Alles oder nichts


Heute haben die Feinde 3rds Glücksbringer geklaut. Seit er ein Fall geworden ist und diverse Ticks entwickelt hat, geht er nur noch mit Glücksbringer (einer silbernen Muräne, von einem befreundeten Golschmied gemacht) um den Hals zur Vorhölle Schule. Den Glücksbringer hat er während des Sportunterrichts der Lehrerin anvertraut und – schwuppsdiwups! – weg war er.

Im November haben wir geschrieben und telefoniert. Im Januar haben wir geschrieben und Sitzung gemacht. Und noch eine. Und noch eine mit 3rd. Und noch eine mit den Feinden. Und noch und nöcher. Und wir haben mündlich und schriftlich gegeben, dass wir Diebstahl und Übergriffe mit sichtbaren Folgen anzeigen würden.

Aber wenn ein Quartier einmal eine bestimmte Verlotterung erreicht hat, nimmt einen kein Schwein mehr ernst. Die denken einfach, wir wollen reden, wie Unterschichtige ohne Stuckdecke oder Corbusiersessel das halt so nötig haben. Sie hören zu und nicken nett und reden von Taten, die sich schon als Worte in Luft auflösen. Vielleicht ist es, weil tausend schwierigere Fälle warten und das Kopftuchproblem ungelöst ist. Vielleicht weil alle ausgebrannt sind. Und vielleicht auch nur, weil man keinen Bock hat, der Gettoisierung beizukommen. Aber sagen tut man es wenigstens, sonst kriegen die (teils extremen) Rechten noch rechter.

Aber ich bleibe links und atme tief. Denn auf den „längeren Schnuuf“ kommt es an. Vielleicht hat irgendwer ein Erziehungshandbuch, wie man das einem Neunjährigen erklärt, der seit November (über den Daumen gepeilt) siebzig Mal verprügelt und wohl ein Dutzend Mal bestohlen worden ist. Erbitte ISBN.

tut die Swisscom schon seit einer Woche! Im Schneckentempo dreht sich die Weltkugel, ab und zu zuckt ein Fenster auf: Fehler 678: Keine Verbindung zum Server – Klick – ich putze wieder einmal gründlich den Backofen- Klick- ein junger Mann möchte mir einen Super-Türspion einbauen, mit dem ich um die Ecke sehen könnte – Klick – ich bündle endlich die alten Zeitungen – Klick- Frau Wannner aus Burgdorf verkauft am Telefon Tiefkühlkost im Abonnement, macht mir ein günstiges Angebot. Nein, danke. Frau W. kann nichts dafür, dass ich mir vor dem Glück stehe – Klick – eigentlich haben die Wasserhähnen eine Entkalkung nötig – Klick – ich lese in der Zeitung, dass die Briten im Jahr 1999 395 Millionen Pfund für Antidepressiva ausgaben und dass die UBS im vergangenen Jahr einen Reingewinn von über 8 Milliarden Franken gemacht hat – Klick – Frau Rühler (?) aus FFM freut sich sehr, mich am Telefon über ein deutsches Superlotto mit sicheren Supergewinnen zu informieren. Ich gehöre zu den wenigen Auserwählten in der Schweiz, die in den Genuss eines Gehimtipps kommen! Frau R. kann nichts dafür, dass ich mir selber vor dem Glück stehe, à Dieu – Klick- Beenden – ich gehe jetzt ins Migros-Restaurant, wo zu dieser Tageszeit die Alten aus dem Quartier sitzen und ein Schwätzchen halten. Wenn Hermann am leeren Tisch ein bisschen einnickt beim Warten auf jemanden, der nie kommt, weckt ihn Frau Blaser: „Hermann, wosch es Käfeli?“

*Familiensprache, kommt aus dem Holländischen und bedeutet für uns, je nach Betonung und Satzzusammenhang, misslungenes oder gekonntes Basteln.

