Ich dankte und sagte, dass sie bestimmt absichtlich nicht angeschrieben sei und sie nickte lächelnd.

Wir quälten uns wieder durch die bisigen Strassen, zwischen den Lastwagen dem Wellblech entlang bis zum nächsten Bus, der höchstens jede halbe Stunde fährt. Ich dachte laut darüber nach, dass die Spitalatmosphäre mit der Stationsschwesternfront vielleicht das einzig richtige sei für Menschen in Existenzangst. Denn was hinter dieser Angst stehe, wie viele Absagen, wie viele Ungerechtigkeiten, wie viel Willkür, welche Krankheiten, welches ganze Schicksal, das könne niemand ermessen und schon gar nicht reagieren darauf. Einfach nur lächelnd Formulare erklären sei vielleicht nicht das Dümmste.

Aber ich hatte leicht reden, ich war ja nur die Begleitung.

Heute werden, wie schon seit mehr als dreissig Jahren, die Weihnachtslaternen montiert. Schulklassen haben eifrig Muster aus einem schwarzen Zeichnugsblatt geschnipselt und die „Löcher“ mit buntem Seidenpapier unterlegt.
Sicher gabs zu Hause auch hier und dort ein bisschen Streit und Stress, weil den Lehrkräften für den Endspurt die Kraft und das Seidenpapier ausgegangen war und sie den Rest am verklebten, zerknitterten ein bisschen zerrissenen Blatt nun den Eltern überlassen müssen.
Die Arbeiten werden von einer Jury bewertet, und die GewinnerInnen dürfen sich von einem Gabentisch etwas aussuchen. Seit vielen Jahren sind es meist muslimische Kinder, die sich die ersten Preise für die Weihnachtslaternen holen. Sie schneiden begeistert Tannenbäume, Engel, Bethlehmesterne, Kerzen und Könige aus und ohne sie gäbe es keine Adventsbeleuchtung in unserem Quartier.
Um die bestehenden Strassenlampen mit eben diesem Schmuck zu versehen, braucht man eine Leiter.
Im Gemeinschaftszentrum war man deshalb gestern am Planen.
Man müsse sich warm anziehen und wer steige auf die Leiter?
„Dr Türgg“ – „Der Türke“, wurde einstimmig, zwar ohne den Türken, beschlossen.

Sie werde zwar ein bisschen ausgelacht wegen ihrer Vorliebe zu Barchent-Bettwäsche, erzählt mir meine Freundin C. Dabei gebe es besonders des winters nichts Angenehmeres und Wohligeres als diese. Stimmt, das kenne ich aus meiner Kindheit. Barchent gehört zum Bünzligen, wie Bettsocken, Eckbänke, Kreuzstich auf Teewärmer, Neujahrskärtchen mit verschneiten Tannen hinter Alphütten …
Wir beschliessen, den Abend einmal nicht dem Originellen, sondern dem Bünzligen zu widmen und machen uns auf in den „Jäger“. Der war schon da, bevor hier die Hochhäuser in den Himmel wuchsen. Täfer, weisse Vorhänge, Astern als Tischblumen. Die alte Bise kennt sich im Westen gut aus, rüttelt an der Pergola und fährt uns kalt in den Kragen. Zum Aufwärmen bestellen wir ein bünzliges „Kafi fertig“ (süsser Kaffee mit Schnaps im Glas) und schauen uns in den mitgebrachten Versandkatalogen die Barchent-Bettwäsche an.
C. will den Hasenrücken mit Spätzli probieren, ich nehme Rösti mit Emmentaler-Bratwurst an einer Zwiebelsauce – voll bünzlig.
Manchmal geht dieses Bünzlitum aber doch zu weit. Z.B. im Spital, welches durchgehend einen Innenanstrich mit 90/10 bekommt. Meine Freundin, die Malerin, hätte jeder Abteilung des Krankenhauses gerne eine eigene Farbe gegeben, aber die Innenarchitektin hält nichts von solch gravierenden Veränderungen.
So wird C. morgen Abend, wenn die riesige Spitalküche leer ist, auch den Abflusskanälen diese gelblichweisse Standartfarbe 90/10 verpassen und drauf verzichten, ihnen Fisch- oder Drachenschuppen aufzumalen.

