2009


Nicht nur die Alten

Ein Stück weit gehe ich im Umzug mit. Mir scheint,
dass viel mehr junge Leute dabei sind, als in anderen Jahren.
Beim Kornhaus schwenke ich ab,
um mir die Jörg-Müller-Ausstellung anzusehen.

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Unser Ladenzentrum wurde rundum erneuert, aber die Mieterschaft lässt auf sich warten. Deshalb macht die Hausverwaltung bei allen Mietern eine schriftliche Umfrage, welche Geschäfte wir uns hier wünschten und welche wir regelmässig besuchen würden. Wir überlegen, debattieren, wägen ab.

Den „Optiker“ , den „Schuhmacher“ sowie den „Bücherladen“ könnten wir zwar gut gebrauchen, müssten aber dafür unsere angestammten Dienstleister für Schuh-, Seh- und Geisteswerk verlassen, was für genetisch veranlagt treue Kundschaft wie uns schwer vorstellbar ist.

„Drogerie“, „Reform“, „Teppichgeschäft“, „Kosmetik“, „Schüsselservice“, „Möbelgeschäft“, „Blumenladen“, „Computerladen“ und „CD- und Video-Shop“ weniger. Hingegen könnte dieser oder jener aus unserer Kleinstfamilie den „Sportartikeln“, der „Metzgerei“, dem „Brockenhaus“, dem „Fitness“ und der „Unterhaltungselektronik“ etwas abgewinnen. Auf den „Kiosk“ verzichten wir aus Gründen der Volksgesundheit.

Auf dem Formular gibt es vier Zeilen für eigene Vorschläge und hier überstürzen sich die Ideen: Ein kleines Ricardo-Bordell, wo jeder nach Belieben und Möglichkeit und Wirtschaftslage anbieten und kaufen könnte. Eine weitere Stelle für die kontrollierte Heroinabgabe, die Publikum aus dem ganzen Einzugsgebiet der Stadt ins Quartier bringen würde. Auch der Jagdbedarf und Bootsbau wird ja von der Innenstadt und den Shoppingzentren enorm vernachlässigt und könnte hier neu erblühen.

Wir einigen uns auf die Empfehlung für ein Geschäft, das Publikum von Auswärts anlockt, schliesslich geht es um Aufwertung und darum, der Ghettoisierung entgegen zu wirken. Wir schreiben „Pferde- und Reiterutensilien“ und „Tattoostudio“. 3rd, male besteht zusätzlich auf „Bowling- oder Billardcenter“.

Ganz klar benutzen wir das Wort, welches jüdische und muslimische Menschen beleidigen könnte, nicht! Ich bin sehr froh, dass wir für diese Grippe seit gestern einen newen Namen haben, welcher die Gläubigen nicht so in die Sätze bringt.
Kein Problem gibt es mit dem Schlämperlig „Schweinefleischfresser“. Das Wort darf unbedenklich weiterhin gebraucht werden. Wer sich beleidigt fühlt, ist selber schuld.

In der Institution, in welcher ich arbeite, kann man in diesen Tagen Seltsames beobachten. Frauen und Männer sitzen beim Kaffee und werfen dann plötzlich nacheinander die Arme hoch. Sie üben die „Welle“. Bis zum Spiel YB-Sion am 13. Mai sollte diese auch bei den Fusballgrünhörnern sitzen, so dass beim Cupfinal niemand mehr falsch „wellt“.
Mit einigem Bangen warten wir auf die angekündigten Konsequenzen, denn bei einem Ausschluss der Öffentlichkeit wärs auch mit der YB-Wurst Sense – ausser, wir würden uns in dieses Treppenhaus zurückziehen und auf die Bell-Männer warten.

