2006


Über Pfingsten habe ich meinen Kühlschrank abgetaut, denn ich brauche Platz für die M-Toto-06-Snacks und die Hopp- Schwiiz-Pizzakreation. Das ist eine „Familypizza, welche vierteilig daher kommt mit vier Kreuzen aus Tomatenscheiben und Stäbli aus Schweizer Gruyère-Käse…“. Die „WM-Verpackung“ einfach aufreissen und hopp, in den vorgewärmten Schwiiz-Ofen damit.
Ich fürchte, dass wir alle in einem Monat aussehen werden wie Fussbälle, rund und blass mit schwarz unterlaufenen Augen – Fussballengerlinge 06!

Mit meinem Panini-Album bin ich leider noch nicht voll, denn seit einigen Tagen tausche ich nicht mehr nur Bildchen gegen Bildchen. Meine Coiffeuse suchte für ihren Sohn wochenlang erfolglos die Nr. 24. Ich hatte diesen rastalockigen, nicht nominierten Patrick Owomoyela doppelt und schenkte ihn der armen Seele. Dafür bekam ich meinen asymmetrischen Haarschnitt für Fr. 50.-, statt für Fr. 68.-.
Nun versuche ich, mit den doppelten Holländern beim Spengler ein Anschlussrohr für die Waschmaschine einzutauschen. Die Halterung für den Gartenschlauch kostet mich voraussichtlich 1 Hakan. Wie ich allerdings zu Nr. 510 Chung Kyung-Ho komme, ist mir schleierhaft, denn er ist in meinem Tauschrevier rar.
(Den vom „Zauberer zum Experten“ mutierten Alain Sutter werde ich voraussichtlich nicht los.)

Seit Generationen wird in meiner Familie immer alles geflickt. „Zu Ehren ziehen“, nannten meine Eltern das und machten aus der Not eine Tugend.
Eine neue Fliegenklatsche würde 1.50 kosten, aber mein 95jähriger Vater hat diese hier mit einem Stück (uraltem) Hundsleder geflickt. Ich finde das übertrieben!

Zugewehte

Der Wind und die Vögel sorgen dafür, dass auf dem Balkon die unterschiedlichsten Pflanzen spriessen.

Wie immer am Samstag, überquere ich die Strasse mit einem voll beladenen Einkaufswagen. Eine Bekannte, am Arm ihres Gatten, bemerkt:
„Es ist ja ungeheuerlich, wie viel Sie einkaufen!“
Und ich blödes Huhn, wieder einmal könnte ich mich kläpfen, fange an, mich zu rechtfertigen. Ich hätte eben für drei Familien eingekauft, dazu für meinen greisen Vater, dann die Festtage und für den Rest der Woche mit Arbeit ohne Gelegenheit für Kommissionen. Als das Paar sich dem Café zu wendet, beschliesse ich, mich nur noch in äusserst speziellen Ausnahmefällen für meine „Taten“ zu rechtfertigen.

Ich war in Bätterkinden an der Emme in der Landschulwoche. Es war mieses Wetter und es war sehr abgelegen, es gab nicht einmal einen Kiosk. Wir mussten viele Spiele machen, die die Lehrerin und der Lehrer erfunden hatten. Am Schluss machten wir aber eine Disco. Und drei Mädchen aus unserer Klasse organisierten einen Theaterwettbewerb. Sie gaben Anweisungen, welche Rollen vorkommen mussten. Das waren: Rapper/Machos, Streber und Tussis.

Die Mädchen haben mich gefragt, was eine Tussi hat. Ich habe gesagt: Ein helles Handy zum Aufklappen (hatten die Mädchen aber nicht), ein bauchfreies Top (hatten sie auch nicht), sehr enge Hüft-Jeans (hatten sie ebenfalls nicht), deshalb kam die eine Tussi dann im Pyjama, die andere hatte immerhin halbenge Jeans.

Ich und J. haben zwei Rapper gespielt, V. und S. haben die Streber gespielt, J2 und M. waren dann eben die „Tussis“. Neben uns gab es noch drei andere Gruppen mit diesen Rollen.