Der Rentner neben uns lässt sich den Rest seines panierten Schnitzels einpacken: „Zum Aufwärmen für morgen, danke.“

Vier absolut subjektive und nicht wertfreie Erzählungen über hier im Block und um Dayton herum geborene Jungs balkanesischer Herkunft:

3rds Freund D. seit Kleinstkindertagen, entstammt einer Mischehe einer katholischen Kroatin und eines muslimischen Bosniers. Er hat eine kleine Schwester und sein Vater verspielte vor fünf Jahren nicht nur alles, was die Familie besass, sondern verschuldete die Familie zusätzlich auf eine halbe Million. Die Mutter fand in der Folge den Weg zurück zur Kirche und wurde jetzt geschieden. Sie wohnen in einer Blockwohnung, bezahlen die Hälfte der Schulden ab, die Mutter arbeitet im Spital, D. ist Mitglied im Fussballclub, seine Schwester im Kunstturnverein, beide haben gute bis sehr gute Schulnoten. Ihr Aufenthalt in der Schweiz ist nicht gesichert, aber die Chancen für eine Einbürgerung der Kinder stehen gut.

3rds Nachbar M. seit Kindergartentagen entstammt einer serbischen Ehe. Die Mutter ist sehr nett und arbeitet immer irgendwo. Der Vater ist ein bärbeissiger Taxifahrer. Jeden Samstag fahren Vater und Sohn zum serbischen Vereinslokal am Rande des Rotlichtmilieus, wo auch der spanische Club liegt, bei dem 3rd Flamenco tanzt. Die beiden Jungs nicken sich nur von weitem zu, sie mögen einander nicht besonders. 3rd wirft M. Hinterhältigkeit vor, M. wirft 3rd Überheblichkeit vor. Seit 2nd, male, M. zum permanenten Spucken in 3rds Hut herzlich gratuliert und ihm öffentlich die Hand geschüttelt und gedankt hat, hat sich immerhin dieses Problem entschärft. M. lernt im Vereinslokal den serbischen Volkstanz so wie das Volksliedgut kennen, im Fussball hilft er immer den Orthodoxen. Die Schule mag er nicht besonders, im Fussballclub ist er auch, aber im Zweifelsfalle entscheidet er sich fürs Gamen. Zusammen mit seinem Vater pflegt er eine grosse Sammlung von Ego-Shootern. Und Schweizer werden will er noch nicht.

3rds ehemaliger Schulkollege A. entstammt einer mazedonisch-ägyptischen Mischehe, die den muslimischen Glauben sehr hoch hält, die Männer in der Familie verpassten noch nie ein Freitagsgebet. Der Vater ist Übersetzer (Arabisch/Türkisch/Albanisch) und Schneider und engagiert in einem Arbeitslosenprojekt. A. ist ein sehr begabter Zeichner und wäre ein ausserordentlich guter Rechner. Er und sein grösserer Bruder gehören zu dem Opfern von 9/11. Seit diesem Anschlag hat der Vater sämtliche Integrationsbemühungen abgebrochen, die Mutter sieht man allerhöchstens einmal im Jahr draussen, wenn sie in Begleitung der Söhne, die ins Arabische übersetzen, zum Arzt geht. Sie verlässt die Wohnung sonst nur, um das Flugzeug nach Kairo zu besteigen. A. verbringt sein Doppelleben zwischen dem frommen Anstand zu Hause und dem gefährlichen Mitläufertum draussen relativ unbeteiligt. Während sein Vater mich auf offener Strasse wegen Anzeige gegen seine Söhne „gestellt“ hat, reagiert A. darauf nicht merklich. Er mag es nicht zu kommunizieren, spricht nur ungenügend Deutsch und droht so auch den Faden zu seinem genialen Fach Mathematik zu verlieren.