Letzten Freitag räumte ich meine Sachen im Schulzimmer zusammen. Die Kassettenhülle von Mani Matters Chansons war jedoch leer. Der Mazedonier habe sie kaputt gemacht und in den Abfall geworfen, verriet der Bub aus Sri Lanka. Wie bitte? Ich fragte nach. Der Angeschuldigte stritt die Tat nicht ab. Im Gegenteil, er erzählte sie mir: „Der blode Mann hat Muslime verarscht und alle Leute lachen über Araber und klatschen. Schais-Kassette! Sicher schmais ich in Küder Mann.“

Nachdem ich ihn überzeugt hatte, dass man fremdes Eigentum nicht vernichte und entsorge, übersetzte ich ihm den Text von Mani Matters Lied: Dr Sidi Abdel Assar vo El Hama. Sidi hat sich eines Morgens vor der Moschee in zwei wunderschöne Augen verliebt. Er konnte aber für Mohammed Mustafas Tochter keine 220 Kamele bezahlen und fand schlussendlich eine billigere Frau, die er für nur 150 Schafe heiraten konnte. Diese war jedoch nicht so schön, aber dafür gescheit. Als Sidi in der Nacht den klaren Mond über der Sahara anschaute, dachte er für sich: Hätte ich doch früher begonnen zu sparen.

Der Mazedonier war sich sofort im Klaren: „Geschaid ist viel besser als schön Mann.“

sind 2nd, female & male mit 3rd.

Dann kommen wir an.
Dann laufen wir durchs Museum, das sich als Dorf verkleidet hat.
Dann gehen wir ins Hotel. Und schauen eine lange Weile aus dem Fenster.

Genau so machen wirs.

Balkonraucher werden bereits in unserem Treppenhaus darauf aufmerksam gemacht, dass sie ihre Zigarettenstummel nicht auf die Sonnenstoren, in die Blumenkisten, die Vorgärten, die Terrassen der Nachbarn schmeissen sollen:
!!!Bitte!!!
Hat man 16 Stockwerke über sich, sammelt sich schon einiges an an Kippen von oben. Das versaut jedem Hobbygärtner den Feierabend, vermiest jede Mahlzeit im Freien.
Rauchen ist in der Schweiz ein billiger Spass: für 1 Paket Zigaretten arbeiten wir ca. 12 Minuten. In Kenja, dem Land mit den teuersten Glimmstängeln, reichts dafür erst mit 158 Minuten Arbeit.
In meinem Bekanntenkreis wird kaum noch geraucht. Mit Wehmut denke ich an die schweren Roberto-Niederer-Glas-Aschenbecher zurück, die Jahre lang die Salontische der Leute mit Geschmack geziert haben. Auch die provençeblauen seien aus meinem Lieblingsrestaurant entfernt worden. Immer mehr rauchfreier Raum in Bern! Kein verqualmtes Foyer mehr in der altehrwürdigen Stadtbibliothek. Es wird draussen in den zugigen Lauben geschlotet: !!!Bitte!!!
Wenn ich die jungen Leute sehe, denke ich manchmal zurück an meine Rauch-Zeit. In der „Schwarzen Tinte“ sassen wir, hörten bereits am Nachmittag Jazz gespielt von Chlöisu Friedli und Freunden, rauchten „Gitane Maïs“ und versuchten, kein Landei mehr zu sein und zum Kuchen zu gehören.
Während meiner Zeit im Kibbuz holte ich mir „Nadiv“ bei Lea im Kibbuzladen. Sie würden mit dem Abfall aus der Fabrik gestopft, diese filterlosen Arbeiterzigaretten, spotteten meine Freunde in der Stadt. Durch die tägliche Übung wurde ich eine lässige Nadiv-Raucherin ohne feuchte Tabakkrümel an den Lippen.
Jahre später drehte mir der Beediman in Indien jeden Tag fünf kräftige Armeleutezigaretten. Er schnipselte ein Tabakblatt auf ein zweites einer anderen Sorte, rollte es ein, band diese Tüten mit einem feinen bunten Baumwollfaden zusammen und verkaufte sie mir auf einem Palmblatt für 1 Rupie.
Heute weiss ich, dass 5 Beedis ca. 55 herkömmlichen Zigaretten entsprechen, huch! Aber Ghanesha, der Gott aller Ahnungslosen und Beedipaffenden, hielt seinen Rüssel über meiner Lunge.
Inzwischen bin ich zu einer gemässigten „Sommerraucherin“ geworden. Zigaretten bei feuchtem, kalten Wetter gibt’s nur sehr selten. Trotzdem trage ich ein versilbertes Zigarettenetui und ein Feuerzeug mit dem Bild meines Lieblingsfussballspielers bei mir wie andere Leute eine Taschenapotheke.
So ein Zigarettli hat mir schon in manchen brenzligen Sitauation geholfen, sei’s an der jordanischen Grenze, auf einem türkischen Polizeiposten, im Zîgana Gebirge oder auf dem Kyberpass, da hatte ein solches als Geschenk einen Wert. Aber heute sind dies ja keine abgelegenen Gegenden mehr, und wahrscheinlich sind auch die „Bösen“ dieser Welt inzwischen ihrer Gesundheit zuliebe Nichtraucher geworden.
Kürzlich habe ich eine Stange „Cleopatra Golden King“ aus Ägypten geschenkt bekommen, bin also für mindestens acht Jahre mit einer wöchentlichen „Sommerzigarette“ versorgt.

