Alles oder nichts


So still wie es im Blogk ist, schreibe ich kurz, was sich gestern morgen, 5:45 Uhr, vor dem Block abgespielt hat. Steht doch tatsächlich ein 14er Bus auf dem Parkplatz. Wegen einer Baustelle in der Nähe musste die Linie umgeleitet werden und der Chauffeur hat die entsprechende Ausfahrt verpasst. Die wenigen Fahrgäste machten ihn auf einen Wendeplatz aufmerksam, welchen er leider auch verpasst hat. So landete der arme Kerl mit seinem riesigen Vehikel in der engsten Sackgasse im ganzen Quartier. Schade, haben alle BewohnerInnen nur geglotzt und keine Fotos geschossen, denn es scheint ein Wunder zu sein, einen Bus vor das Haus zu lenken, wo sich sogar AutofahrerInnen auf eine Millimeter genaue Fahrt verlassen müssen. Wie dem auch sei, die Fahrgäste wurden mit Taxis an ihre Arbeitsplätze geführt und der Chauffeur wartete ungeduldig auf einen Profi-Rückwärtsfahrer, der ihm aus der Falle half. Zum Schrecken des ehemaligen Hauswarts und zur Freude des jetzigen Hauswarts wurden alle Parksteine dafür verschoben, dass der tonnenschwere Bus wieder auf seine Linie kam. Am Dienstag schickt dann die Stadt einen Kran, um die Unordnung wieder aufzuräumen. Köstlich. Und all die Sprüche und Vermutungen, die da ausgetauscht wurden. Ja, das Missgeschick liess einen Moment Leute miteinander reden, die sich sonst nicht viel zu sagen haben.

Ich weiss natürlich, dass Marian recht hat, wenn er schreibt, die Berichterstattung in den Medien reiche nie aus, um sich ein Urteil über ein Urteil zu bilden. Trotzdem hat mich diese Meldung im heutigen Vermischten aufatmen lassen:

St. Gallen: Eine 21-jährige in der Schweiz lebende Türkin hat nach einer Zwangsheirat, die sie nicht akzeptiert hat, Todesdrohungen erhalten. Die St. Galler Behörden nahmen ihren Vater sowie den Ehemann vorübergehend in Untersuchungshaft. Die beiden wurden inzwischen ausgeschafft.

Die Türkin habe vor rund zwei Wochen Strafanzeige wegen Drohung und Nötigung gegen ihre Eltern und ihren Ehemann erstattet, teilte die St. Galler Kantonspolizei mit. Gemäss bisherigen Erkenntnissen sei sie vor rund einem Jahr in der Türkei zwangsverheiratet worden. Nach der Rückkehr in die Schweiz habe ihre Familie von ihr verlangt, alles Nötige für die Einreise ihres Ehemannes zu veranlassen. Anfang April sei der Türke über den Familiennachzug in die Schweiz eingereist. Die zwangsverheiratete Ehefrau habe sich jedoch geweigert, die Ehe mit ihm zu leben. Darauf sei es offenbar zu Todesdrohungen von Seiten des Ehemannes sowie zu Nötigungen durch Familienangehörige gekommen.
Staatsanwaltschaft und Ausländeramt des Kantons St. Gallen hätten diese Drohungen sehr ernst genommen, zumal der Ehemann in seiner Heimat wegen eines gravierenden Gewaltdelikts vorbestraft sei. Nichtgelebte Ehen würden in fundamental-islamischen Kreisen als schwere Verletzung der Familienehre angesehen. Gewisse Kreise sähen im so genannten Ehrenmord die einzige Möglichkeit, die Ehre wieder herzustellen.
Die Staatsanwaltschaft nahm deshalb den Vater der Strafanzeigerin sowie den Ehemann in Untersuchungshaft. Die beiden wurden danach in die Türkei ausgeschafft und mit einem Verbot belegt, die Schweiz in den nächsten Jahren zu betreten. Ziel der Massnahmen sei einerseits die Sicherheit der Strafanzeigerin. Anderseits soll auch klargestellt werden, dass Verletzungen schweizerischer Rechtsnormen nicht tatenlos hingegenommen werden, hiess es.