3rds Kollege E. (seit Säuglingstagen, sie haben den gleichen Geburtstag und –ort) ist einer von drei Söhnen einer Schönheitskönigin aus Pristina und eines doppelt so alten Albaners aus ihrer Nachbarschaft. Der Vater ist invalid, die Mutter arbeitet seit Neuem als Putzfrau. Vor einem Jahr konnten sie sich ein kleines Auto leisten, das die Kinder täglich auf dem Parkplatz umarmen und jederzeit mit ihrem Leben verteidigen würden. E. wurde trotz gegenteiliger Empfehlungen (auch von mir, ich lernte einmal in der Woche mit ihm Deutsch) und grossen Defiziten normal eingeschult, der Vater akzeptierte keine Zurückstufung seines Sohnes. Auch schickte er ihn immer länger als die Ferien dauerten in den Kosovo zum Tiere hüten. Die Erstklasslehrerin von E. überzeugte ihn schliesslich, indem sie sich schlicht weigerte, den Sohn zu unterrichten und indem auch den Gesuchen um Ferienverlängerung nicht mehr stattgegeben wurde. E. machte darauf das erste Schuljahr in einer Kleinklasse und konnte nach zwei Jahren problemlos in die Regelklasse wechseln. Es ist für Kinder aus bildungsfernem Milieu immer schwierig, gerade wegen der rudimentären Deutschkentnisse, die sich ohne besondere Anstrengung der Schule nicht aufholen lassen. Aber ich wage die Prognose, dass E. dank seiner guten Arbeitshaltung eine einfache Berufslehre wird machen können. Er möchte Chauffeur werden und ich habe ihm verspochen, bei der Lehrstellensuche zu helfen. Irgend ein Gott wird mir schon beistehen, egal welcher.

Frau K. fragt immer, ob noch frei sei, wenn sie sich im Bus neben jemanden setzt. Besonders auf der Line 14 hat sie schon die Erfahrung gemacht, dass Leute meinen, sie könnten zwei Plätze belegen. In Berns Westen gäbe es nicht wenige, die sogar glaubten, ein Anrecht auf einen Stammplatz zu haben.
Frau K. streckt Beine und beide Krücken zufrieden von sich und fängt gleich an, mir die Leidensgeschichte mit ihren Knien zu erzählen. Die erste Operation durch eine Chirurgin war „ein fertiger Pfusch“. Zum Glück hörte sie dann von einem Mechaniker, der Chirurg geworden war und nun die besten Kniegelenke weit und breit einsetzt.
Dr. W. brachte die Pfuscharbeit seiner Kollegin wieder prima in Ordnung. Frau K. liess vertrauensvoll auch das zweite Knie operieren Der doppelte Erfolg überzeugte ihren Gatten. Auch Herr K. „holte sich bei Dr. W. ein neues Knie“.
Diese Knie-Operationen verbindet das Ehepaar in ihrer Beziehung. Auf keinen Fall wollen sie es machen wie der Bruder von Herrn K., der mit 73 Jahren von seiner Frau verlassen wurde, nachdem er ihr die Autofahrstunden bezahlt und ein Auto gekauft hatte.

Heute war ich wieder 12 km weg von der Stadt. Stellt euch vor, gerade der Schüler, der eigentlich nicht spricht, hat, als ihn die Heilpädagogin nach dem gestrigen Match fragte, geantwortet: „Scheiss Türken.“ Mir rutschte heraus: „Wie würdest du dich fühlen, wenn ich hier her kommen und sagen würde, alle Oberbalmer seien unterentwickelt?“ Danach bearbeiteten wir die Fragen, wieviele Fans in Istanbul im Stadion gewesen seien, wieviele EinwohnerInnen die Türkei habe, wieviele Prozent davon mit Flaschen geworfen haben, Mathe gegen Rassismus.

Der andere Schüler hatte einen Pulli an, auf dem stand „URBAN Freestyle“. Er erzählte zum Thema, dass er die Gewalt vor, während und nach dem Match erschreckend fand, dass er aber auch gute Türken kenne, nämlich den, bei welchem er am Thuner Märit immer einen Kebab kaufe. Der würde sich sicher für das Benehmen der Fussball angefressenen achtungslosen Türken schämen. Was denn ein Kebab sei, wollte die Städterin wissen, die für ganz Oberbalm Kebab verspiesen hatte. Fleisch in einer Omelette, mit oder ohne Scharf. Amusant!

Gute Nacht und fair play!

