Die Winde des Südens sind voller Überraschungen – wie das Leben.
Au revoir!
Di 11 Jul 2006
Sa 8 Jul 2006
Millionen solcher schwarz-weiss Fötis liegen in zerschlissenen Umschlägen und Schachteln, kleben in Poesiealben, längst abgelaufenen Pässen, vergessenen Bewerbungsschreiben und abgegriffenen Geldbeuteln. Wie viele Stunden hat man kichernd die Automaten belagert, gespannt auf den Fotostreifen wartend, der, noch feucht und nach faulen Eiern stinkend, aus den Schlitz in Aussenwand der Fotokabine ruckelte?
In ein paar Tagen werden die analogen Kabinen verschwunden sein. An ihrer Stelle wird dann digital fotografiert, zwar zum gleichen Preis und in Farbe, aber mit vier identischen Bildern. Möglich, dass sich die Wehmütigen aus der Schweiz bei Gelegenheit noch einmal hier auf den Drehstuhl setzten
Sa 8 Jul 2006
Fr 7 Jul 2006
Ich habe gehört, dass einer durch die Städte ziehe und an Strassenrändern Malvensamen fallen lasse. Man wisse nicht, ob das toleriert werden solle, da Malvenstängel eventuell den Beton sprengten, die Sicht der AutofahrerInnen hemmten, lästige Bienen und BlumenpflückerInnen anlockten oder Vandalen die alles niederträten, so dass das Strassenbord unordentlich aussähe.
Bei uns ist er auch vorbei gekommen, der Schlingel!
Mi 5 Jul 2006
Meine Grossmutter ist Anfang dieses Jahres gestorben, jetzt stirbt mein Grossvater. Gestern vor 62 Jahren ist meine Mutter zur Welt gekommen. Heute Nacht hält sie Wache bei ihrem Vater. Ich wäre bei ihnen geblieben, aber sie will mich in meinem eigenen Bett wissen.
Wir integrieren unzählige Weisheiten von Grossvater in unseren eigenen Lebensweg. Heute Abend sprach er vom Zusammenhalt in den Familien und dass wir Enkelinnen doch bitte seine zwei Töchter trösten, sein Leben nehme nun ein Ende. Meine Tante sieht ihm das Sterben an und meine Schwester nennt es ein medizinisches Wunder, dass er mit seinem viel zu grossen Herzen überhaupt noch lebt. Am 11. August würde er 95 Jahre alt.
Mitternacht ist längst vorbei, aber ich bastle an einem Mobile. Ich halte es in Blau- und dezenten Grüntönen. Ähnliche Farben, wie die Kommode meiner Urgrossmutter, Grossvaters Schwiegermutter, die dem Hochzeitspaar einen sauren Braten serviert hat. In der Mitte des Mobiles wird ein glänzender Fisch hängen, rundherum Perlenketten mit selbst gesammelten Muscheln. Es soll mich an Südfrankreich erinnern, wohin ich dieses Jahr nicht fahre, da mein Bauchkindlein bald zur Welt kommt. Ich wünschte aber, meine Mutter reise nach dieser strengen Pflegezeit doch ans Meer. Wie dem auch sei, allez les vieux les bleus! Aber im Moment hupen noch die Italienfans durch die Strassen.
Mir scheint alles miteinander verbunden. Der Tod, ein neues Kindlein, unsere Berufe, das Meer, das Blinzeln von 3rd, 1st Bein, das Giessen der Pflanzen, die Tangas und Birkenstöcke meines Erzeugers, unser Rückgrat, der Blogk,… wie in meinem Mobile. Wenn ein Luftzug eine Perlenkette berührt, bewegt sich alles mehr oder weniger. Gerade hängt das Gebilde so und so, aber morgen sieht es schon etwas anders aus. On verra. Bonne nuit*
Di 4 Jul 2006
Letzten Freitag rief ich, ziemlich entnervt, den Dachdecker an. Seine Mannen hatten auf meinem Balkon ein neues Abwasserrohr wieder frei gelegt, da es undicht sei. Die Kontrolle daure 3-4 Tage. Das war im März.