Ich habe als einziger einen eigenen Rap geschrieben, ich hatte nur acht Minuten Zeit:

du chunsch mi cho disse,
aber chasch di grad verpisse,
du meinsch du bisch dr king,
aber i bi dr boss, fucking,
i mache di fertig,
i nimm di usenang,
motherfuck, haut d’frässe, mann!

Unsere Gruppe hat gewonnen!

Frau M. zählt auf, welche Unterziehleibchen und warmen Strümpfe sie heute anhat. Ich trage Halstuch und wärme die Hände an einer Tasse Hagebuttentee. T. lächelt milde und erzählt, wie er jeden Morgen seinen „Schwumm“ tut. 11° – kein Problem. Erst beim Ausstieg aus dem Becken beginne er zu frieren. Mache dann einen kleinen Lauf bevor er zur Arbeit komme. So etwas von schön und viel Platz im Schwimmbad!
Der Bundesplatz ist heute menschenleer. Dafür sieht es im Untergeschoss des nahen PostCenters aus wie in einem Flüchtlingslager. Alle Stühle sind besetzt. Es herrscht ein munters Treiben zwischen den Gestellen mit Papeterie- und Süsswaren. Auch einige TouristInnen finden hier ein hilbes Plätzchen, essen ihre Brote und fragen nach einem WC.
Frühe Schafkälte oder verspätete Kalte Sophie?

Was hindert meine Mitmenschen daran, die leeren Klorollen aus billigem Karton in den Abfall zu schmeissen? Weshalb stellen sie diese auf den Spülkasten, legen sie auf den Deckel des Abfallkübels, die Spiegelbank, das Lavabo?
Kann es sein, dass solche Wegwerfhemmung mit dem Basteln in der Kindheit zusammenhängt, als aus den Pappröllchen Weihnachts- und Schneemänner, Hexen, Zwerge, Serviettenringe, Muttertagsketten, Pfahlbauten, Eierbecher, Feldstecher, Kaleidoskope „knuzeliert“ wurden?
Der ganze staubfangende Krimskrams ist schon lange weg, aber im Herzen sind wir KloröllchensammlerInnen geblieben –