Das „Hurenkind“ kennen die etwas älteren Büchermenschen noch, diese letzte, nicht ganz gefüllte Zeile eines Absatzes, welche allein auf einer neuen Seite steht. Solche Kinder werden, EDV sei Dank, nicht mehr geboren.
Seit Montag gibt es den „Hurren son“.
Das Wort stand auf unzähligen Plakaten, die der Schweizer Fussballmannschaft am Montag in Istanbul wütend entgegen gehalten, entgegen geschüttelt wurden.
„Hurenkind“ & Co. werden im modernen Buchdruck durch Veränderung der Zwischenräume vermieden.
Wäre so etwas bei „Hurren son“ auch möglich – Veränderung der Zwischenräume?
Wir werden es heute Abend sehen.
Die Beschimpften bleiben inzwischen cool, halten fest den Ball im Auge …

Das Dingdong der Klingel weckt sie um 02:14 aus einem leichten Schlaf. Jemand unten an der Haustür? Etwas Schlimmes passiert? „Hallo“ – keine Antwort. Der Lift hängt ruhig in seinen Seilen. Um 2:25 schnurrt die Klingel an ihrer Wohnungstür im 13. Stock. Sie schaut durch den Türspion, der ja nicht das neueste Modell ist und öffnet die Tür, welche sie für die Nacht abzuschliessen vergass. Draussen steht ein Mann mit einer umwerfenden Alkoholfahne. Er ist daran, seine angelaufenen Brillengläser zu putzen. Die Tasche sei ihm eben von einem Herrn an einer der unteren Türen abgenommen worden. „Da läuten Sie am besten beim Hauswart“, meint sie und macht die Tür wieder zu. Auf dem Weg ins Bett hört sie aus den Tiefen des Treppenhauses ein etwas verzweifeltes „Wo ist denn dieser Hauswart?“
Klar, der weiss das auch nüchtern nicht, der ist nicht von hier, denkt sie, schläft wieder ein und träumt, ihre Zehen seien mit rotem Klebeband eingebunden …

Leeres Gitter
Clevere Montage fragilen Getiers
Der letzte Schliff

Dieses Wandbild besteht aus Fischen und Vögeln, welche von einer Schulklasse getöpfert wurden. Hier im quartiereigenen Keramikatelier, aus besonders wetterfestem Ton und nach dem Grundsatz: aus dem Quartier, für das Quartier. Ein wunderbares Beispiel! Richtig zum Herumzeigen.

Aber leider ist das Atelier trotz aller Anstrengung nicht selbsttragend. Es bräuchte weiterhin Subventionen. Letzte Woche wurde der Betrieb definitiv eingestellt, nach vierzig Jahren. Die Keramikerin, die das Atelier gepflegt und geleitet und auch das Fisch-Vogel-Bild erdacht und verwirklicht hat, wurde entlassen, nach siebenundzwanzig Jahren.

Sehr verehrte Damen und Herren, das war ein weiterer Beitrag in der Reihe: Nachhaltigkeit. Soziale Sicherheit. Zukunft. Belohntes Engagement.

Neben der Verwendung des Diminutivs ist das Schweizervolk auch meisterhaft in Redewendungen. Und beides zu verbinden ist eine hohe Kunst, die nur in selten gelingt. Mein Favorit in dieser Kategorie:

„Äs jedes het sys Burdeli ds’traage.“ [Ein jeder hat seine kleine Bürde zu tragen].

„Jeder“ ist ohnehin Spitzenreiter, schon allein wegen dem helvetischen Dauerbrenner: „We jede so wetti, wo chiemte mer hii?“ [Wenn jeder das machte, wo führte das hin?].

Ich bin keine Freundin von stehenden Ausdrücken, auch wenn ich deren Alltagswert gern anerkenne. Sie machen das Leben berechenbar und erlauben Massregelungen, ohne auffällig Aggressionen zu wecken.

Wenn mir der zurückgereichte Zehnräppler der Kioskfrau zwischen die Zeitschriften rutschte, sagte sie garantiert: „es wott nid zu öich.“ Und fiele er mir gar auf den Boden, belehrte sie mich mit Sicherheit: „Schön wär’s, aber es wachst nid.“ Nun bin ich natürlich längst erzogen und lasse kein Kleingeld mehr fallen. Wo chiemte mer hii?

