Alles oder nichts


An der Sonntagsschule gefiel mir besonders die Schuhschachtel der Sonntagsschullehrerin Frau Strahm. Wer am meisten Bibelsprüche, angefangen bei A möglichst bis Z, aufsagen konnte, durfte sich daraus ein Geschenk auslesen: Federhalter, Bleistift, Gummi, Notizblock oder als Superpreis ein Fläschchen schwarze Tusche. Ich erhielt die Tusche. Die Sprüche hängen seit Jahrzehnten wie Kletten an mir, und es kann gut sein, dass ich als Greisin wieder ein biblisches ABC aufsagen werde und dann die Tusche aus der Trucke will.
Heute kam ich aus dem Garten mit einem Armvoll erster Rhabarberstängel. Beim Lift begegnete mir eine Bewohnerin, die bei der Hetze gegen meinen Schweigersohn, dem damals neuen Hausmeister, kräftig mitmischte. Wir haben damals alle sehr unter diesen Verleumdungen gelitten.
„Oh, dieser schöne Rhabarber! Wir lieben Rhabarber! Rhabarberkuchen, Rhabarberschnittli, Rhabarberkompott. Ich habe gesehen, dass in Ihrem Garten viel davon wächst. Bevor Sie sie dann wegschmeissen, kaufe ich Ihnen ein paar Stängel ab.“ „Hier, bitte, nehmen Sie diese.“
„Danke, ich gehe und mache schnell ein Rhabarberchuechli. Gehen Sie nur zuerst in den Lift. Sie müssen ja bis in den Sechzehnten.“
Das Chuechli wird auch der Tochter der Nachbarin schmecken, welche meinem Schwiegersohn Zettel mit Beschimpfungen an die Wohnungstür klebte.
Ja, Gottfriedli, was sagt das Buch der Bücher dazu? G-eben ist seliger denn Nehmen? Nein, treffender mit Salomo unter W:

Wenn dein Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.

Es gibt auch Hitzeunempfindliche, damit muss gerechnet werden.

Erste Ernte

Aus dem eigenen Winterbeet ein paar Schritte vor dem Block soeben geerntet.
Einziger Dünger: die Komposterde, die hinter dem Haus von den freiwilligen
Helferinnen und Helfern seit Jahren hergestellt wird.

In den 70er Jahren nervte ich mich total, …

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Faden weiss

Wysse Fade mit Strickliseli, Stoffchride, Perle, Zickzackschäri

Rede ni öppe vo früecher, wiu i im Gägesatz zu „für hüt“, no besseri Wort meine zfinge?
Kompliziert- Item.
Das me im Fadechörbli muess Ornig ha, isch mir scho früech igimpft worde.
So, wie me gäng e früsche Naselumpe sött bisech ha
u ja nie us em Huus i dräckige Ungerhose.
In Wyss ha ni Sidefade, Elastigfade, Verwäbfade, Polyesterfade,
Bouelefade, Stärnlifade,
Cordonnette für d’Chnopflöcher, Fächtli für ds Wullige.
Nachhär gits ja no die vile Spüehli in de verschidene Farbe.
Bi re settige Vielfalt mues me eifach Ornig ha.
Im ene Chörbli oder Schublädli isches ja no eifach, Chnüpple z’vermide
u mi cha froh si, me me kes Gnusch im Hirni-Fadechörbli het.
Schön wärs, we me aus Kaputtnige chönnt ufrumme
wie nes Fadechörbli.
Hüt nime ni wider einisch d’Näimaschine füre. I näie weniger als früecher,
spare z’Flicke uf, bis es es Bigeli git.

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„Wüste wechselt mit Wüste, denn Wüste ist nicht gleich Wüste. Die zehn verschiedenen Wörter dafür haben einen Sinn, einen je eigenen. Derjenige vom Leer- und Freisein, von der -losigkeit ist der häufigste: weglos, pflanzenlos, schattenlos, etwaslos. Steine sind immer da, oder Sand, als Ebene oder als Berg. Und solange Berge da sind, kann sich das Auge erholen. Es stösst an Grenzen, an Barrieren, wechselnde, kann etwas hinter der nächsten Bergnase erwarten. Einen Baum vielleicht, eine Akazie, eine weitere Bergnase oder ein Wadi mit immensen aufragenden Felswänden, die langsam von der Zeit zerbrochen werden, an ihr zerbrechen. Vorläufig umfangen sie noch einen Einschnitt, auf dessen Grund eine kämpferische Flora existiert, die den Bedingungen ein karges Leben abringt. Dazwischen dünnes Vogelpiepsen und ein paar Esel, die da gemeinsam umherstreifen, um die Nähe eines Brunnens wissend.