Nun verlangte ich, dass diese Baugrube endlich von meinem Balkon verschwinde. Am Nachmittag tauchte Herr Wüthrich zusammen mit dem Spengler auf. Der Spengler, ein ausnehmend gut aussehender Mann mit grossen grauen Augen, hielt diverse Werkzeuge an die Brust gedrückt, von denen ihm immer wieder eines hinunter fiel. Man müsse einen Ballon in die Röhre einführen, diesen mit Wasser füllen und übers Wochenende sehen, ob es der Rentnerin in der darunter liegenden Wohnung auf den Kopf tropfe. Die beiden Männer werkelten vor sich hin. Dann brauchte der Spengler eine Fahrradpumpe. Ob ich so etwas … ? Nein, diese gehe nicht. Er brauche eine Altmodische mit Schläuchlein. „So etwas besitzt doch kein Mensch mehr. Ich jedenfalls habe die Schläuchleinpumpe vor zwei Jahren entsorgt.“ „Schade, sehr schade, nun muss ich meine holen,“ meint der Schöne traurig.
Als die beiden Fachmänner zur Tür hinaus waren, hörte ich es noch ein paar Mal im Treppenhaus poltern, wahrscheinlich die Pumpe mit Schläuchlein.
Heute früh kam der Spengler wieder, um seinen Versuch zu kontrollieren. Um 07:20 klingelte er die alte Nachbarin aus der unteren Wohnung an die Tür, um ihre Wände zu inspizieren. Alles trocken – prima. Ob ich eine dünne Stricknadel für ihn hätte, er müsse ein Löchlein in den Ballon stechen?
Er prüfte jede der sechzig angebotenen Stricknadeln, schüttelte nachdenklich den Kopf – alle zu dick. Musste er nun doch noch einen Draht in seinem Auto holen? Da, endlich, fand er das passende Nädelchen.
Nachdem er mir versprochen hatte, dass das Loch in kürzester Kürze …, verabschiedete er sich höflich, kam aber, wie Peter Falk in Columbo, gleich wieder, denn er hatte etwas vergessen.
Als ich mich endlich auf den Weg zur Arbeit machen konnte, rief jemand vom Parkplatz meinen Namen.
Es war der Spengler, der aus Versehen meinen Reserve-Wohnungsschlüssel eingesteckt hatte.
Mo 3 Jul 2006
Seit einiger Zeit fährt ein israelischer Schweizer auf meiner Busstrecke. Er besucht einen Sprachkurs in der Stadt. Nein, ich bringe ihm unterwegs kein Deutsch bei. Er muss mich Ivrith-Wörter abfragen. Das tut er geduldig und gerne.
Letzthin nahmen wir die Satzzeichen durch. „Anführungszeichen“ wussten wir beide nicht. Natürlich habe ich gleich nachgeschlagen, um für die nächste gemeinsame Fahrt vorbereitet zu sein.
Bis zur Endstation Hauptbahnhof haben wir uns dann, weil die Welt ja klein ist, an gemeinsame Bekannte und Freunde erinnert und in Gedanken viele Grüsse und gute Wünsche auf die Hügeln von Ephraim und Menashe geschickt.
So 2 Jul 2006
Da soll sich der Economist nur lustig machen über die Schweiz, die eine Mannschaft, die lediglich gegen zwei Schwächlinge wie Togo und Südkorea gewonnen hätte, wie Gewinner feiert. Ein Land in der Euphorie der Selbstüberschätzung…!