Meine Eltern besassen nie ein Auto. Trotzdem machten sie mit uns so oft wie möglich ein Reisli. Sie reisten selber gerne und waren der Meinung, dass ein „Immer-in-das-gleiche-Loch-hinunter-Sch …“ dem Weitblick nicht förderlich sei. Sie liessen uns schon als Kinder alleine reisen, etwa zu einem Besuch bei Verwandten. Damit wir unterwegs nicht in den falschen Zug stiegen, avisierte unsere Mutter die Bahnhofhilfe.
Als wir Kinder erwachsen waren und nicht mehr nur ins Emmental, das Berner Oberland oder in den Tessin reisten, wurde es für Mutter schwieriger. Nur ungern liess sie uns in fremde Länder ziehen. Bei einem Schneesturm in der Toscana konnte sie ohne weiteres die Rettungsflugwacht losschicken, um ihre Tochter mit Kindern zu „evakuieren“. Haben wir uns damals oft genervt über unsere Mutter, die immer die Abwesenden am liebsten hatte und den Anwesenden mit ihrem Geklön das Leben schwer machte!
Nun reisen meine Kinder und Enkelkinder. Darüber freue ich mich sehr, reise in Gedanken mit, erhalte interessante „Post“, schicke keine Rettungsflugwacht bei Sand- und Schneestürmen in Texas und New Mexico oder Kosovo. Schliesslich will ich ja nicht sein wie meine Mutter.
Dass ich ein bisschen schlecht schlafe, die Tage zähle, bis alle wieder daheim sind und die Abwesenden henne vermisse ist natürlich etwas ganz anderes.

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Mit unseren zwei Kindern begleite ich meinen Mann zum sonntäglichen Abendrundgang, auf dem er jeweils Wasch- und Abfallraumtüren öffnet.

Im Erdgeschoss angekommen, treten sieben Männer, in „Bell“-Uniform ein. Da sich der Lift in den oberen Etagen befindet und sie nur in den 1.Stock wollen, steigen sie schwer beladen die Treppe hoch. „Sie bringen das Essen nach Hause, welches sie am heutigen Fussballmatch nicht verkaufen konnten“, klärte mich mein Mann auf.

Der Lift öffnete sich. Ein müder Tamile grüsst. Mein Mann stellt den Fuss in die Schiebetüre und informiert ihn kurz: „Morgen um 13:00 Uhr kommt der Storenmonteur.“ „Heute?“ „Nein, morgen.“ Der Tamile verwechselt Tag und Nacht, heute und morgen immer wieder. Er arbeitet Nachtschicht.

In den Waschküchen herrschte heute Ausnahmezustand. Einige AlbanerInnen durften ihre Teppiche reinigen, damit sie dafür nicht ständig den Autowaschplatz in der Garage in Beschlag nehmen und somit unzählige Schweizer verärgern.

Das Handy klingelt. Die Rufnummer unseres Lieblingsschwagers erscheint. Mein Neffe ist am Apparat. Zusammen mit seinen Eltern verlässt er in diesem Moment das Dead valley, das Tal des Todes. Es ist der tiefste Punkt der westlichen Hemisphäre und der im Sommer heisseste Ort auf der ganzen Welt. Zwischen Dünen, Büschen und Lava könne das Leben bis zurück zum Urknall erforscht werden, erzählt mir meine Schwester am Telefon. Nun reisen sie über Los Angeles weiter nach San Francisco. In einer Woche kehren sie zurück und wir feiern 3rd, male’s Geburtstag.

Vor dem Lift wünscht uns der türkische Taxichauffeur einen schönen Feierabend und eine gute Nacht.

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Ostereier auf Linsen in Langenthaler 1935

Dieses Jahr konnten die Osterhäsinnen aus dem 16. Stock zwischen Thun und Olten 150 Eier verteilen. (Die Osterhasen kümmerten sich geduldig um den Nachwuchs.) Dank der Unterstützung des Hausmeisters klappte es mit dem Färben auch am neuen Ort. Besonders die Espressomaschine auf dem Balkon war ein Hit. Herzlichen Dank für alle Geschenke, von denen einige schon vor dem Fotografieren verspeist wurden. Mit den warmen Handschuhen aus Bolivien bin ich für den nächsten Winter bestens ausgerüstet.
Mit herzlichen Grüssen über Bach, Fluss, See und Meer!