Doch habe ich eine Lieblingswendung. Sie kommt vom Land und mindert – laut ausgesprochen – Neidgefühle. Wenn einer viel Glück hat, dann sagen wir: „bi dämm chalberet sogar der Schiitstock“, was heisst, dass bei dem Glücklichen sogar der Stock, auf dem man das Holz spaltet, kalbt.

Im Club cultural Cervantes ist man flexibel. Ganz klar, dass die Fiesta auf heute Sonntag verschoben wurde, denn gestern Abend widmete man sich ganz dem Fussballgott

Trotz des milden Herbstwetters kamen die spanischen Gäste in den Grossen Saal des Quartiers, hängten neben die Clubfahne auch eine mit Schweizerkreuz, deckten die langen Tische für zweihundert Leute, bauten eine Bar auf und belegten Teller mit leckeren spanischen Wurst- und Schinkenscheiben, Käse und Oliven. Nach der Vorspeise wurde Kartoffelstock mit Rindsragout und zum Dessert Glace mit Früchten serviert. Alles lief wie am Schnürchen, denn in der Küche und beim Service waren Profis am Werk. Man sprach, lachte und tanzte durcheinander. Die Musik war ohrenbetäubend. Ein Mann erzählte mir, er hätte in seinem Garten in Spanien vier Schweizerfahnen gehisst. So etwas! 

Absoluter Höhepunkt des Nachmittags war der Auftritt der über fünfzig Flamencotänzerinnen und der zwei Flamencotänzer.

Die Knaben und jungen Männer hätten leider nicht genug Disziplin für diesen Tanz, meinte eine spanische Mutter bedauernd.

Die Lehrerin Raquel mit den beiden Tänzern, 2005

So gibt es im Club Cervantes in Bern einstweilen nur zwei Flamencotänzer, die hoffentlich nicht von einem Fussballclub abgeworben werden.

Regelmässig im Wintermonat werde ich von Betty Bossi umworben. Nicht, dass ich eines der feinen, Zeit sparenden Rezepte ausprobieren würde. Es genügt mir, die Bilder anzuschauen, immer mit dem schönen Gefühl, ich könnte diese Köstlichkeiten mit Leichtigkeit kochen, wenn ich es nur wollte.
Gespannt blättere ich, auf der Suche nach sinnvollen Geschenken, jeden November im Katalog mit den „Weltneuheiten an Küchenhilfen“ – und werde auch in diesem Jahr nicht enttäuscht.
Endlich gibt es den Spätzli-Chef mit dem passenden Teighörnli, die nicht klebenden Raclette-Pfännli, die Grillzängli für die Essiggürkli und Silberzwiebeli, die Schablone und das Schüfeli für die Sternenhimmel-Guetzli und die Mailänderli, das Teighölzli und das variable Teigrädli bis zu sieben Spuren, das Kräuter-Häxli, das Microfaser-Schwämmli, das Dessert-Förmli und die Form für 12 Mini-Gugelhöpfli, nicht zu vergessen das Messerli, um im Nu herzige Mini-Spiessli zu kreieren.
Natürlich bestelle ich auch den Wunder-Fränsler, denn was wären die Weihnachtpäckli ohne die schönsten Fränseli?
Danke, Bethli Bossi!
(Das alles findet natüürli im kleinsten Schublädli ein Plätzli.)

Frau T. serviert seit ihrem 18. Lebensjahr. Das sei ihre Welt, aber nach fast dreissig Jahren will ihr Rücken nicht mehr, schwere Getränkekisten, beladene Tabletts – unmöglich. Die Verhandlung mit der Invalidenversicherung zieht sich hin. Ab und zu ruft sie dort an, obwohl die zuständige Beamtin alles andere als freundlich ist. Frau T. leidet unter Atemnot, hat Magenprobleme, seitdem sie zusammen mit ihrer Tochter von knapp 2000 Franken im Monat leben muss.
Es war ein Glücksfall, dass sie im Quartiercafé eine Stelle bekam. Als Fachfrau wurden ihr 43 Stunden à 10 Franken fürs Einarbeiten berechnet. „Wo ist da die Gerechtigkeit?“ fragt sie sich. In ihrem Leben hat sie doch schon ganz andere Läden geschmissen als dieses Café. Aber eben, in ihrer Situation musste sie noch dankbar sein, dass sie überhaupt etwas bekam. Trotz allem versucht Frau T. freundlich zu sein. Freundlichkeit ist im Service beinahe alles.
Die Kasse stimmt immer. Nur gestern fiel ihr ein Fünfzigrappenstück unter die Theke. Sie konnte es einfach nicht mehr finden.
„Da kam“, erzählt sie mir strahlend, „euer Töchteli, nahm fünfzig Rappen aus dem Geldbeutel und gab sie mir. Ich wollte das Geld nicht nehmen, aber ds Töchteli liess es einfach liegen.“