In den Ästen der alten Bäumen habe ich heute zehn Saatkrähennester gezählt, richtige Horste, schwebend über der Strasse und den Bahngeleisen. Auf den Trottoirs liegt noch Schmierseifenschnee. Aber bald kommt der Frühling und mit ihm der lästige Lärm und Schmutz dieser Vögel und ihrer Brut. Mann hat alles versucht, wenigstens in den Berner-Bäumen Ruhe zu schaffen, hat Drähte gespannt, Plastikkegel über die Nester gestülpt oder sie zerstört, hat Plastikbretter auf die Landeflächen montiert, die Bäume stark beschnitten, sogar gefällt. Hier, an der Laupenstrasse findet man sie jedenfalls noch, und es kann durchaus sein, dass der Bär seinen Wackelplatz im Wappen nicht halten kann und stattdessen die schlaue und gefrässige Saatkrähe …

Im lieblichen Gürbetal hat mann gestern an einem besonders lauschigen Plätzchen Gülle ausgeführt und darin in sauberen Abständen eine Handvoll Maiskörner ausgelegt. Hübsch sieht das aus und ordentlich. Schon liegen einige tote Vögel auf dem Feld. Nicht in der Jauche. Wenn sie daraus ein Korn gefressen haben, schaffen sie noch einige Flügelschläge in den sauberen Schnee. Die Bise bläst in das blauschwarze Gefieder, bis der Mann mit der Plastiktüte die Krähe einsammelt.
2-4 Tausend sollen es werden, sonst sind die Bauern nicht zufrieden. Auch sie haben alles versucht, bevor diese Massnahme ergriffen wurde: Vogelscheuchen aufgestellt, Bänder gespannt, Ballone angebunden, Böller krachen lassen. (Das gefiel den sich im Nahen Erholenden nicht.) Der Landwirt Paul Messerli aus Kirchdorf spricht von grossen Schäden in der Landwirtschaft. Die Rabenkrähe hackt z.B. Löcher in den weichen Plastik der Siloballen. Das Heu, welches sie dann daraus verzehrt, sei nicht der Rede wert, hat Landwirt Messerli zwar versichert, aber die Regierung muss etwas tun für die Bauern, und das Tränendrüsendrück-Gewäsch aus der Vogelwarte Sempach und der Sozialdemokratischen Partei gibt ihm seine Ernte nicht wieder:
die Maiskolben, die Kabisköpfe fürs berühmte Sauerkraut, den Salat …
Herr M. hält gar nichts davon, es den Nepalesen und Indern gleich zu tun und mit der Familie so lange auf den angesäten Feldern zu campieren, bis die Schösslinge gross genug sind, allein gelassen zu werden.
Die Flinte ist auch keine Lösung, denn Krähen sind schwer zu treffen. Sie kennen nicht nur Vogelscheuchen, sondern auch ihren Jäger (und sein Auto) – schnell.