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Auf dem leeren Fusballfeld wird ein Film gedreht. Eine junge Frau in Schlabberhose und Turnschuhen läuft mit ihrem Hund, einem weissen Schnauzer, auf die Kamera zu. Noch einmal, nachdem der Regisseur ihr vorzeigte, wie er sich so etwas vorstellt. Wir bleiben ein bisschen stehen und ratiburgern, in welchem Sendegefäss des Schweizer Fernsehens so etwas gesendet wird. Wir sind auf Kräutersuche. Die paar sonnigen Tage liessen Gräser und Blätter spriessen, leider auch an den hintersten Borden zwischen Hundekot. Sogar auf den Spielplatz am Waldrand hat Hundchen seine Häufchen gesetzt – und weit und breit kein Frauchen oder Herrchen mit Gagisäcklein.
Ein Specht hackt auf einen Baumstamm. Wir können ihn nicht sehen und versprechen Kleinesmädchen, im Vogelbuch nachzuschauen. Obwohl es von Jahr zu Jahr schwieriger wird, haben wir genug kotlose Kräuter beisammen, um ins traditionelle Familien-Freunde-Nachbarn-Eierfärben einzusteigen.

Fast wie im Elsass

… in Castroville, Texas.
Meine Mutter musste sich immer lange gedulden, bis sie ein Föteli von ihren reisenden Kindern erhielt, schwarzweiss in einem „Aerogramm“.
Dank diesen ausgeklügelten SchwarzBeeren können die heutigen Mütter und Grossmütter beruhigt sehen, dass nicht alles wild ist in Texas.

Si hei ne am drüü am Morge us em Gfängnis greicht u si mit ihm uf Chlote gfahre. Verschnüert wie nes Päckli hei si ne zäme mit zwene angere Liberianer i ds Flügzüg verfrachtet. Dert het er ersch gmerkt, was mit ihm passiert, wiu er vorhär isch ruehig gschteut gsi. Einezwänzg Polizischte hei die drei gfesslete Afrikaner begleitet. Z’Monrovia (kaputteschti Houptschtatt vo dr Wäut) het ds Flugzüg kei Landeerloubnis übercho u het drum Gambia agschtüüret. Es het es rächts Bakschisch vo dr Schwizerpolizei bbrucht, dass die Behörde am Flughafe zwe vo dene dreine Schwarzafrikaner übernoh het. Mit nüt aus de Chleider uf ihrem Liib het me die Manne i däm frömde Land ihrem Schicksal überla.
Dr Trip isch no nid z’Änd gsi, mi het ja no eine gha zum Usschaffe. So isch me de uf Dakar gfloge u het dert probiert, die unliebsami Fracht los z’wärde. D’Senegalese hei de einezwänzg Polizische d’Päss abgno u gseit, die überchäme si ersch zrügg, we si dr Liberianer mitnähmi. Wius inzwüsche gäge Abe gange isch, het z’Flugzüg Kurs gäge Nordoschte gno u dr Übrigblibnig isch nach däm Tagesusflug wider i sim Schwizergfängnis glandet.

Heute traf ich die Bibliothekarin unserer Gefängnisses hier in der Stadt. Sie darf sechzig bezahlte Stunden pro Jahr arbeiten. Ihr Bücherkredit ist 0. Die Zelle, in welcher sich die Bibliothek befand, wurde vor einiger Zeit wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt und so versucht die Frau, auf jedem Stockwerk ein paar interessante Bücher aufzustellen. Das ist nicht einfach, da die Inhaftierten aus vielen verschiedenen Ländern stammen und bei den dem Gefängnis gespendeten Büchern selten etwas Passendes dabei ist. Ab und zu kauft die Bibliothekarin aus der eigenen Tasche ein Wörterbuch, z.B. Arabisch-Deutsch, was aber leider nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist.