Vor allem das mit den schweizerischen Rechtsnormen hat mir gefallen, weil mich das Thema Erziehung durch Rechtssprechung durchaus beschäftigt. Ich weiss auch aus Erfahrung, dass sich Urteile herumsprechen und sich ihre Wirksamkeit oder Unwirksamkeit potenziert, was aber kein Gericht dazu verleiten sollte, Urteile hauptsächlich als Exempel zu sprechen.

Das häufigste Beispiel für die Ignoranz des Rechtstaates betrifft wohl schon die Artikel im Zusammenhang mit Familienverhältnissen. Für eine Zwangsehe brauche ich nur vier Stockwerke runter zu gehen. Und wir kennen alle viele Frauen, die nicht einmal wissen, dass ihnen die Hälfte der Pensionskasse des Mannes gehört und die einfach alles unterschreiben. Als meine Schwester gestern eine Albanerin aus der Familie ihres Mannes fragte, wer sie zur Geburt ihres ersten Kindes begleiten würde, meinte diese trocken, ihr Mann würde sie hinfahren, aber ihr vor dem Spital einen Tritt in den Hintern geben und sie den Rest alleine machen lassen.

Endlich aus den engen, inzestuösen Tälern rausgekrochen, erlebt die urbane Schweiz ihre eigene Geschichte noch einmal. Dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Wenn die Braut der (in unserem Falle kosovarischen) Familie genehm ist, wird man verwandt. Wenn sie nicht genehm ist, dann nicht. Also ist die Schwiegermutter meiner Schwester nicht die Schwiegermutter meiner Schwester, der Schwiegervater nicht der Schwiegervater, Schwager und Schwägerin sind nicht Schwager und Schwägerin und deren Kinder Tante könnte meiner Schwester niemals sein. Kein Zivilgesetzbuch der Welt kann etwas daran ändern, das gestehen sie ganz unumwunden.

Diese Unmengen „Ab“-Wörter!
Kein Wunder, will der Hauswart nicht „Abwart“ heissen, wenn ihm dabei
Abfall,
abwerten,
abschiessen,
Abfluss,
abscheulich,
Abwasser,
abartig,
Abort,
abdanken,
abhauen,
Abführmittel,
abstürzen,
abbruchreif und
abgelebt in den Sinn kommen.

Endlich habe ich richtig mit der entlassenen Quartier-Keramikerin reden können. Sie arbeitet ein paar Stunden in der Tagesschule und hat eine Weile bei einem Unternehmen putzen können, das seit letzter Woche leider auch Konkurs ist. Für den mickrigen Rest stempelt sie. Heute schrieb sie eine Bewerbung für eine Stelle als Garderobiere im Stadttheater. Die Erwartungen des RAV-Betreuers sind katastophal daneben, er will die Keramikerin kurz vor der zweiten Star-Operation an einen Bildschirm setzen und telekommunizieren lassen. Bingo.

Wir unterhielten uns also vor dem Block stehend über Sozialschmarotzer und all die Scheininvaliden, die uns zwar nie begegnen aber von denen wir dank Blick wissen, dass es sie gibt (O-Ton heute: „BLICK deckt auf: Das fidele Leben unserer IV-Rentner in Thailand“), da hinkte uns eine einsame Alkoholikerin entgegen. Sie sah furchtbar vernachlässigt aus, ihre Kleidung war rudimentär und schmutzig, ihr offenes Bein schlecht verbunden. Sie winkte unsicher, stellte sich leise vor (Name, Hausnummer, Stockwerk) und sagte scheu: „Ig bruuche es Päckli Teigware…?“

Es war klar, dass ich hier weiterhelfe, die stempelnde Keramikerin hat ja selber nichts, mit dem sie Vorräte für suchtkranke Nachbarn anlegen könnte. Weil ich Zweifel daran hatte, dass sich die Frau noch lange aufrecht halten würde, klingelte ich rasch 3rd und bat ihn, die Teigwaren herunterzubringen. Er ist nicht der Typ, der bei derlei Bitten lange nachfragt, er tanzte zackig mit einem Paket bunter Penne an. Die Frau stahlte, sie wollte unbedingt, dass ich ihr Fränkli annehme – aber ich konnte nicht. So gab sie es 3rd, der sich höflich bedankte. Worauf auch sie sich bei ihm bedankte. Sie drückte das Zellofanpäcklein glücklich an sich, warf uns eine Kusshand zu und schwankte von dannen.