Ein Dach �¼ber dem Kopf

An der Bushaltestelle unter der Autobahnbrücke steige ich aus und fahre mit dem Lift hinunter zur S-Bahn Station Ausserholligen (SBB/BLS). Die Lifttür ist versprayt, der Boden voller Spucke, das Licht kaputt. Hoffentlich bleibe ich darin nicht stecken, denn noch immer habe ich hier mein Handy-Abo.
Die Haltestelle ist hässlich, mit zwei zwischen Betonstützmauern eingequetschten Geleisen – ein Unort. Kein Mensch weit und breit, dafür eine Infosäule, mit Knopf und einem kleinen Lautsprecher „Hier sprechen“.
Nun rumpelt die Zugskomposition der BLS heran, wie oft an den Samstagen handelt es sich um alte Wagen, deren Besteigung einer mittelschweren Klettertour gleicht. Der Zug kommt in einer Kurve zum Stehen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um per Knopfdruck die Tür zu öffnen. Diese bleibt zu. Als ich mit meinem Gepäck bei der nächsten ankomme, setzt sich der Zug vor meiner Nase in Bewegung. Mit meinem Einkaufswagen, einer Papiertasche und einem Henkelkorb gefüllt mit Sonnenblumen und Kürbisschösslingen mache ich mich fluchend daran, das Postauto ins Dorf auf Umwegen zu erreichen. (Aus Spargründen steht dieses in einer Vorortsgemeinde und fährt seit drei Jahren nicht mehr in die Stadt.)
Um mich ein bisschen zu beruhigen, kaufe ich im Hauptbahnhof einen grossen Becher Kaffee, der nach einer vierten Hand verlangt. Den Korb hänge ich an den Arm, die Papiertasche knüpfe ich an den Einkaufswagen. Wenig unterscheidet mich nun von einer Stadtstreicherin, was die Leute nicht daran hindert, mich mit einem Auskunfstbüro zu verwechseln. (Auch auf mir völlig fremden Bahnhöfen im Ausland werde ich nach Zuganschlüssen, Klos, Postbüros, Gepäckaufbewahrung, usw. gefragt.)
Endlich, wenn auch knapp zur Zeit im Postauto angekommen, belege ich vier Plätze und geniesse den Blick auf die blühenden Bäume unter welchen sich Lamas, Wasserbüffel, schottische Hochlandrinder, Dahmhirsche und einige einheimische Kühe am Wiesenkerbel gütlich tun.
Im Dorf hat man „den Geranium“ vor die Fenster gesetzt und Fahnen und Flaggen gehisst. Auch Vater hat zum grossen Schwingfest das Haus beflaggt. Um Geranien auf den Fensterbänken mag er sich in seinem hohen Alter nicht mehr kümmern. Ich setzte kühn Begonien und Rosenstöcke aus Stoff und Plastik made in China in die Töpfe.
Der alte Mann ist froh, dass sie kein Wasser brauchen. Vor dem einzigen Gasthof des Dorfes übt die Dormusik für ihren grossen Auftritt am Abend.
Ich pflanze die Sonnenblumen und Kürbisse in den Garten, besorge die Wäsche, hole Holz und Späne ins Haus, beziehe Vaters Bett frisch, giesse die Pflanzenrabatte und die echten Blumen vor dem Haus, gebe dabei (natürlich gerne) den vorbeiziehenden Pilgern und Pilgerinnen Auskunft über den Jakobsweg, das Kloster, die Abfahrtszeiten des Postautos, das nächste öffentliche Klo (in der Martinskirche), die Namen der Alpen- und Voralpengipfel, den Wanderweg Richtung Schwarzenburg und das Atelier des bekannten Dorfmalers. Dann kaufe ich ein und bereite das Essen für den Sonntag vor.
Anschliessend steige ich unters Dach auf die Bühne, um die mittlere Fahne, die sich an einem Draht verfangen hatte, zu entwirren.

Schwingfest

Etwas nach 17:00 Uhr steige ich wieder ins Postauto Richtung Stadt. Auf dem „grössten privaten Bauplatz der Schweiz“ pflücke ich noch einen Strauss Margeriten, „Zantihansen“, wie meine Grossmutter sie nannte. Eine Nachbarin kommt und sagt mir, dass sie hier schon lange einen Strauss pflücken wollte, es aber noch nie gewagt hätte. Ich nehme meine Kamera und fotografiere sie zusammen mit den Margeriten, die auch Gemeine oder Weisse Wucherblumen heissen.
Mit dem Gedanken, dass es diese Wiese bald nicht mehr geben wird, ziehen wir beiden Frauen etwas wehmütig vom Feld.
Aus meinem Einkaufswagen riecht es nach frischem Brot. Die Nachbarin hatte mir einen „Kornring“ hinein gelegt.

Kr�¤uter und Paprika
Seitdem die Zeitung aus Spargründen so dünn geworden ist, habe ich bei meinen täglichen Fahrten im Bus Zeit, die ausgehängten Werbungen zu lesen. Hier wollte ich eigentlich etwas über die Unterhosen-Werbung von Till Schweiger schreiben. Diese wurde aber von den Passagieren kaum eines Blickes gewürdigt, denn Tills Kopf sei sowieso auf einen fremden Body montiert.
Mehr zu reden gab das Dar-Vida-Plakat. Die junge Frau sehe süchtig aus, magersüchtig. Sie ernähre sich, kleckernd wie ein Kleinkind, nur von diesen hauchdünnen Krackers, welche dann sicher wieder gek … würden. Viele sagen zu dieser Werbung „wähh“ und gehen sogar so weit, das Produkt nicht mehr zu kaufen.
Solch dezidierte Reaktionen aus jeder Altersgruppe wollte ich der Firma Hug nicht vorenthalten und teilte ihr die div. Meinungen mit.

Ich habe nun folgende Antwort erhalten:

„Guten Tag Frau C.
Besten Dank für Ihr E-Mail vom 24. Mai.
Es tut uns leid, dass Ihnen unsere neue DAR-VIDA
Werbekampagne nicht gefällt.

