2022


Genügend Gründe hätte er, einmal nicht mehr zu erscheinen. Wir wären dann ohne blaue Bänder, süsse Düfte und natürlich auch ohne träumende Veilchen. Als Kind war der Frühling meine liebste Jahreszeit. Wir wohnten damals an einer Sonnseite über dem Gürbetal. Entlang des Schulwegs wuchsen Kirsch- und Apfelbäume, eine Hecke, durch welche ein kleiner Bach ins Tal plätscherte, trennte die Felder. Büschel leuchtender Dotter- und Schlüsselblumen wuchsen an seinem Rand. Ich glaube, meine Lehrerin Rosa Kestenholz war auch eine Frühlingsnärrin, denn die Lieder und Gedichte aus ihrem Unterricht sind bis heute in mein Gedächtnis eingenäht:

alle Vögel, alle / die Finken schlagen / plötzlich entronnen in aller Pracht /
von Mittag weht es lau / auf zum frohen Springen / Reis' ist Goldes wert /
Knospen schwellen / treiben wir den Winter aus / den alten, kalten
Krächzer / Brummbär, Ächzer / holder, holder Frühling / die Flur verjüngt /
sanfter, süsser Hauch / nun will der Lenz uns grüssen / aus allen Ecken spriesset /
Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte /
Loub am Boum u Schnee im Haag /
Singt's uf em Schleedornhag /
ds Härz, das isch gäng parat /
L' in­ver­no è pas­sa­to!
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Die Fremde ist ein kaltes Kleid
Mit einem engen Kragen
Ich hab´s mit meinem Koffer oft
Im Leben schon getragen
Als Einzelgänger von Natur
Wohn ich nicht gern zu Gaste
Ich hause lieber unterm Dach
Als fremd im Prunkpalaste
Ich reise ohne Stock und Hut
Und tanze aus dem Reigen
Wenn einer eine Reise tut
Dann kann er viel verschweigen

Mascha Kaléko 1907-1975: Chanson von der Fremde 
Bild: Padmacandra Meek : The Immigrants

So wie einige andere Beiträge, blieb auch dieser zum 8. März bis heute in „Entwürfe“ hängen.

Worte sind schwer zu finden. „Mein Motto war es, vorwärts zu schauen und alles hinter mir zu lassen, schnell neu anzufangen. Aber nun ist sie aufgesprungen, meine sicher verschlossene Erinnerungsschublade, und ich bin wieder eine Frau auf der Flucht, als ob es gestern gewesen wäre.“ Meine Freundin weint über sich und das Leid, welches in diesem Moment anderen Frauen widerfährt. Über vierzig Jahre sind es her, seit es sie mit Mann und drei Kindern nach einem Militärputsch in die Schweiz verschlagen hat, im Handgepäck hauptsächlich Windeln und Babynahrung.

Täglich werden neue Erinnerungsschubladen vollgestopft und der Inhalt der alten quillt heraus – schmerzlich, bitter.

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… gewöhnlich.

„Immer, wenn Sie kommen, regnet es“, begrüsst mich Rosalina. Tatsächlich wollten heute schwere Tropfen fallen, wenn Ylenia – oder schon Zeynep? – sie nur lassen würde. Falls ich das möchte, könnten wir die Masken beim Haareschneiden anbehalten.

Nein, umgottswille, gar nicht, hatte ich doch seit vielen Monaten zum ersten Mal wieder Lippenstift benutzt. Die Coiffeurin wäscht, schneidet und föhnt mir die Haare ohne jede Behinderung durch Gummibänder um die Ohren. Dann bringt sie mir einen Espresso – wunderbar – in einem Porzellanbecher, das Wasser in einem Glas und ein Stück Mandelschoggi auf einem kleinen Tablett. Haben Papierbecher- und Wegwerftellerzeit endlich doch ein Ende? Der Sturm wird immer heftiger. Draussen binde ich die Kapuze fest. Die Frisur ist dahin.

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Kleines Gespenst trippelt mit einem Beil im Kopf am Kaminfeuer vorbei. Statt durch Mark und Bein zu erschrecken, lachen Schlossherrin und Schlossherr herzlich über den süssen Gespensternachwuchs. Kein noch so entsetzlicher Spuk gelingt der Kleinen. Schweren Herzens schicken die von der Herumspukerei müden Eltern ihr Kind zum unheimlichsten Gespenst von Schottland in die Lehre.