Als der in der 72. Minute eingewechselte Belletti in der 81. Minute 2:1 schoss, begannen die stolzen Italiener Brasilianer mit ihrem Erdbeben, das ich erst gar nicht zuordnen konnte. (Inzwischen ballern alle Fussballfans um den Block.)

Als der aus tiefstem Schlaf aufgetorkelte 3rd mir müde mitteilte, es sei Champions League Final und der Lärm wohl die Barca-Fans, wusste ich, dass wir hier während der Fussballsaison einen Terroranschlag erst viel zu spät als solchen erkennen würden.

Als der Unaufgeklärte aus dem Balkon schrie, er reiche ihm jetzt endgültig, hoffte ich, er möge erhört werden. Johlen ist ok, aber diese Bomberei hasse ich einfach. Schlägereien auch, aber da ist heute keine Gefahr, die paar zerquetschten Arsenal-Fans hier halten sich versteckt bedeckt und weinen still.

Wenn jemand erfährt, dass meine Schwester einen gebürtigen Kosovo-Albaner geheiratet hat, dann ist meistens die erste Frage, wie es denn so gehe mit ihm. Ich nehme das gelassen, es interessiert die Leute halt, wie andere mit Behinderungen leben. Ich sage dann jeweils, es gehe gut und da er Schweizer sei, habe er keinen Ausweis gebraucht und die Heirat wäre rein freiwilliger Natur gewesen.

Wenn meine Schwester und mein Schwager im Schwangerschaftskurs sitzen, ist es für mich nachvollziehbar, wenn sie gefragt werden, ob er Berndeutsch verstehe und welchen kulturellen Hintergrund er habe. Wer weiss, vielleicht hatten die Veranstalterinnen ja auch schon schlechte Erfahrungen und von Dammschnitten überforderte Muslime am Rande der Ehrverletzung.

Wenn sie in der Woche darauf noch einmal das Gleiche gefragt werden, überlege ich allerdings, ob es der Kursleiterin nicht eventuell möglich wäre, sich einen kleinen Notiz zu machen? Und ob ich vielleicht für den nächsten Kurs ein Band besprechen sollte: „Jawohl, er ist im Kosovo geboren. Sein Vater ist Gastarbeiter hier, konnte aber die Familie erst mit Kriegsgrund zu sich holen, deshalb kam er erst später in die Schweiz und spricht mit Akzent. Ja, er versteht immer noch Berndeutsch. Ja, er hat Arbeit. Ja, er kann sich auch vorstellen, eine Tochter zu bekommen. Ja, er besucht diesen Vorbereitungskurs aus Interesse. Ja, er kann lesen und schreiben und sprechen.“

Wenn der Hauswart, der den Job vor meinem Schwager hatte, der Hausverwaltung eine Beschwerde schickt, in der unter anderem steht:

Herr [gemeint ist mein Schwager, Anm. 2nd, female] hat grosse Mühe (wohl durch seinen kulturellen Hintergrund) eine unparteiische und korrekte Verhaltenslinie den Mietern gegenüber zu führen. Dies zeigt sich z.B. bei Fehlverhalten von Mietern. Dies zeigt sich auch in der Waschküche. Die geregelten Waschzeiten werden kaum mehr eingehalten und in den Trockenräumen wir die Wäsche noch nach 3 Stunden nicht abgehängt. Es walten Willkür und Chaos.

dann nehme ich an, der Vorgänger sei eifersüchtig, weil mein Schwager als Hauswart sehr viel sauberer, fleissiger, nüchterner (null Promille) und daher sehr viel beliebter ist.

Wenn an der darauf folgenden Sitzung meines Schwagers bei der Hausverwaltung die Sachbearbeiterin meldet, sie hätte auch schon viele Klagen gehabt, weil mein Schwager „immer mit den Jugos schwatze, aber für die Schweizer kaum ein Wort übrig habe“ und wenn sie sich nicht scheut, die Bezeichnung im weiteren Gesprächsverlauf zu brauchen, dann ziehen sich meine Eingeweide doch langsam zusammen.

Mein Schwager wurde seit seiner Kindheit öfter als „Jugo“ beschimpft als er zählen kann. Wie viele Kosovo-Albaner hatte auch er sich eine zweite, italienische Identität zugelegt. Und er verlor nie die Contenance, auch hier nicht.