Das Bild ist ein Spiel zwischen einer perfekt geschminkten Dame und einem überspitzt
dargestellten Mund, an dem Kräuter/Paprika haften geblieben sind/ist.
Die Darstellung ist überspitzt dargestellt und wird auch von vielen, v.a. jungen Konsumenten als solche wahrgenommen. Denn: Niemand will nach dem Essen wirklich so aussehen wie die Damen auf dem Plakat! Mit den Kräutern und Paprika auf dem perfekten Damenmund wird die neue Würzigkeit der DAR-VIDA Produkte dramatisiert – ein übliches Vorgehen in der Werbung.
Werbung ist jedoch Geschmackssache und das Gleiche gefällt nicht allen Menschen.

Nichts für ungut….

Freundliche Grüsse

Irene Bühlmann“

So still wie es im Blogk ist, schreibe ich kurz, was sich gestern morgen, 5:45 Uhr, vor dem Block abgespielt hat. Steht doch tatsächlich ein 14er Bus auf dem Parkplatz. Wegen einer Baustelle in der Nähe musste die Linie umgeleitet werden und der Chauffeur hat die entsprechende Ausfahrt verpasst. Die wenigen Fahrgäste machten ihn auf einen Wendeplatz aufmerksam, welchen er leider auch verpasst hat. So landete der arme Kerl mit seinem riesigen Vehikel in der engsten Sackgasse im ganzen Quartier. Schade, haben alle BewohnerInnen nur geglotzt und keine Fotos geschossen, denn es scheint ein Wunder zu sein, einen Bus vor das Haus zu lenken, wo sich sogar AutofahrerInnen auf eine Millimeter genaue Fahrt verlassen müssen. Wie dem auch sei, die Fahrgäste wurden mit Taxis an ihre Arbeitsplätze geführt und der Chauffeur wartete ungeduldig auf einen Profi-Rückwärtsfahrer, der ihm aus der Falle half. Zum Schrecken des ehemaligen Hauswarts und zur Freude des jetzigen Hauswarts wurden alle Parksteine dafür verschoben, dass der tonnenschwere Bus wieder auf seine Linie kam. Am Dienstag schickt dann die Stadt einen Kran, um die Unordnung wieder aufzuräumen. Köstlich. Und all die Sprüche und Vermutungen, die da ausgetauscht wurden. Ja, das Missgeschick liess einen Moment Leute miteinander reden, die sich sonst nicht viel zu sagen haben.

Ich weiss natürlich, dass Marian recht hat, wenn er schreibt, die Berichterstattung in den Medien reiche nie aus, um sich ein Urteil über ein Urteil zu bilden. Trotzdem hat mich diese Meldung im heutigen Vermischten aufatmen lassen:

St. Gallen: Eine 21-jährige in der Schweiz lebende Türkin hat nach einer Zwangsheirat, die sie nicht akzeptiert hat, Todesdrohungen erhalten. Die St. Galler Behörden nahmen ihren Vater sowie den Ehemann vorübergehend in Untersuchungshaft. Die beiden wurden inzwischen ausgeschafft.