Also wir können uns über Selbstironie nicht beklagen. Heute zum Beispiel zeigt die NZZ am Sonntag eine Karikatur von Köbi Kuhn am Strand, wie er den kleinen Vogel (mit Schwimmhilfe) und den kleinen Cabanas (in viel zu grosser Fussballhose) lächelnd anweist, eine Sandburg zu bauen. Bei näherer Betrachtung erweist sich der Versuch als sandiger EM-Pokal.
Und der Witz, der seit einer Woche in jeder Schicht und jeder Sprache der Schweiz kursiert?
Saddam wird zum Tod verurteilt. Aber er hat wieder einmal Glück. Es schiessen Streller, Barnetta und Cabanas.
So 2 Jul 2006
Vater und Albert sind sich einig: mit den neuen Kuh-Namen im „Schweizer Bauer“ können sie sich nicht anfreunden:
Lourdes, Gilette, Carmen, Daiana, Lolita, Caroline, Jackie, Vanille, Fly-Away, Uriella…
Ist hier wirklich von Kühen die Rede?
Früher nannte man solches Grossvieh Vreni, Rösi, Käthi, Waldi, Figi, Venner, Prinz, Adler, Kaiser, Fion, Hirz und Wolga. „Schöne und passende Namen“, finden die beiden alten Bauern bei Milchkaffee und Apfelkuchen.
Unvergesslich bleibt Albert „Die Böse“, welche manch erfahrenen Bauern mit ihren Hörnern in die Flucht trieb, aber viel Milch gab.
Vater erzählt von der „Grauen“, die erst frass, wenn man sie am Halfter von Grasbüschel zu Grasbüschel führte und die auch viel Milch gab.
Dagegen sind, zugegeben, Lourdes & Co. richtige Milchfabriken.
Fr 30 Jun 2006
Von Samstag bis Donnerstag verschiebe ich immer alles auf den Freitag, besonders die Hausarbeiten.
Heute versuchte ich, einen Glaskrug zu meiner Kaffeemaschine der Marke „Wake up“ zu kaufen, hatte ich doch den noch beinahe neuen in der Eile mit der Pfeffermühle erschlagen. Nein, so ein Ersatz sei in keiner Filiale vorrätig, man müsse bestellen. Das daure bis zu sechs Wochen, wurde mir im Hauptsitz mitgeteilt. (Seeweg von Taiwan?)
Den ganzen Vormittag sprach ich mit sämtlichen Abteilungsleiterinnen der Migros-Aare-Filialen, die sich ihrerseits auch an den Draht hängten, um div. Aussenlager nach Artikel Nr. 7173.072 abzusuchen.
Ganz zuletzt machte mir Frau Kofmehl (Filiale Bethlehem) Hoffnung, den Krug bis ca. 10. Juli beschaffen zu können. Er koste 11.95. Ich bestellte gleich zwei. Den Deckel des zerbrochenen Kruges solle ich aber behalten, denn es käme oft vor, dass der Ersatz ohne diesen geliefert werde!
Mein Schwiegersohn meint, dass es Leute gibt, die in solchen Situationen einen Modellwechsel vornehmen.
Ich habe mich an „Wake up“ gewöhnt und warte, zusammen mit dem Deckel, geduldig auf die Krüge –
(Nachtrag: Nach dem Spiel, ihr wisst schon welchem, hatte ich auch den Deckel zerdrückt. Hoffentlich liefert Taiwan ausnahmsweise einmal komplett!)
Do 29 Jun 2006
Lange Abteilungssitzung. Auf dem Tisch ein Teller mit belegten Broten. Ein älterer Herr in Krawatte und dunklem Anzug betritt das Büro, schnappt sich ein Schinkenbrot und verlässt den Raum wieder.