Mittagsrast

Mittagsrast über der Spitze des Münsterturms in Bern am 24. April 1894:
Stadtgeometer Friedrich Brönnimann (links) mit seiner ältesten Tochter und Adjunkt Mathis (aus: ISBN 978-3-03919-116-1)

Onkel Ernst wohnte in der Kramgasse und so kam ich als Landkind oft in die Stadt. Die Grossmutter flocht mir die Zöpfe, zog mir das Sonntagsröckli an, und wir fuhren im Zug nach Bern. Zuerst strebte ich dem Caran-d’Ache-Schaufenster im Bahnhof zu. Dort bewegten sich Zwerge, Bären, Hasen in lieblichen Landschaften je nach Saison, malten an Tafeln, sassen auf Stühlchen und schrieben an kleinen Tischchen mit bunten Stiften. Dazwischen lagen nigelnagelneue Farbschachteln, Kreiden, Pinsel und Bleistifte der Firma – ein Traum für ein Landkind.
Anschliessend gingen wir unter den Lauben hinuter in die Kramgasse. Am Zytglogge stand ein Verkehrspolizist mit weissen Handschuhen auf einer Kanzel. Auch hier brachte Grossmutter mich nicht so schnell weg.
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Eigentlich jage man bei einem solchen Regen keinen Hund aus dem Haus, meint eine Genossin, aber der Vortrag zu „Bewährungshilfe und alternativer Strafvollzug“ werde sicher interessant und ausserdem schwemme der Regen alles Zeugs weg, was auch nötig sei. Ich mag nicht fragen, welches Zeugs sie meint. Nach und nach tropfen noch weitere Genossinnen und Genossen ins Säli. Ich zähle 25, Durchnittsalter 60. Es dürfen drei neue Mitglieder, davon zwei anwesend, mit Kuss und rotem Schoggiherz begrüsst werden. Nach einer heftigen Diskussion um ein Bauvorhaben auf der grünen Wiese (Recycling und Sortierwerk von Bauschutt), gehts ziemlich verspätet zur Bewährungshilfe. Zuerst gibts ein paar Grafiken und Karten in Militärgrün und Blutrot und dann die Geschichte von einem Klienten, den die Referentin „Tim“ nennt. Sie hat ihn fünf Jahre durch den Strafvollzug begleitet und ihn so weit einsichtig gemacht, dass der Bursche ein „Gefühl für die Ängste seiner Opfer bekam“. Er hatte sie gefesselt und ihnen eine Pistole an die Schläfe gesetzt – natürlich ungeladen, wie Tim die ganzen Jahre stets beteuerte. Sogar eingezahlt für die „Opferhilfe“ habe er. Schritt für Schritt habe man ihn einem normalen Leben entgegen geführt, zwar mit elektronischen Fussfessel, aber in Wohnung mit Freundin und bald auch Kind.
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Wider einmal haben sich fremde Fötzel auf dem lieblichen See nahe an meinem Quartier angesiedelt. Obwohl ihnen das streng verboten ist, haben sie ein Nest gebaut und – welche Chuzpe – auch noch Eier gelegt. Ich nehme an, dass der Jagdinspektor P.J. es nicht selber erledigte, sondern seinen Wildhüter H.U.H. anwies, die Eier der Exoten anzustechen, um so „eine unkontrollierte Ausbreitung“ zu vermeiden. Nun bleibt dem armen Mann der „ethische Konflikt“ (Link erneuert am 07.06.22) nicht erspart.
Weiss denn heute nicht jedes Kind, dass das Beobachten von Pärchen durch Feldstecher nicht ausreicht, um Fortpflanzung zu verhindern?

Licht für die Nachtfalter

Meine Mittagspause verbringe ich im Antiquariat am Rathausplatz, eingezwängt zwischen Büchergestellen, Kisten und Kunden. Jemand hat eine Platte von Georges Brassens aufgelegt. Der Ladeninhaber ist gestorben und ein Kilo Bücher kostet heute Fr. 1.- (Ich verlasse das altehrwürdige Geschäft mit bescheidenen 5 Titeln).
Die Biese fegt durch die Gassen und bläst Walme von Zibelemärit- und Fasnachtskonfettis an die alten Mauern. Heute ist Vermummung angesagt. Ein Strassenmusiker auf der Münsterplattform singt französische Chansons. Im Schwellenmätteli liegen die Kiesbänke trocken in der Sonne. Von Schmelzwasser keine Spur. In den Lauben wird die Beleuchtung für die Museumsnacht installiert und die Motten machen einen Probeflug.