Die Türkin habe vor rund zwei Wochen Strafanzeige wegen Drohung und Nötigung gegen ihre Eltern und ihren Ehemann erstattet, teilte die St. Galler Kantonspolizei mit. Gemäss bisherigen Erkenntnissen sei sie vor rund einem Jahr in der Türkei zwangsverheiratet worden. Nach der Rückkehr in die Schweiz habe ihre Familie von ihr verlangt, alles Nötige für die Einreise ihres Ehemannes zu veranlassen. Anfang April sei der Türke über den Familiennachzug in die Schweiz eingereist. Die zwangsverheiratete Ehefrau habe sich jedoch geweigert, die Ehe mit ihm zu leben. Darauf sei es offenbar zu Todesdrohungen von Seiten des Ehemannes sowie zu Nötigungen durch Familienangehörige gekommen.
Staatsanwaltschaft und Ausländeramt des Kantons St. Gallen hätten diese Drohungen sehr ernst genommen, zumal der Ehemann in seiner Heimat wegen eines gravierenden Gewaltdelikts vorbestraft sei. Nichtgelebte Ehen würden in fundamental-islamischen Kreisen als schwere Verletzung der Familienehre angesehen. Gewisse Kreise sähen im so genannten Ehrenmord die einzige Möglichkeit, die Ehre wieder herzustellen.
Die Staatsanwaltschaft nahm deshalb den Vater der Strafanzeigerin sowie den Ehemann in Untersuchungshaft. Die beiden wurden danach in die Türkei ausgeschafft und mit einem Verbot belegt, die Schweiz in den nächsten Jahren zu betreten. Ziel der Massnahmen sei einerseits die Sicherheit der Strafanzeigerin. Anderseits soll auch klargestellt werden, dass Verletzungen schweizerischer Rechtsnormen nicht tatenlos hingegenommen werden, hiess es.

Vor allem das mit den schweizerischen Rechtsnormen hat mir gefallen, weil mich das Thema Erziehung durch Rechtssprechung durchaus beschäftigt. Ich weiss auch aus Erfahrung, dass sich Urteile herumsprechen und sich ihre Wirksamkeit oder Unwirksamkeit potenziert, was aber kein Gericht dazu verleiten sollte, Urteile hauptsächlich als Exempel zu sprechen.

Das häufigste Beispiel für die Ignoranz des Rechtstaates betrifft wohl schon die Artikel im Zusammenhang mit Familienverhältnissen. Für eine Zwangsehe brauche ich nur vier Stockwerke runter zu gehen. Und wir kennen alle viele Frauen, die nicht einmal wissen, dass ihnen die Hälfte der Pensionskasse des Mannes gehört und die einfach alles unterschreiben. Als meine Schwester gestern eine Albanerin aus der Familie ihres Mannes fragte, wer sie zur Geburt ihres ersten Kindes begleiten würde, meinte diese trocken, ihr Mann würde sie hinfahren, aber ihr vor dem Spital einen Tritt in den Hintern geben und sie den Rest alleine machen lassen.

Endlich aus den engen, inzestuösen Tälern rausgekrochen, erlebt die urbane Schweiz ihre eigene Geschichte noch einmal. Dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Wenn die Braut der (in unserem Falle kosovarischen) Familie genehm ist, wird man verwandt. Wenn sie nicht genehm ist, dann nicht. Also ist die Schwiegermutter meiner Schwester nicht die Schwiegermutter meiner Schwester, der Schwiegervater nicht der Schwiegervater, Schwager und Schwägerin sind nicht Schwager und Schwägerin und deren Kinder Tante könnte meiner Schwester niemals sein. Kein Zivilgesetzbuch der Welt kann etwas daran ändern, das gestehen sie ganz unumwunden.

Sieglinde

Die Idee vom Migros-Magazin, alle 32 WM-Teilnehmernationen durch eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter vertreten zu lassen, fand ich äusserst unterhaltsam. Dass sie aus jeder Nationen eine oder einen gefunden haben, ist trotz Multikulti-Schweiz erstaunlich.

Vielleicht war das ja die Chance für die Dame von der Elfenbeinküste, in der Jowa-Bäckerei unterzukommen. Für Trinidad und Tobago konnte allerdings nur eine Kundin gewonnen werden, offensichtlich ist es nicht einmal dem charmanten Chefredaktor Hans Schneeberger gelungen, ihr die allerletzte Stelle im Kühlhaus schmackhaft zu machen.