„Wenns etwas zu Essen gibt, kommt er immer“, erklären die alten Hasen den staunenden Neuen, „der Professor kommt eben aus Schottland.“
Di 27 Jun 2006
Jetzt ist die Welt wieder in Ordung. Und alle Italiener, Portugiesen und Spanier können wieder ungehemmt mit ihrer Mannschaft fiebern. Sie können die Nächte zu Gunsten der Nationalmannschaften ihrer Väter Grossväter verhupen, ohne sich mühsam Gedanken darüber machen zu müssen, ob sie es sich doch in der hintersten Ecke ihres Herzens – ganz leise und wenig nur – vorstellen könnten, der Schweiz den Sieg zu wünschen.
Im Gegensatz zu 1994, als wir im Achtelfinale Spanien unterlagen, bringt die Niederlage gegen die Ukrainer keinen Zwist im Quartier. Denn die Ukrainer unterstützt kainer.
So 25 Jun 2006
E-Mail von einer Freundin in einem anderen Block:
Nachdem ich erfahren habe, dass der Mann, der seine zwei Kinder erschossen hat und dann sich selbst, zwei Hauseingänge weiter wohnte, fand ich diese Blocksiedlung auf einmal wieder schrecklich trist und no future versifft. Aber das ist natürlich vollkommen irrational, passiert ja in allen Kreisen.
Langsam erhole ich mich wieder und die Grabkerzen und Teddybärs sind nun auch weg.Gestern noch ein Schock in der Waschküche. Da lag eine dicke Strähne blonden Haars auf dem Auswringer. Sofort ein Film in meinem Kopf, ich wusste es doch, letzten Di klingelte bei uns um halb 8 die Polizei – ich öffnete nicht, sah sie aber dann ins Auto einsteigen – der alte Italiener mit der Alkohlfahne, getraut mit junger Rumänin mit eben solch langen blonden Haaren. Ich wusste es doch, dass er sie schlecht behandelt, sieht man vom Schiff aus und letzthin im Lift hat er noch eine Wunde am Arm
gehabt. Notwehr der Frau, ganz klar. Ich habe schon fast die Abwartsfrau alarmiert, aber doch zuerst noch E. mit dem Natel aufgescheucht, der sich diese Strähne mal anschauen gekommen ist. Und er fand heraus, dass es so Isolationsmaterial ist für Wasserleitungen. Hab ich echt noch nie gesehen so was, ich glaub immer noch daran, dass es Haare waren. Perückenhaare mindestens. Aber hoffen tue ich, dass E. Recht hat. Und sonst hoffe ich, dass die Frau abgehauen ist ins Frauenhaus und nichts Schlimmeres passiert ist.
Auch uns hat der eingangs im Mail erwähnte Fall aufgescheucht, der passte 1:1 auf die Familie von 3rds Freund D., von der ich hier als erstes geschrieben habe. Erst als ich endlich eine Verwandte am Telefon hatte, die schwor, unsere Freunde gerade noch lebendig in der Kirche gesehen zu haben, konnten wir uns beruhigen. Uns erstaunte es aber nicht in der Zeitung zu lesen, dass dieser suizidale Familienmörder – oder wie man die inzwischen nennt – ein Spieler war. Das Gewaltpotential von jedem wird analysiert und diskutiert, aber nicht das von Spielern. Dabei hat sich dieses Problem mit der Zulassung der Casinos (einer per Abstimmung und wider meinen Willen abgesgneten Einnahmequelle für Väterchen Staat) massiv verschärft.
Es ist nicht neu: Egal wie tief ein Mann sinkt, es finden sich immer Frauen und Kinder, die er mit sich in den Abgrund reissen kann. Für diese Erkenntnis reichte dem grossen Büchner ein Fragment und alt und weise brauchte er dafür auch nicht zu werden.
So 25 Jun 2006
Vor jedem Umzug sagte meine Mutter niedergeschlagen:
„Drei Mal zügeln ist ein Mal verbrannt.“
Ich erinnere mich, dass sie eine Büchse Farbe zur Hand nahm, und die zum vierten Mal zu zügelnden Möbelstücke anstrich, bis keine Farbe mehr vorhanden war. Vom sonnigen Hang über dem Gürbetal auf den windigen Hügel am Längenberg zogen wir in Türkis: türkis Schuhschrank, türkis Fliegenschrank, türkis Küchenstühle. Auf der Fahrt mit dem Fuhrwerk über die Landstrassen konnte jeder unsere sonderbare Habe sehen. Gleich galten wir im kleinen Bauerndorf als extravagant und hochnäsig.