Der Bub aus Sri Lanka kann es nicht lassen, den Schweizer auszulachen und mit „Fisch“ anzusprechen, obwohl er es im Elterngespräch versprochen hatte. Vor dem Mittag war das Fass voll:
Was fällt dir ein, unsere Abmachung jede Lektion zu brechen? Konzentriere dich auf deine Aufgaben, anstatt den Unterricht für deine fiesen Spielchen zu missbrauchen. Denk an das Unglück in Sri Lanka, an die vielen Menschen, die alles verloren haben und du machst hier deine eigenen Kollegen fertig? Haben wir nicht genug Leid auf der Welt? Jetzt ist Schluss damit. JETZT! Ich wünsche dem kleinen blonden Schweizer, dass er Leuten wie dir, die das nicht begreifen, die kalte Schulter zeigt. Aber was tut er? Er hilft dir wieder und wieder. Wenn du ihn brauchst, ist er da, schlägt nie zurück und begleitet dich auf dem Heimweg.

Da stand er auf, schmiss seine Farbschachtel auf den Boden, schlug auf den Tisch, schrie mich an, dass mein Gesicht ganz nass wurde, schubste mich, hob die Faust und drohte wiederholend: Ich brech dir alle Knochen du Schlampe… Da wurde ich ganz gemütlich und wandte die Technik des Rollentauschens an. Nachdem ich ihn beruhigt und ihm die Konsequenzen mitgeteilt hatte, wollte er am Nachmittag trotzdem mit auf den Gurten kommen. Das war sicher eine Perle. Aber die eigentliche Perle war die Türkin, die mich darauf aufmerksam gemacht hatte, dass die ganze Klasse seit unserem Macht-Kampf zu dem Schweizer stünde, ihn beschützen wolle und niemand ihn je wieder Fisch rufen würde.

Ich bin müde.

Im Bildungskonzept für Berner Schulen lese ich, dass die Kinder aus Familien mit Büchergestellen die besseren Bildungschancen haben.
Das Kind I. hat Zugang zu ca. 200 Laufmetern Bücher im privaten Bereich, öffentliche Bibliotheken werden von ihm rege benutzt. Auch seine Eltern verhalten sich konzeptkonform: Sie zügeln nicht weg, so wie’s die Bildungsdirektorin in der Zeitung empfohlen hat, sind mit der Integrationsbeauftragten der Stadt einer Meinung, dass das Wohnen in einem „Ausländerquartier“ fürs Leben schult, beteiligen sich an der Quartierarbeit, haben ein offenes Haus und Ohr. Das Kind hat die besten Vorbilder in Sachen Toleranz und Respekt, denn es ist die 4. Generation einer Familie, die sich das friedliche Zusammenleben auf ihre Fahne geschrieben hat. Wer jetzt denkt: welch glückliches Kind, irrt sich. Seit Monaten wird es von einigen Mitschülern in der Garderobe mit nassen Tüchern geschlagen, gewürgt, bespuckt, zu Boden geworfen und getreten, beschimpft und mit „I bringe di um“ ständig bedroht, seine Kleider und Schulsachen werden in den Abfall geworfen. Als es am Dreikönigstag König wurde, setzte dies besonders gemeine Prügel ab. Der Schulweg ist ein Leidensweg. Gespräche mit den Schülern brachten nur noch mehr Gewalt. Die Lehrerin findet, die Eltern mischten sich zu sehr ein, das Kind provoziere mit seinen „Fremdwörtern“.
I. , bald 10 Jahre alt, versucht Aufsätze zu schreiben, die dem Niveau der Klasse entsprechen, nimmt beim Bibliotheksbesuch mit der Klasse Kinderbücher. Er müsse sie nicht lesen, meint die Lehrerin, die weiss, dass das Kind schon weiter ist. Nur nicht auffallen! Soll das Kind seine Gitarren- und Flamencostunden aufgeben und stattdessen einen Kampfsport trainieren? Das möchte die Lehrerin auf keinen Fall! Auch der Kickboxtrainer aus dem Bekanntenkreis rät davon ab. Nun ist das Kind ein „Fall“ geworden, der die zum neuen Bildungskonzept gehörende Sozialarbeiterin beschäftigt.
Wir fassen jeden Tag den Mut, die Kinder und ihre Eltern nicht zu hassen, uns ihnen zu zuwenden, sie zu beachten und uns unter ihnen zu Hause zu fühlen.