„Wer bist du?“, fragte das unheimlichste Gespenst von ganz Schottland.
“Ich bin ein junges Gespenst!“ sagte das junge Gespenst, „und möchte zu dir in die Lehre kommen,
weil du das unheimlichste Gespenst von ganz Schottland bist.“
„Ach so“, sagte das Gespenst von Whislefield. „Du hast mich ganz schön erschreckt.“
„Darf ich also zu dir in die Lehre kommen?“
„Meinetwegen. Morgen Nacht kannst du anfangen.“

Aus: In einem Schloss in Schottland lebte einmal ein junges Gespenst. Franz Hohler / Ill.: Werner Maurer. Verlag Sauerländer, 1979, ISBN 978-3-7941-1976-9

Als junge Frau hatte meine Mutter kaum Gelegenheit, kochen zu lernen. Sie wurde „auf dem Feld“ gebraucht. Die Küche blieb ihr zeitlebens ein Muss, und es bestand nie Gefahr, dass sie dieses Terrain nur für sich beanspruchte. Als wir in die Bamershalten umgezogen waren, fing meine Mutter an, selber Brot zu backen. In der finsteren Küche versperrte ein riesiger, mit Metallplatten verkleideter Steinbackofen den Platz. Ausserhalb des Backtages diente er als „Kühlschrank“. Das Einheizen mit Reisigwellen war eine Wissenschaft, die sich meine Mutter schnell aneignete. In meiner Erinnerung kommen keine misslungenen Brote oder Kuchen (Wähen) vor. Wenn wieder sechs bis sieben riesige Laibe auf dem Brett, mit vier Drähten an der Kellerdecke aufgehängt, auskühlten, hätten wir Kinder ihnen am liebsten die goldbrauenen Kröpfe abgerissen und sie ausgehöhlt. Kaum war der duftende Nachschub aus dem Ofen, samt einigen mit süssem Eierguss bedeckten Früchtekuchen, fanden, wie mir schien, besonders viele Leute den Weg zu unserem abgelegenen Haus auf dem „überzügigen“ Hügelrücken. Da niemand hungrig und durstig von dannen geschickt wurde, sei’s der Dorfelektriker, der Briefträger, die Schulbuben mit der Brattig (Kalender), der „Reisend“ (Vertreter) mit den Oswald-Suppen, der „Reisend“ mit den Just-Bürsten, der „Reisend“ mit den eingebrannten, abgekürzten Bibelsprüchen auf Holztäfelchen Dennoch aufblicken, Ich hebe meine Augen auf, der „Reisend“ mit den Kälberstricken und dem Melkfett, Verwandte aus der Stadt mit ihren Gästen, wurde das Hängebrett schnell leer. Der Kauf von Hefe konnte zum Problem werden, weil die 50 Rappen dafür fehlten. In einer solch verzweifelten Situation fand Mutter einmal auf der Strasse ein Fünfzigrappenstück – wieder Brot für alle und noch heute eine frohe Familiengeschichte.

Meine Mutter am Holzherd in der Bamershalten, anfangs der 1960er-Jahre.
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Kleinesmädchen schenkt mir ein Traubenzuckerbonbon. „Oh, danke!“ sage ich und schiebe mir die rosa Tablette in den Mund. Blitzschnell sollte mich nun ein Energieschub treffen und aus meiner schon länger andauernden Antriebslosigkeit heraus katapultieren. Aber nein, ausser einem süssrauhen Gefühl auf der Zugen geschieht nichts. Wahrscheinlich müsste ich das ganze Geschenktäfeli-Glas aus der Apotheke schlucken. Immerhin schmeckt das Wort Trauben-Zucker fein, obwohl dieser – von wegen Trauben – aus Kartoffeln und Mais gewonnen wird.