Man erzählte herum, wir Zugezogenen bildeten uns ein, auf zwei Beinen gegangen zu sein, als die Leute hier im Chrachen noch lange auf allen Vieren tatzelten.
Der Start am neuen Ort war nicht einfach, und wir blieben fast fünfzig Jahre die „Neuen“. Die Eltern taten ihr Möglichstes für die Integration, halfen den Nachbarn beim Grasen, Ernten, Holzen, liessen keinen hungrig von Hof und bezahlten die höchsten Preise für die mickrigsten Ferkel. Dass Mutter den besten Kirschenkuchen mit dem dicksten Eierguss backte, mussten selbst ihre Feinde zugeben.
Seitdem bin ich schon viele Male umgezogen und möchte es am liebsten nie mehr tun.
Meine Mutter lebt nicht mehr, aber letzte Woche nahm ich einen Topf Farbe zur Hand und bemalte eine schon fünf Mal „verbrannte“ Kommode neu – in Türkis.
Meine Tochter zieht um, braucht weder Schuh- noch Fliegenschrank, aber eine „extravagante“ Wickelkommode.
Do 22 Jun 2006
Fotos: 1st
Es gibt keinen Zweifel: die BernerInnen sind übergeschnappt. Ihnen ist im Moment nicht zu helfen. Es fällt mir schwer, da nicht mitgerissen zu werden, glaubt mir!
Eine schreckliche Sache ist mir zu Ohren gekommen: Jemand aus Bushs Entourage habe das Bundeshaus gekauft. Die Plastikvermummung diene nur dazu, um unser Parlamentsgebäude dahinter in Ruhe Stein um Stein abtragen zu können. In Las Vegas werde es dann als tolle Goldgrube wieder aufgebaut und von echten weissen Königstigern bewacht.
Verzweifelt versuchte ich heute Abend, diese Katastrophe zu verhindern, wurde aber von den Securitas-Wächtern, den Polizisten und den Soldaten an der „Baustelle“ nur ausgelacht. Einige von ihnen „bewachten“ die Gratis-Bar, andere hatten sich eine Italien-Fahne umgehängt und schauten den Strandfussballern auf dem Bundesplatz zu. Kein Wunder merkt niemand, was da klammheimlich vorgeht, hat man doch allen im wahrsten Sinn des Wortes den besten Sand Europas in die Augen gestreut. Aus einem Hunderte von Kilometern entfernten deutschen Baggerssee wurden 300 Tonnen feinster Quarzsand
herbei gekarrt (siehe „Bund“ vom 21.06.06). Nun haben wir mitten in der Stadt einen Strand bester Qualität zum Fussball spielen, während ein anderer Fussball das Regieren übernimmt.
Mir graut ja davor, wenn die Leute nach den Sommerferien den leer geräumten Sandsteinfelsen entdecken. Ich hatte sie gewarnt – vergeblich. Auf jeden Fall werden wir eine Grube für den deutschen Sand haben und vielleicht daraus einen Baggersee …
(Falls ihr, liebe FreundInnen aus Deutschland, euren Quarzsand in action sehen wollt: 30. Juni bis 9. Juli am Internationalen Beach-Soccer-Turnier in der Lenk!)
Mo 19 Jun 2006
Bei den meisten Bewohnerinnen und Bewohnern unseres Quartiers rangiert die Ökologie ganz unten; es ist sonnenklar, dass jeder Auto fährt, um die Ozonwerte schert sich nun wirklich keiner. Dass die Tour de Suisse bei uns vorbeikommt, ist auch normal, das schränkt den Verkehr höchstens eine Stunde ein.