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Wörterchaos aus den Nachrichten:

Kein Grund zur Sorge, weder für Kärnten,
die Schweiz, noch für Deutschland
„Eine ungewöhnlich aussergewöhnliche Situation“, sagt Frau Merkel
Höchst unwahrscheinlich, dass wir 3000 km entfernt betroffen sind
Was ist mit den Partikeln, die in den Jetstream gelangen
Zehn Blöcke Kernschmelze
„Zeitfenster zur Hilfe für Verschüttete schmelzen“, sagt die NGO-Beauftragte für die EU-Länder
Statt Musikantenstadel Nachrichten
Journalist in Tokio meldet „Zehntausende kontaktabgebrochene Menschen“
Stoische Würde der Japaner
Reisewarnung von auswärtigen Ämtern
Vorläufig noch keine Tabletten einnehmen!

Auf dem Helvetiaplatz

„Es sind sicher die Libyer“, meint mein Kollege, als Rufe von Demonstrierenden
durch die Herrengasse zu unserem Fenster hinauf schallen.
Auf der Kirchenfeldbrücke reihe ich mich dann aber ein in einen Strom von Tibeterinnen und Tibetern.
„Aufstandstag“ sagt mir eine Frau, als ich sie nach dem Grund
dieser Zusammenkunft frage.

Fahne mit Kailash und Schneeloewen Recht auf Reise in den Tibet
Im Festtagsrock mit Falte Mantel mit tiefer Seitentasche

Etwas Rotes ist immer dabei und steht u.a. für Treue, Tapferkeit und Verbundenheit.

Tashi Deleh – Möge es dir wohlergehen

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Mutter mit der Tasche

Johanna Bertha Schenk mit der Tasche

Zum 100. Internationalen Frauentag die kaum je erwähnten Namen der
angeheirateten Frauen in der direkten Linie meines Vaters:

Barbara Gosteli, ? – ?, verheiratet am 6. Juli 1708
Maria Schärer-Sollberger, 7. Januar 1725 – ?
Maria Häfliger, ? – 3. April 1828
Anna Wahli, 29. April 1803 – 14. August 1869
Anna Elisabeth Rüfenacht, 3. Juli 1831 – 12. Februar 1902
Elise Pfeiffer, 21. Januar 1887 – 25. Oktober 1948
Johanna Schenk, 30. August 1922 – 10. Januar 2006

Gerade hats nicht gereicht für unsere Kandidatin in den Ständerat. Mehr als schade! Ob das Resultat mit den Stimmen der Auslandbernerinnen und -berner (denen nicht genug Zeit blieb, an der Stichwahl teilzunehmen) ein anderes gewesen wäre, bezweifle ich, denn die Bernischen im Ausland sind meist vom Land. Solche knappen Wahlausgänge stimmen mich immer trist.
Erfreuliches ist aus der jungen Generation unserer Familie zu melden:
Das Dessert-Kochbuch von „unserem“ Pâtissier wurde zum weltbesten des Jahres 2010 gekürt.
Herr und Frau Pâtissier, meine herzlichsten Glückwünsche!

Hier ein kurzer Blick ins Atelier

Frau Moser überlässt das Frühlingserwachen dem Lieben Gott. Er ist’s, der die verschrumpelten Blätter der Schlüsselblumen aufrichtet, die leuchtend roten Rhabarberknöpfe und die Knospen des Feuerbusches treiben lässt. Weil’s im Garten vorerst nur zu güggelen gibt, greift Frau Moser, entgegen den ärztlichen Vorschriften, zu den Stricknadeln und lismet ihre Söhne und deren Söhne ein.
Die schrägen Holztüren über den Treppen der Kellerläden in der Altstadt sind wieder geöffnet. Gerade erfasst ein kühler Wind eine Reihe grossblumiger Hemden auf Bügeln, und der alte Magnum braust mit offenem Verdeck über die Vollkornbrücke. Am Theaterplatz werden die Abflussrohre gereinigt. Die Gärtnerin an der Ecke stellt eingetopfte Riesenprimeln, deren Stängel silikongespritzt aussehen, auf eine Bank.
Zwei Tauben streiten sich heftig um ein …

futterneid

…Buttergipfeli.