Doch eine Sitzung mit dem Arbeitgeber ist nicht privat sondern gilt als öffentlich, Antirassismusgesetz wie Gerichtspraxis sehen das so. Und „Jugo“ ist ein Schimpfwort. Die Frau hat es wohlweislich nicht gebraucht, um meinen Schwager direkt zu bezeichnen.

Wie die meisten Rassisten hat sie gerochen, dass sie damit ins Messer gelaufen wäre. Und zwar nicht in das, das die „Jugos“ sowieso immer mit sich tragen, sondern in meines. Ich bin nämlich sofort bereit, sowohl die Gewerkschaft wie Justita mit dem Fall zu beschäftigen. Und ich kann sehr mühsam sein.

Die Bernerrote
Bild:g26.ch

In den vergangenen 400 Jahren hat sie sich beispielhaft integriert, ist eine von uns geworden, eine Einheimische. Man sieht ihr die wilde Südafrikanerin nicht mehr an. Ihr Duft, sie liebt besonders die Fensterbänke, löst feindselige Spannungen. Ihre Anwesenheit wirkt antidepressiv und günstig auf die Finanzen. Natürlich ist sie elegant, klassisch ohne Kinkerlitzchen, ja, ein bisschen melancholisch. Meistens zeigt sie sich in Rot, Feuerrot oder Bernerrot, denn Bundesbern hält viel von Tradition, und als Eingewanderte hat sie sich dieser verpflichtet. Ihre Stärke ist ihre Anspruchslosigkeit. Ausser Wasser und am Anfang der Saison einen Hauert-Kegel braucht sie nichts, nicht einmal besonders viel Liebe.
Sie passt überall hin: ins Landschloss, in den Stadtsitz, auf den Brunnentrog, in den Kreisel, auf den Bahnhofplatz und den Block-Balkon.
Eigentlich ist sie die ideale Integrierte:
die Geranie.
Heute ist Graniummärit!

Was sind „Paninis“?

Materie: Abziehbild.
Motiv: Fussballer, Stadien, Wappen
Erscheinungsweise: Zur Fussball-EM, zur Fussball-WM
Herstellung: Panini
Zweck: Sticker-Kollektion nach Nationalmannschaften, einzukleben in das WM-2006-Stickeralbum
Preis: 0.90 CHF pro 5 Bildchen, bei Denner nur 0.70 CHF (immer ausverkauft)
History: Begonnen hat die Erfolgsgeschichte 1964 mit einem Sammelalbum der italienischen Mannschaft.

Weitere sprachliche Besonderheiten: Im Block heisst es nicht „ich habe nun alle Bilder von Togo“, sondern „ich bin Togo voll.“ Es ist also gut möglich, dass einer klingelt und fragt: „bist du Holland voll?“ 2nd, males Antwort wäre dann: „Ja, ausser Goalie,“ was bedeuten würde, dass ihm noch der Torhüter Van der Sar fehlt. Man lässt im hiesigen Slang nämlich auch Artikel weg.

Die Schweizer sind ein Volk von Tauschern und Sammlern. Deshalb wird nicht nur offline, sondern auch online getauscht, wobei die Bildchen schon noch per Post verschickt werden müssen. Generationenübergreifend. Sportliche Opas tauschen mit starverrückten Mädels, Bänker von der Zürcher Bahnhofstrasse tauschen mit den Joëls aus dem Emmental. 3rd, male hat sogar schon mal mit einem Tamilenjungen aus Koblenz getauscht. Dass Deutschland erst so spät Panini-Zugang bekommen hat, bleibt unverständlich und generiert hierzulande Schlagzeilen.

(Weiters ethnologisches Detail: Weil hier sehr klare Vorstellungen von Qualität und Moral im Secondhand- und Tauschgeschäft herrschen, hat auch E-Bay keine Chance gegen ricardo. Denn nur ricardo hat der Eidgenossen Vertrauen.)

Wenn man im Block aufgewachsen ist, dann weiss man auf die Hundertstelsekunde, wie wer klingelt. Klingeln muss man unten, um überhaupt ins Treppenhaus zu gelangen.

Menschen mit gewöhnlichen Ansprüchen wie „bitte Türsummer betätigen“ „bitte an die Gegensprechanlage kommen“ klingeln 1-1.5 Sekunden. Kinder, die Klingelzug machen, klingeln ganz unregelmässig, weil sie mit ihren kleinen Händen möglichst viele Knöpfe erwischen wollen. Der Pöstler klingelt bei uns nicht twice, sondern lang gezogen. Bei Notfall ist mehrmals lang gezogen angesagt.