Sie ist neu und es wird noch einmal drei Neue geben. Denn es gibt Fall um Fall um Fall bis zum Umfall. Neu geschaffene Sozialarbeiterinnen sind gut.

Kinderzeichnungen am Schrank. Den IKEA-Schreibtisch hat sie sicher im letzten Augenblick selber beschaffen müssen dürfen. Den Drucker vielleicht auch selber (anhängen). Und das „Mobbing, nicht mit mir“- Plakat noch rasch an den Spind geklebt, die Zimmerpflanze deponiert. Ja, das Büro ist eingerichtet wie von jemandem, dem man dazu keine Zeit gelassen hat, denn die Fälle warten schon, und 3rd ist auch einer.

3rd zupft mich leise am Ärmel, nickt zu einem kleinen Bildchen über dem Billy und murmelt „vanGogh, haben wir doch auch, wo ist das nun schon wieder?“ „Psst, ein Café in Arles oder Paris oder wo auch immer.“ Bloss nichts wissen, bloss nichts, was überheblich wirken könnte, bloss nichts. Bloss mitlaufen und schweigen, und selbst das ist eine Provokation. Und gibt daraus einen Fall und das ist 3rd jetzt.

„Wir bringen dich um“. Vorsorglich weichen wir deine Hose ein während du turnst, spucken dick in deinen Schulsack und treten dir – aus lieber Gewohnheit – täglich ein paar Mal in den Bauch, beim Gänsemarsch mit der Lehrerin vorneweg abwechselnd in die Kniekehlen, bis die blau sind. Streich deine Fremdwörter aus den Aufsätzen oder wir killen dich, Fall zu Fall. Zufall. Einer bietet sich an. Andorra ist überall.

Aber es gibt schon Menschen, die uns nett finden. Solche mit Schweizer Pass und ohne, mit Doktortitel und mit Stromerkittel, Grossmütter und Kebabverkäufer, Behinderte und Sportler, Alte wie Junge. Und sogar die Sozialarbeiterin, jedenfalls hat sie das glaubwürdig vermittelt. Sie hat den Fall 3rd getestet, einzeln und in der Gruppe und beobachtet auch. Er ist nicht überheblich, er passt sich mit der Sprache an, er hält sich zurück mit Fremdwörtern. Sie sieht einen langen Weg, aber sie sieht einen.

Üben wir. Üben wir Solidarität mit den Söhnen von nebenan. Mit den überlasteten Lehrerinnen, dem Schulleiter, der für jede Situation einen Standardsatz hat. Solidarisieren wir uns mit den Traumata der Welt. Fahren wir ein wenig Lift mit ihnen. Lesen wir mit ihnen.

Rechnen wir mit ihnen.

Pokerfaces

1. Chris Bigler, Fislisbach 2. Conny-Lu Käser, Krauchthal 3. John Esposito Calvo, Bümpliz 4. Barbie-Ann Siegenthaler, Wimmis 5. Charles LeBrie, Le Prédame 6. Eduard Sturzenegger, Trimstein 7. Gus Rettenmund, Rüegsau 8. Wegen laufenden Verfahren darf der Name dieses Turnierteilnehmers hier nicht veröffentlicht werden. 9. Yvette Künzi, Guggisberg