Esthers Beitrag hat mich an eine Begebenheit hier im Blogk erinnert. Ich war mir sicher, die längst gebloggt zu haben, das scheint aber nicht der Fall zu sein.

Also, aus erster Hand, wenn auch nicht mehr ganz 1:1.

Mazedonische Mutter: Mein Sohn heiratet! Er braucht Wohnung, gibst du Referenzen?
Ich: Wen heiratet er denn? Kenne ich sie?
MM: Nein, sie ist Mazedonierin. Sehr schöne Frau.
Ich: Aber dein Sohn B. ist doch Schweizer! Er ist hier geboren. Warum heiratet er eine Frau aus Mazedonien, die er nicht kennt?
MM: Doch, er kennt sie bizeli. Sie ist von Thurgau. Auch Schweiz geboren.
Ich: Aha, dann halt. Ja, B. kann mich wieder als Referenz angeben (wie bei der Einbürgerung).
MM: Nein nicht schreiben, du musst anrufen zu Verwaltung.
Ich: Hä? Weshalb? Die rufen mich an.
MM: Wir brauchen Wohnung hier, diese Eingang.
Ich: Das geht nicht, man macht es seit einer Weile nicht mehr. Ich kann auch nicht unter oder über meiner Mutter einziehen.
MM: Aber es muss sein und diese Frau von Verwaltung hat versprochen. Aber passiert nichts!
Ich: Sie hat es versprochen, weil sie kein Theater will, aber B. wird keine Wohnung in diesem Hauseingang bekommen. Höchstens in diesem Block.
MM: Aber Braut wird Monate bei mir alles lernen.
Ich: Das kann sie auch, wenn sie fünf Hauseingänge laufen muss dafür.
MM: Nein! Sie wird in goldenen Kleidern sein und mit Hochzeit-Schminke.
Ich: Dann geht sie halt so, es sind ja nur wenige Schritte.
MM: Sie werden sie lachen!
Ich: Das ist schon möglich. Viele, die sehr traditionell leben, werden ausgelacht. Ich muss auch lachen über meinen Onkel in Kanada, der Fahnen schwingt. Es ändert nichts daran, dass sie ihre Wohnung nicht in eurem Eingang bekommen werden.
MM: Die Frau Verwaltung tut lügen!
Ich: Ja, stimmt.
MM: Und du hilfst mit!
Ich: Nein, ich finde es falsch, dass die euch anlügt. Aber ich finde es richtig, dass nicht Familien hier die Regeln machen, sondern die Verwaltung. Ich bin sicher, deine Schwiegertochter findet eine Möglichkeit, diese hundert Meter zu gehen.
MM: Ich verstehe es nicht. Ihr kennt nicht, was wert ist.

***

Nachtrag: Inzwischen ist die Schwiegertochter da, geht mit Tellern und Töpfen hin und her. Das bedeutet zweimal zwei Stockwerke Lift und achzig Schritte zu gehen. Sie tut es ohne Goldkleider, aber mit glänzendem Haar und immer vorzüglich geschminkt. Sie lernt das Kochen ganz schnell, erzählt die Mazedonische Mutter mir. Denn wenn ein Kind da ist, dann kann sie diese Pendlerei nicht mehr machen. Dann muss sie wirklich einfach in der Wohnung bleiben können. Meine Frage, wie sie das aushalte, als hier aufgewachsene, erwachsene Frau mit Schweizer Pass, beantwortet mir niemand mehr.

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