Nun klingelte es also mitten in der Nacht. Sehr gesittet, 1.5 Sekunden. Wir standen auf, nicht so schnell, da es nicht nach Notfall klang, aber doch so, als würde jemand wollen, dass wir unten öffnen. Aber um diese Zeit betätigt kein vernünftiger Block-Mensch seinen Summer ohne an der Gegensprechanlage nachzufragen, wer da sei.

Ein sonorer, nachhaltiger Rülpser.

Welch überzeugende Begleitung in süsse Träume.

Zum ersten Mal seit dem letzten Weltkrieg ist ein Artikel in dieser Stadt total ausverkauft – mehr als zwei Wochen nicht im Handel.
Das tut weh!
Wir sind es nicht gewohnt, mit unserem Geld etwas nicht kaufen zu können. Verzweifelt irren wir von der oberen in die untere Stadt, durch die Aussenquartiere, in die Region, ja, sogar in andere Landesteile, vom Kiosk zur Tankstelle, vom Postschalter zum Orangen Riesen, von der Bäckerei zur Papeterie, der Buchhandlung zur Zeitungsredaktion, zu Fuss, mit dem Töff, im Auto, mit dem Trotinett oder per Velo, in Gruppen oder allein. Unterwegs begegnen wir anderen Irren, hören auf die wildesten Gerüchte, nur um an Ort und Stelle zum x-ten Mal zu hören, dass es sie nicht gibt, man wohl bestellt habe, aber nicht erhalten, leider.
Es gebe Lieferschwierigkeiten, seitdem auch in Deutschland der Verkauf angelaufen sei. In Italien komme man mit der Produktion nicht mehr nach.
Am Ball bleiben ist alles! Sich nicht aufregen, wenn die Verkäuferinnen, tritt man in ihr Gesichtsfeld, die Arme hochreissen und einem von Weitem ein entnervtes „Nein“ entgegen schreien. Trotzdem jeden Tag auch im kleinsten Kiöskchen nachfragen und vielleicht die fünf letzten Paninis einem anderen Wahnsinnigen vor der Nase wegschnappen.
Eine neue Sucht grassiert, beengt den Horizont. (Über die Auswirkungen auf nicht süchtige Angehörige, z.B. Mütter, werden in diesem Jahr einige Dissertationen und Lizentiatsarbeiten abgeben.)
Bei Schweiz und Ghana „bin ich voll“. Aber sonst klaffen noch Lücken. Die grössten bei Tunesien.
Dass es in unserer Stadt bis vorgestern noch ca. zwei Ahnungslose gab, die von der Panini-Welle nicht berührt wurden, darüber erzählte mir meine Freundin Marwa:

Ein Musiker, ein Philosoph und ein Bibliotheksleiter treffen sich in der Kaffeepause. Der Musiker erzählt von seinen Töchtern im Panini-Fieber, und wie er als Vater beim Sammeln und Tauschen so richtig mitgerissen wird.
Nun versteht der Bibliotheksleiter endlich, was Paninis sind. Hatte er seiner Tochter, als sie ihn neulich danach fragte, doch geantwortet, das seien Sandwiches.
Der Philosoph zum Musiker: „Was, deine Töchter sammeln auch? Ich meinte, das sei nur etwas für Buben.“
Der Musiker: „Nein, nein, auch Mädchen sammeln, nicht nur Buben.“
Der Philosoph: „Für welches Land sammeln sie denn?“
Der Musiker kopfschüttelnd: „Man merkt, ihr seid nicht auf dem Laufenden.“

Jupi! Die Frau des Buchbinders in meiner Bibliothek hat ein Fussballbrot gekauft und als Beilage ein Briefchen Bildchen erhalten. Der Buchbinder hat sie mir geschenkt. Danke 1000!