In den nächsten Jahren werden 26 Millionen Menschen arbeitslos, wobei es hauptsächlich Arbeiterinnen in der Textilindustrie treffen wird, dieses Los. Die westlichen Handelsschranken sind gefallen und China, das heisst zu 90% das weibliche, webt, wirkt, schneidert und stickt wie verrückt. Manchmal für nur 1 Euro pro Tag. Natürlich gibt es die Fabriken, gross wie der Vatikan und der Felsendom mit Ausstellungshallen für die westlichen und gut betuchten einheimischen Kunden. Daneben scheint aber jeder, der es sich leisten kann, einige Maschinen ins Wohnzimmer zu stellen um z. B. Socken zu produzieren. Jede dritte westliche Fussbekleidung ist bereits eine Made aus China (frei nach Franz Hohler).

Heute wurden aus dem Portemonnaie von der Kosovarin fünf Franken gestohlen. Sie meint: Das sei nicht die Welt, doch fände sie Klauen mega fies. Sie hätte die fünf Franken dieser Person sogar geschenkt, wenn diese sie darum gebeten hätte. War es jemand aus der Klasse? Können wir einander noch vertrauen?

Die Kosovarin hat ihr Material griffbereit und im Etui sind die Stifte gespitzt. Sie schreibt eine Liebesgeschichte und fordert Ruhe in der Klasse. In der letzten Lektion gibt es einen Wettbewerb. Die Kosovarin macht mit, obwohl auch sie von der langen Woche erschöpft ist und über den Mittag im Volleyball war. Sie gewinnt den ersten und zweiten und dritten Preis, da keine KonkurentInnen angetreten sind. Unaufgefordert erledigt sie ihr Ämtli und wischt auch noch den Boden. Rundherum herrscht Chaos.

Mein einziger Schweizer vergisst für einen kurzen Augenblick die Klasse, obwohl er mitten drin sitzt. Er singt seinen Part zwar viel zu schnell, aber er singt, während dem die anderen bereits aufgegeben haben. So entsteht aus dem Kanon ein Duett, das zwar seiner Aussenseiter-Stellung nicht besonders entgegen kommt, aber er ist sichtlich stolz auf seine Leistung. Seine Zeugnisnote wird durch diesen Einsatz natürlich sofort aufgerundet. Das teile ich der Klasse mit. Morgen ist Notenschluss. So gemein, wenn sie das gewusst hätten, dann hätten sie…

Ich bin ratlos. Wie kann ich meinem blonden Schweizer noch helfen? Es vergeht keine Stunde, in der er nicht beleidigt wird. Schon zweimal in diesem Jahr erlitt seine Brille während der Schulzeit einen Totalschaden. Äusserlich bleibt er cool, aber wer weiss, was diese Plage mit einem Herzen anrichtet?

Der Bosnier tröstet mich: „Erinnern Sie sich, wie wir vor einem halben Jahr mit ihm umgegangen sind? Vor einem Jahr haben wir ihn noch viel schlimmer behandelt und vor zwei Jahren haben wir ihn sogar verprügelt. Seien Sie doch froh, Frau Lehrerin, wir sagen ihm ja schon nicht mehr so oft Fisch.“

Dann mischt sich die Albanerin ein: „Wenn dich der Schweizer in zehn Jahren in den Strassen trifft, wird er nicht mehr so nett zu dir sein wie heute. Er wird dir sagen: Du hast mir in der Schule viel Leid zugefügt, geh mir aus der Sonne, mit dir verliere ich keine Zeit mehr.“

Ja, die Klasse macht Fortschritte im Sozialverhalten, das zwar gerade aus der neuen Beurteilung gestrichen wird. Die Lernenden reflektieren die vergangene Schulzeit, sprechen über die Konsequenzen ihres Verhaltens und nennen sich schon öfter beim Namen.

Heute in der Sonntagspresse gelesen: „[die Asexuellen] .. wollen erreichen, dass die totale Bedürfnislosigkeit als sexuelle Orientierungsform anerkannt wird – neben Hetero-, Homo- und Bisexualität“. Ihr Motto: „Asexualität ist längst nicht mehr nur für Amöben“.