Nicht so gestern. Gestern waren den ganzen Tag alle Zufahrtsstrassen zum Quartier gesperrt, weil nämlich Zeitfahren war und wegen der Riesenbaustelle ohnehin extra für die Tour hat geteert werden müssen. Ich habe mich belehren lassen, dass Zeitfahren bedeutet, dass die Fahrer in Fribourg mit einer Minute Abstand starten und einander nicht überholen müssen.
Die Folge waren aus zwei Gründen amüsant:
Erstens blieb mehr Zeit als sonst, den Tour-de-Suisse-Fans zuzusehen. Die gehen nämlich von ehemaligen Rennfahrern, die in Erinnnerungen schwelgen, bis zu geistig Behinderten, die einfach nur tanzen und johlen.
Zweitens musste sich das ganze Quartier zu Fuss bewegen. Mit den Badesachen zum Freibad, mit dem Bier zum gemeinsamen WM-Viewing, mit den Bébés zum Sippenbesuch, noch schnell zum Zigarettenkauf an die Tankstelle und sogar dir Räder mussten geschoben und die Fussbälle getragen werden, damit Jan Ullrich nicht ausgerechnet hier noch etwas in die Quere käme.
Natürlich haben wir mit diesem verkehrsberuhigenden Anlass kein einziges Körnchen Feinstaub eingespart, dafür hat der motorisierte Tross jedes einzelnen Rennfahrers gesorgt:
Sa 17 Jun 2006
Vater fühlt sich gut betreut im Regionalspital, obwohl er die PflegerInnen und ÄrztInnen, hauptsächlich aus Deutschland, meist nicht versteht. Wir Angehörigen versuchen zu übersetzten, erklären, dass es nichts bringt, Vater mit immer lauter werdender Stimme anzusprechen. Wahrscheinlich gibt auch sein Landberndeutsch einige Probleme. Aber irgendwie scheints zu klappen. Man ist froh um jeden Patienten, jede Patientin, denn die Tage der kleinen Spitäler sind aus Spargründen gezählt.
Am Sonntag steht Kalbfleisch auf dem Speisezettel. Ohne Vater! Bewusst hat er noch nie Kalb gegessen. Er weiss, wie gemästet wird, will kein Plätzli vom Kalb. Er wird eine Blätterteigpastete mit Sauce bekommen. Dagegen gibts keine Einwände.
Nachts sitzt er oft auf dem fremden Bett, schaut zum Fenster hinaus auf die bekannte Voralpenkette, deren markanteste Gipfel beleuchtet sind. Letzte Nacht wurde die nahe Grube mit Kies aufgefüllt. Vater hat den Lastwagen zugeschaut, bis er gegen fünf Uhr morgens ein bisschen schlafen konnte. Obwohl sein Sehvermögen abgenommen hat, entgeht ihm nicht, dass die Kühe auf dem „Schnarz“ das Gras abgeweidet haben und nun zu Tal gebracht werden.
Ausser frischer Wäsche brauche er nichts, nur eventuell bei Gelegenheit, es pressiere aber gar nicht und nur, wenns keine grossen Umstände mache, ein Schälchen Erdbeeren mit etwas Zucker und flüssigem Rahm. Die Enkelin und ihr Ehemann waren gerade auf dem Erdbeerfeld und bringen das Gewünschte gleich vorbei. Alle schauen zu, wie Vater, noch ein bisschen zittrig, mit grossem Genuss die Erdbeeren verspeist. Ist das ein gutes Zeichen? Wir erzählen, wie die Kartoffeln und Bohnen in seinem Garten wachsen und wie leer das Haus ohne ihn sei.
„Es kann sich jetzt ein bisschen von mir erholen“, meint er, so, als ob das Haus durch seinen Schmerz auch gelitten hätte.