08.08.2018: Leider funktionieren die Links dieses Beitrags nicht mehr. Dieses M-Magazin gibt es nicht online.
Zur Erklärung:

Das Migros-Magazin vom 15. Mai ist einem einzigen Thema gewidmet: der Fussball-Weltmeisterschaft, die am 9. Juni in Deutschland beginnt. Aus diesem Anlass erscheint die Zeitung mit 32 Titelbildern; sie zeigen 30 Migros-Mitarbeitende und zwei Kunden aus den verschiedenen WM-Teilnehmerländern.
Rund 80’000 Menschen arbeiten in der Migros, rund 100 Nationen sind in der Migros-Gruppe vertreten. Dieser Tatsache trägt die Redaktion des Migros-Magazins mit der nächsten Nummer, die am 15. Mai in den Briefkästen und in den Migros-Filialen liegt, Rechnung: 30 Mitarbeitende und zwei Kunden aus den 32 WM-Teilnehmerstaaten werden in Wort und Bild porträtiert. Natürlich jeweils in den Originaltrikots ihrer Nationalmannschaft.
Mehr noch: Die deutschsprachige Ausgabe des Migros-Magazins wird mit 32 verschiedenen Titelbildern erscheinen, die nach dem Zufallsprinzip im gesamten Wirtschaftsgebiet der Deutschschweizer Genossenschaften verteilt werden.

Diese Unmengen „Ab“-Wörter!
Kein Wunder, will der Hauswart nicht „Abwart“ heissen, wenn ihm dabei
Abfall,
abwerten,
abschiessen,
Abfluss,
abscheulich,
Abwasser,
abartig,
Abort,
abdanken,
abhauen,
Abführmittel,
abstürzen,
abbruchreif und
abgelebt in den Sinn kommen.

Endlich habe ich richtig mit der entlassenen Quartier-Keramikerin reden können. Sie arbeitet ein paar Stunden in der Tagesschule und hat eine Weile bei einem Unternehmen putzen können, das seit letzter Woche leider auch Konkurs ist. Für den mickrigen Rest stempelt sie. Heute schrieb sie eine Bewerbung für eine Stelle als Garderobiere im Stadttheater. Die Erwartungen des RAV-Betreuers sind katastophal daneben, er will die Keramikerin kurz vor der zweiten Star-Operation an einen Bildschirm setzen und telekommunizieren lassen. Bingo.

Wir unterhielten uns also vor dem Block stehend über Sozialschmarotzer und all die Scheininvaliden, die uns zwar nie begegnen aber von denen wir dank Blick wissen, dass es sie gibt (O-Ton heute: „BLICK deckt auf: Das fidele Leben unserer IV-Rentner in Thailand“), da hinkte uns eine einsame Alkoholikerin entgegen. Sie sah furchtbar vernachlässigt aus, ihre Kleidung war rudimentär und schmutzig, ihr offenes Bein schlecht verbunden. Sie winkte unsicher, stellte sich leise vor (Name, Hausnummer, Stockwerk) und sagte scheu: „Ig bruuche es Päckli Teigware…?“

Es war klar, dass ich hier weiterhelfe, die stempelnde Keramikerin hat ja selber nichts, mit dem sie Vorräte für suchtkranke Nachbarn anlegen könnte. Weil ich Zweifel daran hatte, dass sich die Frau noch lange aufrecht halten würde, klingelte ich rasch 3rd und bat ihn, die Teigwaren herunterzubringen. Er ist nicht der Typ, der bei derlei Bitten lange nachfragt, er tanzte zackig mit einem Paket bunter Penne an. Die Frau stahlte, sie wollte unbedingt, dass ich ihr Fränkli annehme – aber ich konnte nicht. So gab sie es 3rd, der sich höflich bedankte. Worauf auch sie sich bei ihm bedankte. Sie drückte das Zellofanpäcklein glücklich an sich, warf uns eine Kusshand zu und schwankte von dannen.

Als der in der 72. Minute eingewechselte Belletti in der 81. Minute 2:1 schoss, begannen die stolzen Italiener Brasilianer mit ihrem Erdbeben, das ich erst gar nicht zuordnen konnte. (Inzwischen ballern alle Fussballfans um den Block.)

Als der aus tiefstem Schlaf aufgetorkelte 3rd mir müde mitteilte, es sei Champions League Final und der Lärm wohl die Barca-Fans, wusste ich, dass wir hier während der Fussballsaison einen Terroranschlag erst viel zu spät als solchen erkennen würden.