Himmel, die sind ja nicht mehr bei Trost. Ich will also sofort volle Anerkennung für meine spezielle Lebensform der kargen Wohnungseinrichtung. Ich bin amöbel.

Weitere Outings willkommen!

Nein, danke, keinen Weisswein für mich vor dem Mittagessen, in den leeren Magen! Ein gutes neues Jahr darf man sich nur noch heute, am Dreikönigstag, wünschen, meint eine Fachreferentin, die es wissen muss, da sie eine „Von“ ist und den „Gummäng*“ kennt. Das sei bis Ende des Monats möglich, meint M., ohne dass man etwas Ungutes herbei rede oder gar den Anstand (siehe oben*) nicht wahre. He nu. Der Direktor verliest die Liste der Jubilarinnen und Jubilare. Die Frauen erhalten Blumensträusse, die Männer eine Flasche Wein aus der Münsterkellerei. Es wird gewitzelt, dass nur die Verpackung mit der roten Binde von dort … Ich tröste den Kollegen damit, dass er in diese edle Schachtel das nächste Geschenk für seine Freundin verpacken könne. Nun werde ich, zwar „unverlesen“, zum Strauss gerufen. Küsschen vom Direktor, und schon halte ich ein Blumenschiff aus lachsroten Rosen und Lilien, einigen blauen Vogelbeeren und einer Strähne Flachs in den Armen.
Im Bünzlibeizli, dem Bellevue gegenüber äugen heute keine Journalisten zum Eingang des Hotels (um ja keinen Promi zu verpassen). Es ist ruhig und fast rauchfrei. (Ich hätte gerne ein Zigarettli geraucht, aber siehe *)
Bei Salat und Spaghetti mit Pilz sind wir Bücherfrauen uns einig: Es ist nicht sicher, dass ein neuer Direktor die Apéros so gut kann, wie der „alte“, der sich bald verabschieden wird.
Etwas behindert segle ich später mit aufgestelltem Kragen durch die Lauben, immer darauf bedacht, die Lilien zu schützen.
In unserem Ladenzentrum, der Denner-Weinreklame gegenüber, sind die Beizentische voll besetzt. Ich grüsse, wünsche allen ein Gutes Neues und übergebe mein Jubiläumsbukett Frau P. Seitdem sie arbeitslos ist, es sind schon einige Jahre her, ist sie hier Stammgast. Ich weiss, dass sie studiert hat und mehrere Sprachen spricht. Früher haben wir im Bus, wenn wir beide von der Arbeit nach Hause fuhren, über Bücher diskutiert. Frau P. kannte sich sehr gut aus in der tschechischen Literatur.

Die Schweiz trauert. Die Schweiz spendet. Der Webserver der Glückskette ist seit Stunden überlastet. Die Post verdoppelt die Spenden ihrer Mitarbeiter. Deshalb spenden die Kinder nicht in 3rds Sammlung, sondern lieber in die Sammlung von Kindern, deren Eltern bei der Post arbeiten. War nicht einfach zu erklären, dass nicht wichtig ist, wer das Geld schlussendlich der Glückskette überweist. Kinder wollen ganz einfach erfolgreich sein. Auch beim Spenden sammeln. Soll mir niemand erzählen, die Kids seien antriebsschwach.

UPDATE 12:00 (Schweigeminuten, Kirchenglocken): Die schweizerischste Aktion fand ich folgende:

Seit heute ist unserer Bäckerei-Konditorei, Peter Schmid 5443 Niederrohrdorf ein Tsumanibrot erhältlich. Verkaufspreis SFR 5.– der Erlös wird vollumfänglich der Glückskette überwiesen werden.

UPDATE 12:20: 3rd hat sich durchgerungen und seine Sammlung, die er schwersten Herzens mit dem Weihnachts-Zwanziger des Urgrossvaters gestartet hatte, auch einem Kind mit Post-Mutter gegeben.