Solche Zänkereien werden bald der Vergangenheit angehören, denn seit kurzem haben die Berner Tauben eine Taubenmutter, welche diesem Federvieh ein bisschen Anstand beibringen wird, schon wegen den Touristen. Der Ustig hält auch im „Westside“ Einzug in der Person von Detlef D! Soost samt seiner Missen-Entourage – geht’s euch allen gut, coole Sache.
Nun sollten Sie auch die Blutreinigungskuren starten. Mein Vater schwörte auf einen Sud aus frischen Tannensprossen. Es funktioniere aber auch mit Schafgarbe, Brennessel oder Spitzwegerich. Mir wurde der Tee aus Olivenblättern empfohlen, stärke u.a. das Immunsystem und beuge Virenerkrankungen und Pilzbefall vor. Olivenblätter habe ich in den umliegenden Drogerien und Apotheken noch keine gefunden.
Um bei all diesem Erwachen, Auftauen, Spriessen und neu Anfangen nicht allzu unnütz in der Gegend herum zu stehen, beschliesse ich, selber ein Tee zu werden. Wer will, kann bei mir so nach Herzenslust den Kropf leeren, auspacken, ausspucken, was sich in harten Wintern an Ballast angesetzt hat. Scheuen Sie sich nicht, persönlich zu werden! Ich garantiere ein offenes Ohr und Reinigung pur. Schafgarbe, Nessel und Spitzwegerich können Sie für dieses Jahr vergessen.

Blogk rechnet jetzt laufend das Alter der Blogk-Bewohnerinnen und -Bewohner. Ein weiterer Hinweis darauf, dass wir den Tag pflücken sollten. Thank you, 2nd, male.

februar
gaukelfrühlinge narren
schneefall stellt richtig
wir flicken rissige wörter so können sie lange noch halten
(lang genug für uns)

aus: Der Traum, geboren zu sein von Kurt Marti

Deine Mutter

Wegweiser (Deine Mutter) aus der neuen Serie „Lokale Sicherheit in unserer Stadt“
Idee: Reto Nause in Zusammenarb. mit Alexander Tschäppät

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… noch gerührt geräuchert

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Schweizerische Frauenstimmrechts-Schnecke 1928

Ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich in der vergangenen Woche nie auf dieses Jubiläum angesprochen wurde. Im Gegensatz zu unzähligen Frauen, die sich noch nach Jahrzehnten an allerkleinste Details erinnern …

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Man backt früh morgend Vollkornbrötchen auf,
kocht spät abends ein Schübeli Hörnli, sammelt Zeichnungen ab dem
ersten Gekritzel in einen Ordner,
klebt dem Puppentisch, den man eigentlich entsorgen wollte, das Bein wieder an,
lobt Kleinesbübchen, wenn es die Lavettchen

… neu ordnet.

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Ich war letzte Woche bei der Dentalhygienikerin, die dieses Mal ein Dentalhygieniker war. Er stellte sich vor und erzählte mir, meine Dentalhygienikerin mache ein Austauschjahr in den USA und werde beim nächsten Mal wieder für mich da sein. Ich hörte seinen merkwürdigen Akzent, las nochmal sein Namensschild und konnte ihn doch nicht schubladisieren. Nachdem er mir eine ausgezeichnete Behandlung hat angedeihen lassen – was bei mir nicht einfach ist, weil meine Zähne es nicht sind -fragte ich ihn dann doch, woher sein Name stamme? „Aus Iran“ antwortete er. Und da ich ja zu den Unbelehrbaren gehöre, die Zuwanderung nötig finden, erkundigte ich mich noch, ob er schon länger hier sei und was er plane, wenn die Stellvertreung auslaufe? Er sagte, er sei nun acht Jahre in der Schweiz und vorher in Skandinavien gewesen und wie es weitergehe, werde sich weisen. Acht Jahre schon, entgegnete ich, dann sei es wohl zu spät, ihn willkommen zu heissen und zu fragen, wie es ihm gefalle hier. Oh, nein, nie zu spät, meinte er strahlend, ich sei die erste, die frage. Und also redeten wir, bis die nächste Klientin kam.

Eigentlich wüsste ich es ja, es schreit mir von Plakatwänden und aus Schlagzeilen entgegen: In der Schweiz muss jeder permanent dankbar sein, dass er sich überhaupt auf unserem helvetischen Boden bewegen darf. Und sobald er nur ein bisschen dazugehört, hackt er auf den nächsten ein, der neu kommt. Nur Touristen werden gefragt, ob und wie es ihnen hier gefällt.