Als der Unaufgeklärte aus dem Balkon schrie, er reiche ihm jetzt endgültig, hoffte ich, er möge erhört werden. Johlen ist ok, aber diese Bomberei hasse ich einfach. Schlägereien auch, aber da ist heute keine Gefahr, die paar zerquetschten Arsenal-Fans hier halten sich versteckt bedeckt und weinen still.

Wenn jemand erfährt, dass meine Schwester einen gebürtigen Kosovo-Albaner geheiratet hat, dann ist meistens die erste Frage, wie es denn so gehe mit ihm. Ich nehme das gelassen, es interessiert die Leute halt, wie andere mit Behinderungen leben. Ich sage dann jeweils, es gehe gut und da er Schweizer sei, habe er keinen Ausweis gebraucht und die Heirat wäre rein freiwilliger Natur gewesen.

Wenn meine Schwester und mein Schwager im Schwangerschaftskurs sitzen, ist es für mich nachvollziehbar, wenn sie gefragt werden, ob er Berndeutsch verstehe und welchen kulturellen Hintergrund er habe. Wer weiss, vielleicht hatten die Veranstalterinnen ja auch schon schlechte Erfahrungen und von Dammschnitten überforderte Muslime am Rande der Ehrverletzung.

Wenn sie in der Woche darauf noch einmal das Gleiche gefragt werden, überlege ich allerdings, ob es der Kursleiterin nicht eventuell möglich wäre, sich einen kleinen Notiz zu machen? Und ob ich vielleicht für den nächsten Kurs ein Band besprechen sollte: „Jawohl, er ist im Kosovo geboren. Sein Vater ist Gastarbeiter hier, konnte aber die Familie erst mit Kriegsgrund zu sich holen, deshalb kam er erst später in die Schweiz und spricht mit Akzent. Ja, er versteht immer noch Berndeutsch. Ja, er hat Arbeit. Ja, er kann sich auch vorstellen, eine Tochter zu bekommen. Ja, er besucht diesen Vorbereitungskurs aus Interesse. Ja, er kann lesen und schreiben und sprechen.“

Wenn der Hauswart, der den Job vor meinem Schwager hatte, der Hausverwaltung eine Beschwerde schickt, in der unter anderem steht:

Herr [gemeint ist mein Schwager, Anm. 2nd, female] hat grosse Mühe (wohl durch seinen kulturellen Hintergrund) eine unparteiische und korrekte Verhaltenslinie den Mietern gegenüber zu führen. Dies zeigt sich z.B. bei Fehlverhalten von Mietern. Dies zeigt sich auch in der Waschküche. Die geregelten Waschzeiten werden kaum mehr eingehalten und in den Trockenräumen wir die Wäsche noch nach 3 Stunden nicht abgehängt. Es walten Willkür und Chaos.

dann nehme ich an, der Vorgänger sei eifersüchtig, weil mein Schwager als Hauswart sehr viel sauberer, fleissiger, nüchterner (null Promille) und daher sehr viel beliebter ist.

Wenn an der darauf folgenden Sitzung meines Schwagers bei der Hausverwaltung die Sachbearbeiterin meldet, sie hätte auch schon viele Klagen gehabt, weil mein Schwager „immer mit den Jugos schwatze, aber für die Schweizer kaum ein Wort übrig habe“ und wenn sie sich nicht scheut, die Bezeichnung im weiteren Gesprächsverlauf zu brauchen, dann ziehen sich meine Eingeweide doch langsam zusammen.

Mein Schwager wurde seit seiner Kindheit öfter als „Jugo“ beschimpft als er zählen kann. Wie viele Kosovo-Albaner hatte auch er sich eine zweite, italienische Identität zugelegt. Und er verlor nie die Contenance, auch hier nicht.

Doch eine Sitzung mit dem Arbeitgeber ist nicht privat sondern gilt als öffentlich, Antirassismusgesetz wie Gerichtspraxis sehen das so. Und „Jugo“ ist ein Schimpfwort. Die Frau hat es wohlweislich nicht gebraucht, um meinen Schwager direkt zu bezeichnen.