76 Sturmgewehre und 22 Pistolen sind der Armee im vergangenen Jahr abhanden gekommen. Die Waffenverluste hätten gegenüber dem Vorjahr zwar zugenommen, lägen aber im Bereich der üblichen Schwankungen. Die Ursachen für die Zunahme sieht der Armeesprecher in der gestiegenen Mobilität. Das Militär muss sich in einer ganz anderen Welt bewegen, als das gewöhnliche Volk, welches nun schon zwei Jahre unter mangelnder Mobilität leidet. Inzwischen sind 15 der vermissten Schusswaffen wieder aufgetaucht. Davon wurden 3 Pistolen und 5 Sturmgewehre von Müttern, Freundinnen und Ehefrauen aus der militärischen Schmutzwäsche geschält.

Ich mache einen Gang durch den Garten, wische dürre Blätter zusammen und schiebe sie von den Schneeglöckchen. Es ist kalt und kein Zaungesprächswetter. Nur Margrit aus dem Tscharni spaziert vorbei und teilt mir mit, dass die Bauarbeiten, laut Bruno, im Schwimmbad planmässig verlaufen und wir auf die Neueröffnung im Mai zählen können. „Inshallah“, murmle ich über den spriessenden Frühlingsboten.

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Elf Jahre sind es her, seit mein Quartier sich vom 14er-Bus verabschiedet hat, um das Tram zu begrüssen. Unsägliches Gedränge über fünfzehn Haltestellen zwischen Hauptbahnhof und der Endstation fand somit ein Ende.

Allerdings verschwanden damit auch die Bus-Geschichten, die mir stets Sprungfeder in den neuen Tag und den Feierabend gewesen waren. Einige davon habe ich hier in blogk aufgeschrieben, wie z.B. diese:

Maskiert, mit Abstand und beschlagenen Brillengläsern sitze ich heute im gut besetzten Tram. Zehn Haltestellen lang höre ich kein Wort. Endlich, Richtung Hirschengraben, vom Sitz hinter mir die Mutter zu ihrem erwachsenen Sohn:

„Du muesch d’Orangsche de o ässe, nid nume aluege – u d’Bire o, u d’Banane o.“

Was für eine Geschichte! Zum Desser gibt es abends bei mir am Familientisch Fruchtsalat mit Orangsche, Banane, Öpfel – u o Bire.

Oben brennnt das gelbe Mutterauge.
Überall liegt Nacht wie blaues Tuch.
Fraglos ist, dass ich jetzt Atem sauge.
Ich bin nur ein kleines Bilderbuch.

Häuser fangen Träume bunter Schläfer
Wie in Netzen in den Fenstern auf.
Autos kriechen wie Marienkäfer
Leuchtende Strassen hinauf.

Alfred Lichtenstein in "Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst - Gedichte aus fünf Jahrhunderten ...", Goya, 2021, ISBN 978-3-8337-3135-8
Foto: Die Jungkrähen auf dem Nachhauseweg durchs Quartier, 19. November 2021

… het ds Müüsli gseit, wos ids Meer bislet het.

Nachdem ich Ende Februar 2020 ein ÖV-Jahresabo für Fr. 600.- gekauft und es dann „wegen der Situation“ nur für 2 Kurzstreckenfahrten à Fr. 2.- benutzt hatte, entschloss ich mich, 2021 eine App für elektronische Einzeltickets einzurichten. Fairtiq hat für mich Buch geführt:

Du hast dieses Jahr 40 Fahrten gemacht und 153,28 km zurückgelegt. Im Vergleich zum Auto hast du dabei 24,39 kg CO2 eingespart. Ein Baum würde 1 Jahr und 1 Monat brauchen, um diese Menge an CO2 zu absorbieren!

Mit meiner eingesparten Menge Kohlendioxid könnten Mann und Frau 4’975,6 Geburtstagsballons füllen – sagen die Fachspinnen im Netz.

Endlich bin ich durch mit den gestapelten Tageszeitungen. Eben kam der 13. Dezember 2021 in die Altpapiersammlung. Über Ereignisse zu lesen, deren Ausgang schon bekannt sind, stresst viel weniger als umgekehrt.

Silvester- und Neujahrstag möchte ich am liebsten verschlafen. Nichts ist mir feiertagsmässig mehr zuwider, als die Jahresenden mit Hütchen und Clownnasen aus Tischbomben, ohrenbetäubendem Geballere, qualmendem Feuerwerk, unterlegt mit katholischem und protestantischem Glockengeläute.

Kleines Mädchen hat mein Hütchen übernommen.
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