Die einfache Regel, dass das Verhalten von Gastgebern und Gästen auf Gegenseitigkeit beruht und dass einer von beiden in Güte anfangen muss, was in Minne weitergehen soll, kennt jeder. Schliesslich wird sie von der Odyssee, dem Nibelungenlied, der Bibel, vom Talmud und Koran seit jeher vermittelt und mit apokalyptischen Beispielen von Fehlverhalten illustriert. Was nur hindert hier und heute die simple Anwendung?

Dass ich nun vor meinem Garten ins Tram ein- und zweiundzwanzig Minuten später vor meiner Bürotür aussteigen kann, ist bequem. Seitdem Kartoffelacker und Maisfeld in Berns Westen überbaut sind mit niedrigen Blöcken im Einfamilienhauslook, treffe ich auf meinem Arbeitsweg kaum mehr ein bekanntes Gesicht. Ungestört kann ich Zeitung und Bücher lesen. Allerdings sind auch die Alltagsgeschichten, die tragischen, unglaublichen, skurrilen, fantastischen, weg. Wer morgens auf dem Arbeitsweg seine Ruhe will, hat sie nun. Mir fehlen sie, diese Geschichten, direkt aus dem prallen Leben gegriffen. Nein, weg sind sie nicht. Sie müssen weiter erzählt werden, z.B. in der Quartierbeiz.
In kürzerster Zeit erhält man da ungefragt u.a. eine Zusammenfassung der bös- und gutartigen Gewächse, welche alle auf -om enden. Keine Buchweisheiten, alles erlebt und erlitten in der nächsten Nachbarschaft. Da wird ein langjähriges Om aus dem Kopf einer Frau operiert, ohne ihr im wahrsten Sinne des Wortes ein Härchen zu krümmen. Das Wunderwerk vollbringt ein Schönheitschirurg in einer knappen Stunde. Die Patientin fährt anschliessend mit dem Zug nach Hause.
Oder man entfernt einen Magen, eine Schilddrüse, eine Gebärmutter oder „Du-weisst-schon-was“ bei Hans oder Werner. Zum Glück überleben die meisten. Klar ist es heikel, danach all die Medikamente einzustellen.
Einige der Genesenen sind nach der Krankheit dickköpfig geworden, wollen nicht mehr aufs gut Gemeinte hören, dabei könnten sie sich doch so gäbig günschtig erholen in der kleinen Pension aussersaison in Venedig. Aber nein, da nützt alles Zureden nichts.
Nur die alte Katze von Frau Kessler hat das Zeitliche gesegnet, ist ihrem Herrchen in den Himmel voller Tennisbälle gefolgt. Frau Kessler ist froh und hat das gehasste Tier kremieren lassen. Die reiche Tochter ist extra aus Gstaad angereist und hat das Ürnelchen in Frau Kesslers Garten beigesetzt.
Letzten Samstag wurde Frau Roth auf ihrem nächtlichen Heimweg überfallen und beraubt. Wie oft hatte ihr Ex schon gesagt, sie solle die Beiz früher schliessen und die paar angeleimten Süffel vor Mitternacht spedieren. Aber nein, Frau Roth hat halt ihren eigenen Kopf und die Beiz gehört ihr. Aber das muss sie nun büssen, das Samstagsgeld ist weg, dafür viele blaue Flecke auf Gesicht und Beinen und immer noch keine sachdienlichen Hinweise. Selber schuld.
Wollt ihr wissen, wie ein dubelisicherer Überfall geht? Tatort: Neue Fussgängerunterführung beim Bahnübergang. Mann/Frau schaue auf den Fahrplan, warte im Auto mit laufendem Motor vor der geschlossenen Barriere, hechte kurz bevor der Zug die Strasse überquert, die Treppe hinab in die Unterführung, entreisse einem überraschten Passanten, einer Passantin die Tasche (mit Migroseinkauf oder Geld von der nahen Post/Bank). Der Lärm des Zugs erstickt eventuelle Protestschreie. Dann zurück ins Auto und unter der sich öffnenden Barriere durch nichts wie weg.