Wie die meisten Rassisten hat sie gerochen, dass sie damit ins Messer gelaufen wäre. Und zwar nicht in das, das die „Jugos“ sowieso immer mit sich tragen, sondern in meines. Ich bin nämlich sofort bereit, sowohl die Gewerkschaft wie Justita mit dem Fall zu beschäftigen. Und ich kann sehr mühsam sein.

Ich freue mich schüüli auf den Muttertag und hoffe, dass mir das Kalb auch einen zerzausten Tulpenstrauss bringt. Natürlich habe ich den Swiss-milk-Wettbewerb gemacht, denn ich will unbedingt zwei Herztassen gewinnen. Vielleicht haben ja meine Kinder ihn auch gemacht und ich erhalte dann noch mehr Herztassen mit Kalb. Das wäre schön, so ein Dutzend Herztassen. Ich könnte das ganze Jahr hindurch Herztassen putzen, dort, wo sich die Rückstände der Swissmilk ansetzen. Als fleissige Mutter hätte ich auch 2007 einen Tulpenstrauss verdient, hoffentlich dann überreicht von einem Simmentalerfleck. Diese schwarz-weissen Freiburgerschecken sind nicht mein Geschmack und ich finde, dass endlich einmal die Berner drankommen sollten!! Die machen ja schliesslich auch Milch und können auch tanzen und schutten!

Handwäsche

Pro Jahr spreche ich viermal mit meinem Nachbarn zur Linken. Ich weiss, das ist wenig, hängt aber keinesewegs mit der vielzitierten Anonymität im Block zusammen. Herr J. kann den Zeitpunkt unserer saisonalen Plauderei selber auswählen. Dazu beugt er sich gefährlich weit über die Balkonbrüstung und erteilt mir Ratschläge, wie ich meinen Balkon klinisch rein und frei von jeglichem Unkräutlein halten könnte.
Auf seiner Terrasse nimmt er jeden einzelnen Verbundstein aus dem Splitterbett, fegt ihn mit Schmierseifenwasser und einer weichen Bürste. Den Splitter schaufelt er in ein Löcherbecken, wäscht die Steinchen einzeln, passt auf, dass er dabei nicht ein Sämchen Unkraut übersieht und setzt das Ganze in nächtlicher Fleissarbeit wieder zusammen. Auch seine Kupfervögel auf dem Geländer pflegt er sorgsam, kontrolliert besonders die Halterungen, denn er möchte nicht, dass jemandem aus 40 Meter Höhe ein Rabe oder eine Wildente auf den Kopf fallen.
Heute kam er zurück von den Kanaren. Es war dort windig und sehr warm.
Aber nun muss er sich wieder ans Steinewaschen machen, ist sichtlich enttäuscht, dass ich seine bewährte Methode der ökologischen Unkraut- und Schmutzvertilgung nicht übernehmen will.
Auf meinem Balkon gibt es ca. 1800 Verbundsteine!

Die Bernerrote
Bild:g26.ch

In den vergangenen 400 Jahren hat sie sich beispielhaft integriert, ist eine von uns geworden, eine Einheimische. Man sieht ihr die wilde Südafrikanerin nicht mehr an. Ihr Duft, sie liebt besonders die Fensterbänke, löst feindselige Spannungen. Ihre Anwesenheit wirkt antidepressiv und günstig auf die Finanzen. Natürlich ist sie elegant, klassisch ohne Kinkerlitzchen, ja, ein bisschen melancholisch. Meistens zeigt sie sich in Rot, Feuerrot oder Bernerrot, denn Bundesbern hält viel von Tradition, und als Eingewanderte hat sie sich dieser verpflichtet. Ihre Stärke ist ihre Anspruchslosigkeit. Ausser Wasser und am Anfang der Saison einen Hauert-Kegel braucht sie nichts, nicht einmal besonders viel Liebe.
Sie passt überall hin: ins Landschloss, in den Stadtsitz, auf den Brunnentrog, in den Kreisel, auf den Bahnhofplatz und den Block-Balkon.
Eigentlich ist sie die ideale Integrierte:
die Geranie.
Heute ist Graniummärit!

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