Es ist ein heller Tag, die Luft ist klirrend kalt und trocken. Meine Ohren unter dem Velohelm fühlen sich akkupunktiert an. Vor mir fährt eine Familie, grosses Kind, Mutter mit Trailer mit kleinem Kind drauf. Ich hole auf, aber überhole nicht. Denn die erinnern mich an etwas und tun mir furchtbar Leid. Eine ganz normale, aschblonde, etwas unpassend angezogene Schweizer Familie mit bunten Velohelmen auf ganz gewöhnlichen Hinterköpfen.

Der kleine Junge auf dem Trailer redet mit der Mutter indem er dem Fahrtwind entgegenschreit, die Mutter antwortet ebenfalls rufend:

Junge: Gäu, mir göö de uf Italie.
Mutter: Jaaaa.
Junge: Aber uf Theiland chöi mer nie meh.
Mutter: Doch, doch, i-n-es paarne Jahr chöi mer de scho wieder.
Junge: Wär het das gmacht?
Mutter: D‘ Natuur. Die het das gmacht.

Schlagartig weiss ich, an wen sie mich erinnern. An die Fotos der vermissten Schweizer in Thailand.

Im LehrerInnenzimmer wurden zum Jahresanfang Hände geschüttelt und Glückwunschsküsschen verteilt. Einer lächelte freundlich ins Leere und hielt sich verloren an seiner Kaffeetasse. Erst als die Schulleiterin das Wort ergriff und Gott dankte, dass mein junger Lehrerkollege die Flutkatastrophe überlebt hat und nach hause gekommen ist, besannen sich alle. Die Schoggigipfeli wurden stehen gelassen. Gestern sei er von Thailand zurück in die Schweiz geflogen. Ja, er sei im Wasser gewesen, als die Welle kam. Dann sei er einfach gerannt, nur gerannt. Nein, erzählen könne er noch nicht. Er müsse noch verdauen.

Jetzt trägt er einen Bart. Nebensache. Er lebt. Ich finde es henne stark, dass er arbeiten kommt.

Heute bringt Albert seine Gedichte mit. Die Blätter liegen in einem trüben Sichtmäppchen. Sie sind vergilbt, fleckig, aber die Zeilen sind regelmässig, die Buchstaben schwungvoll. „Halt meine junge Schrift“, meint der alte Mann.
Vor 70 Jahren hat er alle Gedichte aufgeschrieben, „so zur Sicherheit“. Eigentlich braucht er die Blätter nicht, denn er weiss noch alle auswendig: Claudius, Schiller, Uhland, Lenau. Der Kaffee wird kalt. Albert hat die Augen zugekniffen und rezitiert Strophe für Strophe. Im Ofen knacken die Eibenscheite, meine alten Eltern hören zu, nicken ein bisschen mit den Köpfen: „Ja, ja, früher musste man schon als kleines Kind immer nur wärchen, aber die Gedichte kamen in den Kopf und blieben da. Weiss der Gugger wie.“ Sie gingen auch im Mitlitärdienst nicht verloren, als Albert im Jura des Nachts Wache stand und „am Morgen den Rauhreif aus den Stiefeln schüttelte“.
Aus dem blinden Mäppchen nimmt er einen Brief vom 27. Januar 1939. Seine Mutter schreibt ihm, dass sie zum Geburtstag leider keine Schokolade schicken könne, denn es gäbe im Dorf keine zu kaufen. Auf der hinteren leeren Seite, hat der junge Soldat ein Schmähgedicht auf Hitler und seine Entourage notiert, welches er auf einem holländischen Radiosender gehört hatte.
Dieser brachte auch „Lili Marleen“. Gerne hätte er nach dem Krieg einmal das
„Hotel de la Gare“
aufgesucht. Das hat leider nicht geklappt.
Übrigens: die zahlreichen Medaillen, Pokale, Urkunden, die er sich in all den Jahren an den Schützenfesten landauf landab „herausgeschossen“ hat, sind ihm heute richtig zuwider.
So, jetzt will er sich auf den Heimweg machen. Die Katzen müssen gefüttert werden und ausserdem sollte er noch ein bisschen darüber nachstudieren, welches Gedicht er nächste Woche vortragen könnte.

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