Zum zweiten Mal in den vergangenen Tagen werde ich von einem Kundenberater „meines“ Netzbetreibers angerufen. Auch heute meldet sich der Mann nur mit dem Firmennamen. Die Verbindung ist schlecht.
(An dieser Stelle habe ich schon vor Jahren geschrieben, dass man bei einem solchen Anbieter besser nicht ins Senkloch fallen sollte.)
Ich: „Entschuldigung, ich habe Ihren Namen nicht verstanden. Sind sie Herr Andres?“
Mr. Sun: „Nein, ganz …. nicht!!“
Ich: „Ich verstehe Sie sehr schlecht.“
Mr. Sun: „…. Sie sehrg…“
Ich: „Laut vorliegendem Vertrag kann ich mein Abo auf Ende des Monats kündigen.“ (Ich lese entsprechenden § 8 vor.)
Mr. Sun: „Benutz…Sienie….Intern….? ….brauch….uns?“

Den Gesprächsfetzen entnehme ich, dass mein Vertrag noch ein Jahr weiter läuft und ich, falls ich auf einer Kündigung bestehe, Fr. 250.- Busse zu zahlen habe.
Wahrscheinlich habe ich eine ganz grüne Nuss am Draht, und das Gespräch wird erst noch aufgezeichnet.
Kein Problem, ich bringe das Band schon voll. Sicher wird es zu Lehrzwecken unbrauchbar sein, denn das Gähnen am anderen Ende ist unüberhörbar.
Heiser entschuldige ich mich bei mir selber, dass ich diese Strapazen des Anbieterwechsels nicht schon vor Jahren auf mich genommen habe.

Und nun noch etwas Erfreuliches zum Tage:
Nachdem ich 2010 literaturpreismässig lange allein auf weiter Flur richtig getippt hatte, erreichte mich heute die gute Nachricht, dass mein Favorit, der Regenwurm, zum Tier des Jahres 2011 gewählt wurde.

Besprühen Sie noch den Tannenbaum, stürzen Sie sich in den Ausverkauf und ärgern Sie sich beim Neujahrskarten Schreiben darüber, dass Ihre Handschrift an Persönlichkeit und Fluss verloren hat? Versuchen Sie, mit entsprechend üppigen Einkäufen noch schnell den Buchhandel zu retten, in den munzigen Lädelchen der Altstadt etwas Handgefertigtes zu erwerben, die letzten Geschenke pünktlich verspätet an FrauMannKind zu bringen, eine letzte 2010-Wäsche zu waschen, in der Wohnung aussichtslos eine schon längst fällige Aufräumearbeit anzupacken? Gerade habe ich die liegen gebliebenen Tageszeitungen durchgeblättert, und ich muss sagen, die folgende kurze Weihnachtsgeschichte gefällt mir auch noch an Silvester:

Jesus spaziert gemächlich durch den Himmel. Da fällt ihm ein Mann auf, der unruhig hin und her den Kopf wendet und sich suchend umsieht. Der Mann ist recht klein, grau, mit grauen Haaren und einem grauen Bart. Er trägt einen schweren Sack über der Schulter. „Was ist mit dir?“, fragt Jesus. Jener erschrickt ein wenig, vielleicht, weil er sich ertappt fühlt und unerwartet Beachtung findet. „Ich suche meinen Sohn“, sagt er still vor sich hinblickend. „Und was trägst du in deinem Sack?“, will Jesus wissen. Der Mann setzt den Sack auf den Boden, nestelt die Schnur auf und entnimmt dem Sack Winkelmass, Stechbeutel, Holzmeissel, und wie er auch den Hobel zutage fördert, kann Jesus nicht mehr an sich halten, öffnet seine Arme weit und jubelt: „Vater!“ Ein Leuchten geht über das Gesicht des kleinen Mannes. Auch er, aufgeregt, breitet seine Arme aus und seufzt glücklich befreit: „Pinocchio!“

„Der Bund“ Freitag, 24. Dezember 2010

Ob Joseph oder Gepetto, so oder so wünsche ich allen Leserinnen und Lesern fürs neue Jahr Gutes und Schönes!

Verlassen

Es schneit in nassen Flocken. An der Haltestelle warten Mäntel, Kappen und Stiefel mit ihren verschnupften Menschen. Eigentlich geht’s in der Regel beim Einsteigen auf mit den Kleidungsstücken, nur heute nicht.
Jeden Morgen lockert ein junger Mann das eintönige Jackenmantelgrau im Bus auf. Er trägt weisse Bermudas mit schwarzen Blumen, eine leichte blaue Jacke, kurze Socken und Turnschuhe. Lässig schreitet er durch Regen und Schnee, den Kopfhörer in seinem blonden Wuschelhaar, ohne die geringsten Anzeichen von Kälte. Im Lift begrüsst mich die vietnamesische Nachbarin mit einem freundlichen „Schneischnei“. Ich weiss, dass sie „viel Schnee“ damit meint. Irgendwie passt der Gruss zu einem etwas verrückten Vorweihnachtstag.

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