In unserem Land ist wirklich nichts los! Trotzdem gelang es dem Schweizer Fernsehen letzte Nacht im Zyschtigsclub ein brennendes Thema, mit kompetenten Gästen, zu diskutieren:

Plumpe Boulvardisierung
Bundespräsident
Büstenhalter
Nackter Oberkörper
Vernebelung
Badehose
Demokratiepolitische Fragestellung
Linke Medienkritiker
Blick-Journalismus
Rohrkrepierer
Stilfrage
Amtsperson
Badehose
Respekt
Schaden für die Schweiz
Seriosität
Verantwortung
Auflageproblem
Personalisierung
Badehose
Pressefreiheit
Beschwerde
Privatsphäre
Peoplejournalismus
Ferienfotos
Selbsinszenierung
Badehose

Bericht aus dem heutigen Bund zum 1. Mai, Kundgebung mit dem Bundespräsidenten in Zürich:

Nicht bis zum Ende seiner Rede kam Bundespräsident Moritz Leuenberger, der am Abend an einem Fest der SP in der Nähe des Helvetiaplatzes auftrat. Leuenberger hatte seine Rede kaum angefangen, als knapp huntert vermummte Aktivisten des revolutionären Aufbaus ins Festgelände auf der Bäckeranlage eindrangen, Knallparaden warfen und versuchten, das Rednerpodium zu stürmen. Auf Anraten der Polizei brach der Bundespräsident seine Rede ab und zog sich ins nahe Quartierzentrum zurück.

Nun, dass ein Bundespräsident am eigenen Leib erfahren hat, dass Quartierzentren rentieren auch wenn sie nicht rentieren, ist schön. Dass die Autonomen mit ihrem Auftritt den Rechtsradikalen vom letzten Rütli die Händchen reichen, ist weniger schön.

Und wenn Stadtrat Hess abgewiesene Asylbewerber mit Ameisen vergleicht, die unter seinem Bett eine «Getränkeflasche mit süssem Inhalt» gefunden haben… das Weitere mag ich gar nicht schreiben, so verdammt unerbaulich und „gschämig“ ist das alles für unsere tolle Demokratie, in der jeder Arsch zu Wort aber oft (gezielt) nicht über das Stammtischniveau hinaus kommt.

Auch dass die Schweiz in Sachen Familiendramen Weltspitze werden will, ehe sie den privaten Zugang zu Pistolen und Gewehren strenger handhabt, scheint ausgemacht. Die USA jedenfalls hätten wir schon überholt, vermeldet das Radio.

Gar nichts zu lächeln heute.

Besuch auf dem Friedhof.
Am Grab einer Nachbarin.
1978 – 2005.
Herzversagen nach einem
steinigen Leben.

In meiner frühsten Zahnarzterinnerung war ich ungefähr fünf Jahre alt. Mein Vater, er lebe in Frieden, aber bitte nicht in meiner Nähe, wies den Zahnarzt an, mir die Nase zuzuhalten, damit ich den Mund öffnen würde. Er selbst trug mich seitlich auf den Hüften und blockierte meine Arme.

Später wurde ich in der Schulzahnklinik behandelt, wo mir Frau Dr. Zahner (so hiess sie wirklich), meinen letzten Milchzahn ohne Vorwarnung aus meinem Mund riss.

Endlich erwachsen, besuchte ich die Praxis von Frau Dr. St. wie alle meine Familienmitglieder. Leider übergab die Ärztin ihre Praxis von heute auf morgen. Der Nachfolger überzeugte niemanden in meiner Familie. Dieser hatte es nicht geschafft, mir mein schwangerschaftliches Zahnfleischbluten zu erklären oder mir Tipps gegen den riesigen Blutverlust beim Zähneputzen zu geben. Stattdessen verkaufte er mir x Produkte, deren Anwendung er mir nicht genau erklären konnte und liess mich immer und immer wieder anreisen. Ich bezahlte Hunderte von Franken. In meinem Mund bildeten sich irgendwelche Pusteln, die er nicht zu benennen wusste und die mich bei der Zahnpflege unheimlich behinderten. Zum Glück ermöglichte uns die Mutter von 2nd, male, Patientinnen von einer eigentlich schon voll ausgebuchten Frauenpraxis zu werden. Anders als bei meinem vorherigen Halsabschneider-Zahnarzt, wurde ich dort kompetent beraten. Die Pustel heisst Epulis. Die Zahnärztin schnitt sie mir schmerzfrei raus. Eine Stunde Behandlung reichte, ich gehöre wieder zu den glücklichsten Menschen mit den schönsten Zähnen und freue mich auf die nächste Behandlung! Ich wünsche allen solche positiven Zahnarzterlebnisse, den PatientInnen und den ZahnärztInnen, von denen sich anscheinend mehr umbringen, als in allen anderen Berufsgruppen.