Motten in der Laube

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Dass die vier Schweizerinnen von ihrer Reise durch Marokko begeistert sind, hängt sehr mit dem einheimischen Reiseführer zusammen. Er führt die Frauen an die schönsten Plätze und weiss zu berichten, was in keinem Buch steht. Die Touristinnen sind von diesem charmanten, gut aussehenden, hilfsbereiten Mann sehr angetan.
Wieder zurück in der Schweiz, schicken sie ihm ein Dankespaket. Zu ihrer grossen Enttäuschung bleibt eine Antwort aus dem Magreb aus. Mindestens eine Karte hätten sie schon erwartet.
Sie können sich nicht vorstellen, dass bereits andere Touristinnen an die schönen Plätze geführt werden und im Beduinenzelt Kuskus essen. Der Reiseführer erinnert sich wahrscheinlich nur noch schwach an „Der Chef“, „Der General“, „Der 6. August“, „Das gelbe Pferd“. Bereits hat er in der Sprache des Hohen Atlas neue Namen an neue Kundinnen vergeben.
Die Frau des charmanten Guides nimmts gelassen. Sie weiss, wie unmöglich ihr „Omar Sharif“ zu Hause ist.
Ganz klar, dass sie ihm das Schreiben der Dankeskarten nicht abnimmt.

Manchmal sei es schon eine Herausforderung, neben Frau Kessler zu wohnen, erzählt mir eine Freundin. Besonders die Katze der alten Frau sei eine Plage fürs Quartier, sehe aus, wie ein Löwe und miaue den ganzen Tag. Das nerve auch Frau Kessler in ihrem verrauchten Logis. Täglich beschimpfe sie das magere Raubtier: „Du dumme Kuh, du, halt endlich die Schnauze, du, sonst drehe ich dir den Hals um! Hau doch endlich ab, du Verrückte, bevor ich auch noch verrückt werde!“ So gehe es den ganzen Tag, während Frau Kessler Glimmstengel um Glimmstengel durchziehe. Die Katze sei ein Überbleibsel ihres vor einem Jahr verstorbenen Mannes. (Sie hielt die Totenwache und liess niemanden an den Leichnam heran, bis ihr ein beherzter Sanitäter einen Sack über den Kopf stülpte).
Letzthin, es war schon spät am Abend und sehr kalt, ging Frau Kessler auf der Terrasse hin und her. Sie war barfuss und nur mit einem Nachthemd bekleidet: „Simbeli, Simbeli-Büsbüsbüs“, rief sie in einem fort. „Sie sucht die Katze“, sagte meine Freundin zu ihrem Mann und zog den Mantel an. „Du wirst doch nicht das Vieh suchen helfen?“ murrte der Gatte. „Das ist eine Sache der Nächstenliebe“, meinte meine Freundin. Sie zog Frau Frau Kessler eine Jacke über und brachte ihr die Finken. Dann ging sie durchs nächtliche Quartier und sah an der erleuchteten Tankstelle die Katze hocken. Bevor diese entwischen konnte, packte meine Freundin den „Löwen“, an dem sie jede Rippe spürte und dessen struppigem Fell ein „Jon“ von Zigarettenrauch entstieg.
Noch lange hörten die Nachbarn, wie Frau Kessler ihre Katze beschimpfte: „Du blöde Kuh, ich drehe dir den Hals um…!“

In vier Jahren geht Frau Kessler ins Altersheim. Sie hofft, dass der heute 17jährige „Simbelisimbelibüsbüsbüs“ diesen Umzug noch zusammen mit ihr durchzieht.