Fr 16 Jun 2006
An mir erledigen in letzter Zeit viele Leute ihre obligate gute Tat. Nimmt der Billetautomat mein Kleingeld nicht entgegen, streckt mir eine fremde Frau ihr Fränkli vor die Nase. Mag ich im Laden etwas nicht erreichten, hilft mir schon ein aufmerksamer Kunde. Will ich meinen Grossvater im Rollstuhl in ein Büro schieben, kommt mir die Sekretärin mit einem schrecklichen Dialekt dazwischen: „dass ihrem Bäuchlein nichts passiert.“ Als Unschwangere wurden mir nie so viele spontane gratis Hilfestellungen angeboten.
Ich erzählte das meiner Schwester, die sogleich erklärte:
Ich sage meinem Kind stets, wenn du unterwegs bist und jemanden um Hilfe bitten musst, dann frage
1. eine Schwangere,
2. eine Frau mit Kind(-ern),
3. eine Frau,
4. ein Mann mit Kind(-ern),
5. einen Mann.
Mi 14 Jun 2006
Anscheinend gibt es nicht genug ZuschauerInnen für alle Grossleinwände …
Di 13 Jun 2006
Manchmal reichen Kraft und Zeit einfach nicht, meinen Grossvater mit dem ÖV zu besuchen; weil wir etwas zu trasportieren haben oder weil es schnell gehen muss. Heute war ich mit dem Auto dort. Ich war diese Strecke schon lange nicht mehr an einem Werktag gefahren, hatte offensichtlich das Puppenstubenleben schon etwas verdrängt und wurde vom ländlichen Perfektionismus fast etwas überrascht.
Der Start in der Stadt mit den torkelnden Junkies, den Baustellen und den Flanierzonen, wo Senioren und Lastwagen einander unendlich den Vortritt geben, war noch ganz normal. Doch schon am Stadtrand holte ich einen putziger Konvoi aus Briefträgern mit Töffli und gelben Helmen ein, die einer nach dem anderen choreografisch abzweigten, um über saubere Strässchen auf gerade gemähten Hügeln vor aufgeräumten Häusern weisse Briefe abzugeben. Das beliebte Heiratskrichlein Schlatt war zwar eingerüstet, aber die Baufirma verriet mir ihren Namen und ihr Vorhaben auf dezent beigen Planen. Eine glänzend schwarze Katze hatte ihrer glänzend grauen Maus das Genick so sauber gebrochen, dass sie absolut ungestört vor vor mir die Strasse überqueren konnte. Der Traktorfahrer mit den vier Guschti im Anhänger winkte mir nett in der Kurve mit durchzogener Sicherheitslinie, ich dürfe gerne überholen. Die Gärten, die Hecken, die Wäsche, die Miststöcke, die Stallungen, die Grossmütter mit den Körbchen, die Enkelinnen mit den Hütchen, die Beflaggung – einfach perfekt.
Da plötzlich in der Scherli-Au der Bruch. Ein Kehrichtsack am Strassenrand war kaputt gegangen, der ganze Inhalt lag verstreut auf der Hauptstrasse, die Leute standen am Rand und schüttelten besorgt ihre Köpfe. Sollten Sie den gewichtigen Verkehr mit Heu und Veh behindern und aufräumen oder doch lieber warten? Ich bremste auf Schritttempo ab und besah mir den Schaden an der Landschaft durch die Frontscheibe. Und ich sah ungefähr ein Dutzend gebrauchte aber akkurat zusammengeklebte Windeln, vier sauber ineinandergesteckte Plastiktöpfchen wie man sie beim Pflanzenerwerb bekommt, sowie eine komplett ausgedrückte Tube Tomatenpüree und eine bunte Verpackung – vermutlich von einer Kochzeitschrift – dort liegen. Diese Hausfrau bestünde jeden Abfalltrenn-Doppelblindtest. Perfekt.