„Für sie wurde niemals eine Ausnahme gemacht,“ darf man gern auf meinen Grabstein schreiben.

Gerechtigkeit ist etwas Schönes. Man attestierte mir den Sinn dafür ihn zahlreichen Schulzeugnissen, ich bin die Letzte, die daran zweifelt.

Ich glaube kaum, dass einer alle Finger braucht um die aufzuzählen, die im Block mehr Gemeinwohl betrieben haben als ich. Die Arbeitskraft, Toleranz , Geduld, zwei Dutzend Fussbälle, Kleider, Schuhe, unendliche Laufmeter Bücher und mindestens zwei Tonnen Esswaren in den Rachen des Quartiers geworfen haben, nur damit meine Kindeskinder eine Verbesserung bemerken – vielleicht. Dank erwarte ich nicht, aber etwas Gnade wäre ganz nett.

Doch nein! Wenn es bei uns hereinregnet, wird zuerst der Schaden von denen behoben, die lauter kläffen. Wenn ich einmal bei schönem Wetter hundert saubere Wassertröpfchen über den Balkon ablaufen lasse, klingelt es sofort Sturm: „Putzen Sie? Lesen Sie die Hausordnung!“ (Reinigung des Balkons mit Wasser nur bei Regenwetter gestattet).

Wenn ich nach zwanzig Jahren Erwachsenenleben hier zum ersten Mal den Papierabfuhr-Termin verwechsle und meinen Papierbund zu früh rausstelle, würde da ein Hauswart so nett sein und ihn rasch in seinen Container werfen?

Niemals! Wenn da jeder käme! Er knallt ihn mir vor die Tür und staucht mich zusammen. Und wenn der Termin ist, wartet er vergnügt darauf, dass ich ihn verpasse. Und wenn ich dann doch noch drauf komme, lässt er ein listiges „dies‘ Mal stimmt’s!“ fallen.

Das finde ich dann gemein. Allein der Gedanke an die Gerechtigkeit versöhnet mich.

Dichtgedrängt sitzen die jungen Leute auf den Stufen vor den Lauben, geniessen die Sonne und essen ihre Brote. Zwei Strassenwischer fegen die weggeworfenen Servietten, Kartons, Büchsen und Flaschen weg.
Einige Leute im Bus regen sich schrecklich darüber auf, „ratiburgern“, was gegen eine solche Plage unternommen werden sollte.
Die Frau neben mir lacht. Sie besitzt einen Kellerladen am besten Platz.
Kurz vor 12 Uhr nimmt sie den Wasserschlauch und spritzt ihr Terrain tüchtig ab. Kleine Pfützen sammeln sich zwischen den Steinen und sind erst ausgetrocknet, wenn die frechen schnabulierenden „Vögel“ sich wieder in ihre Schulkäfige zurückgezogen haben.
Ha, bei ihr haben sie sich noch nie niedergelassen.

Woran erkenne ich u.a., dass ich alt werde?
Ich erhalte beim Tauschen einige Fussball-Bildchen gratis.
Im Dorfladen verlangen die Jünglinge für Zidane vier Päckchen, weil sie denken, ich könne mir einen solchen Handel leisten.
Wenn ich Ansichtskarten aus fremden Städten erhalte, freue ich mich sehr an engen Gassen, maurischen Kacheln, Bildern vom Brot backen in der Sahara – möchte aber nicht hin.
Ich sage kaum mehr “cool”.

Gute Nacht!

Im Westen ein Hauch von Süden

Hoch oben auf dem Dach zu wohnen, ist meistens ein Vorteil. Gibt es doch kaum einen besseren und Platz, aufziehende Gewitter über dem Jura zu beobachten, einen Regenbogen, der sich im Osten über die Stadt wölbt, ein Rudel Heissluftballone, welches vom Wind über den Block dem Emmental zu geschoben wird oder die Schneeberge, beschienen von der aufgehenden Sonne. Nicht zu vergessen der riesige libeskindsche Bauplatz Bern-West.
Ein solcher Hochsitz braucht Pflege, besonders nach einem langen und strengen Winter. Die Mauern erhalten eine neue Farbe, der Boden muss von Moos und Unkraut gesäubert werden, damit das Wasser richtig abfliessen kann und nicht in die darunter liegenden Wohnungen eindringt. Alle Pflanzen werden umgetopft und vorsichtig gegossen.
Sonnenblumen-, Glockenreben- und Kürbiskerne (für Vaters Hochbeet) werden in Aussaattöpfen angezogen. Erst nach „den Eisheiligen“ bekommen die Pflanzen und somit auch die Menschen ihren Sommerplatz auf dem Balkon.
Kein Wunder, dass zum Bloggen nur wenig Zeit bleibt..
Heute doch noch ein Buch gelesen, empfohlen von meinem Enkel.