Im 11. Stock ganz links blinkt noch Weihnachtsdekoration am Fester, in der Wohnung gleich daneben bügelt eine Frau. Wenn sie die grossen Tücher ausschüttelt verdeckt sie mir die Sicht, aber beim Zusammenfalten sehe ich ihre schmale Gestalt, die dünnen Arme weit ausgestreckt und doch zu kurz. Genau darunter im 9. kocht jemand und rennt regelmässig zu einer grossen, braunen Sofaecke und zurück in die Küche, vielleicht schreit ein Kind nach der Flasche. Etwas weiter links unten im 7. ist die Wohnung hell erleuchtet, das Licht brennt in jedem der drei Zimmer. Doch hat es kaum Möbel und die Wände sind kahl. Wahrscheinlich ein Umzug. An den Fensterscheiben kleben drei A3-Blätter. Die Wohnungen darum herum liegen bereits im Dunkeln, aber weiter links im 6. flackert eine Kerze hinter einem orange Vorhang. In mehreren Wohnzimmern darunter läuft das gleiche Sportpragramm, dem grünen Bild nach zu schliessen Fussball. Die drei Stockwerke der Untergeschosse sind finster, nur in einer Stube sitzen sich zwei gegenüber und rauchen.

Wer mit Telefonbuch, Pschyrembel, SBB-Fahrplan, Publicus, Statistischen Jahrbuch schon durch ist, sollte es unbedingt mit dem „Kommentar zum Europäischen Arzneibuch“ (10 Ordner) versuchen – ein richtiger Gesundbrunnen für Laien!

Aprotinin
Atropin
Arginin
Asparigin

Benzocain
Benazepril
Benzyl
Biotin
Bisacodyl

Cefalotin
Cefapirin
Cefatrizin
Cefazolin
Ceftazidim
Cefuroximaxetil …

aber auch:

Bärentraubenblätter
Eschenblätter
Ginkoblätter
Spitzwegerichblätter
Zitronenverbenenblätter
Arnikablütenblätter

Lindenblüten
Malvenblüten
Holunderblüten
Hibiskusblüten
Weissdornblüten
Bitterorangenblüten

Vogelknöterichkraut
Blutweiderichkraut
Wassernabelkraut

Taigawurzel
Grosser Wiesenknopfwurzel
Teufelskrallenwurzel
Baldrianwurzel
Liebstöckelwurzel
Süssholzwurzel
Roter Sonnenhut-Wurzel

Mariendistelfrüchte
Mönchspfefferfrüchte
Sägepalmenfrüchte

Zimtrinde
Zitronenrinde
Weidenrinde

Sternänis
Artischocke
Thymian
Bockshornklee
Bitterklee
Fieberklee

Honig

Die Berner Volkszeitung vom 27. dies sagt:
es sei den Wählern befohlen worden, mindestens mich in Kirchberg zu wählen, da ich mich erklärt hätte, die Wahl hier anzunehmen. Dass ich mich über die Annahme einer Wahl ausgesprochen, nun ist unrichtig.

Burgdorf, den 23. Februar 1846
Sury, von Wyler, Grossrath

Aus: Beilage zur Berner Berner Volkszeitung Nr. 27, Feb. 1846

Gelassene Federn

Wenn der „Bären“ geschlossen ist und auf dem Friedhof und um die Klosterruinen tiefer Schnee liegt, ist im Dorf nichts los.
In den Sträuchern an der Südmauer der Martinskirche taumeln die Bienen und sumherumsen wie verrückt.
Der senkrechte Riss im Mauerwerk des Gotteshauses ist kaum zu sehen. Hoffentlich bleibt alles weitere tausend Jahre auf Fels gebaut.
Vor der Seitentür liegt ein zerbrochener Grabengel. Ab und zu rutscht ein Walm Schnee von einem Dach.
Später klettere ich die enge Stiege des alten Hauses hinauf auf die Bühne. Einige glänzend blaugraue Federn liegen auf dem Boden – der Rest einer Mardermahlzeit.
Zusammen mit Schwestern und Nichte kehre ich ich im „Gschneit“ ein, die Einheimischen sagen „Gschniit“ (geschneit – was natürlich im Sommer weniger passt). Ich bestelle das letzte Menue „Suure Mocke mit Härdöpfelstock“, was ein typisches Winteressen ist. Am gegenüberliegenden Hügel beim Tavel-Denkmal wird geschlittelt wie zu des Dichters Zeiten: ohne Lift, dafür mit einer sagenhaften Aussicht auf die Berge.

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