Alles muss raus

Die Unterschriften sind nun also deponiert, das Referendum ist zu Stande gekommen. Unser Stadtteil hat sage und schreibe 125 Unterschriften gegen die Revision des Asylgesetzes und 179 gegen die des Ausländergesetztes beigetragen.

Während man im Breitsch gemäss Aussagen eines gestandenen Sammlers den Leuten bloss vor der Migros den Bogen unter die Nase zu halten brauchte, hatte unsere Migrations-Gruppe hier wesentlich mehr Aufwand. Wie immer gab es viele, die lieber für das Gegenteil unterschrieben hätten und nach Asylbewerber-Stopp verlangten. Aber Heim und Garten von Referendumsfreundinnen und –freunden wurden bis jetzt von Aggression verschont. (Beim Kampf um die erleichterte Einbürgerung hatten manche weniger Glück.) Allerdings ist diese Abstimmung ja erst im September, und man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.

Auch wenn ich nicht an den Abstimmungserfolg glaube, bin ich zufrieden, dass wir den Nothilfestopp verhindert haben. Und wenn ich lese, dass sich sogar Markus Rauh mitwehren will, dann ist das mehr Einsatz, als ich zu hoffen gewagt hätte.

Weniger glücklich bin ich über die Presse, die (partiell aber regelmässig) kommentiert, die Referendumsgruppen, bestehend aus Linken, Menschenrechtsorganisationen und Kirchen, hätten ja nur die „humanitäre Tradition“ als Argument und kaum sachpolitische Gemeinsamkeiten.

Als ob die humanitäre Tradition, mit der dieses Land leider auch schon gebrochen hat, nicht Grund genug wäre.

Seit Mutters Tod schlägt Vaters Herz noch langsamer als vorher. Seine Beine sind schwer von Wasser und essen mag er nur wenig. Er nimmt zwar seine Medikamente, trinkt auch den Petersilientee, aber eigentlich hilft alles nichts. Nachts plagt ihn die Vorstellung, das Grab seiner Frau sei voller Wasser gewesen und man habe den Sarg darin versenkt. Sie sei auch noch „ertrunken“. Ganz deutlich habe er ein Plantschen gehört. Der Boden zwischen Kirche und Kloster sei sehr lehmig, so dass das Wasser nicht abfliessen könne.
Es hilft nichts, wenn ich darauf hinweise, dass vor kurzem diese lehmhaltige Erde mit Geröll durchmischt wurde. Er meint nur, dass Fachleute auch nicht alles richtig machten und schaut mich verzweifelt an.
Ich nehme meine Kamera und mache mich zusammen mit meiner Tochter auf zum Friedhof. Es regnet in Strömen. Neben dem Grab meiner Mutter ist bereits ein neues ausgehoben. Ich schiebe ein Brett weg, rolle die Abdeckung etwas ein und starre in die Grube. Diese ist zwar feucht, aber keine Spur von Grundwasser ist zu sehen.
Wir legen das Herz aus weissen Rosen vor das Holzkreuz und machen einige Fotos für Vater, der mit seinen geschwollenen Füssen den Weg hierhin nicht schafft.
Zu Hause berichten wir über den Augenschein vor Ort und sind nicht sicher, ob der alte Mann nun beruhigt ist. Wir nehmen an, dass das Plantschen aus seiner Kindheit stammt, als sein Vater, sein Onkel und seine kleine Schwester starben und er als Neunjähriger plötzlich verantwortlich war für einen grossen Hof und eine Familie.
Stangenbohnen, seine absoluten Favoriten im Gemüsehimmel, will er keine mehr pflanzen, aber ich soll ihm 2 Päckli Buschbohnen der Marke „Dasy“ besorgen.

Zu Hause im Block angekommen, ist meine Waschmaschiene defekt und ich muss 20 Liter Seifenwasser abschöpfen.
Draussen regnet es heftig auf das frisch geputzte Küchenfenster.

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